Der Minne-Diskurs (Reinhart Fuchs)
Dieser Artikel behandelt den Minne-Diskurs zwischen Reinhart und der Wölfin Hersant, wobei die Repräsentation von Sexualität und deren Polarität zwischen 'höfischem'/'sittlichem' und 'niederem'/'animalischem' Begehren im Vordergrund steht. Dieses Spannungsverhältnis bietet die Grundlage für die im Reinhart Fuchs dargestellte Satire der höfischen Minne des Hochmittelalters als Teil einer christlichen, feudalen Gesellschaftsordnung.
Sozio-kulturelle Kontextualisierung der "Minne"
Dem zentralen Begriff der Minne kommt im Mittelhochdeutschen eine ganze Bandbreite von Bedeutungen zu. Das Wort "Minne" fand in Verben, in Adjektiven und etlichen substantivischen Komposita seine Anwendung. So konnte man "minnen", konnte "minne-lich" oder gar ein "minne-diep" sein. "Minne" kann die unterschiedlichsten Alternativen einer generellen "Liebe" sein. Das Bedeutungsspektrum reicht von Beschreibungen über Liebes-Werben bis hin zum eigentlichen Liebes-Akt mit allerlei handfesten sexuellen Handlungen. Dieses überaus pluralistische Bedeutungsspektrum hat zur Folge, dass diese Wortfamilie in den unterschiedlichsten Kontexten des alltäglichen Lebens angewandt wurde. Die höfische Minne ist als ritterlich-adelige Liebeslyrik Ausdruck eines nicht sexuell konnotierten Wohlwollens eines (ritterlichen) Minnesängers gegenüber einer höfischen, hochgestellten Frau. Der Minnesang, zu dem die 'Hohe Minne' gehört, kommt ursprünglich aus Frankreich, entstand ab Mitte des 12. Jahrhunderts und wurde Teil einer europaweiten Hofkultur.
Weiter gab es aber auch Kontexte, in denen der Werbende explizit um eine Belohnung in Form von sexuellen Handlungen bemüht war.
(Trotz ausschweifender Verehrung der Dame beklagen die Texte der öffentlichen Vortragskunst in typisierten Mustern ohne subjektiven Ausdruck die Unmöglichkeit einer tatsächlichen sexuellen Vereinigung. Der Ausdruck der Anziehung ist im Rahmen der Vasallität Teil des Dienstes an den Herrschenden und der kulturell fokussierten Triebbeherrschung, die Teil der Codizes der höfischen Klasse waren. Diese dienen, wie auch die 'kultivierte Gewalt', der Kommunikation und Selbstvergewisserung zwischen Gleichgesinnten. [Dietl 2009:42f] Während die Themen Intimität, Liebe und Begehren reflektiert und verhandelt werden, soll die Beharrlichkeit des Sängers nach andauernder Zurückweisung durch die Hofdame dessen Wert steigern (Minneparadox).)
Der Minne-Diskurs im Tierepos Reinhart Fuchs bezieht sich auf diese Tradition, weicht jedoch mit einem kritischen Blick von ihr ab, was sich in den Tierfiguren und auf der Ebene des Handlungsverlaufs widerspiegelt. Der Minnedienst des Fuchses an der adeligen Wölfin Hersant ist der Beginn einer weiteren List Reinharts: der Vergewaltigung dieser und der damit einhergehenden Demütigung Isengrins. Damit veranschaulicht die Episode die zeitgenössische Ständekritik und eine Satire der christlich-höfischen Liebes- und Sexualmoral Heinrich des Glîchezâres.
Inhalt der Episode
Die Wolfsfamilie als adelige Familie
Die Lebensformen des mittelalterlichen Adels werden auf die Wolfsfamilie übertragen. Im Text deuten darauf in der Episode der Begegnung des Fuchses mit der Familie (V. 385)[1] folgende Anhaltspunkte:
- Als Anrede für Isengrin verwendet Reinhart den Titel "herre" (RF V. 389). Diese unterscheidet sich von den Familienbezeichnungen, mit denen der Fuchs alle vorangegangenen Tiere ansprach. Beispiele hierfür sind etwa "neve" (RF V. 315) für den Kater oder "gevater" (RF V. 178) für die Meise. Auch Hersant spricht Reinhart mit ihrem Adelstitel "vrowen" (RF V. 391) an, der 'hohe Dame' bedeutet und in der Zweitnennung die Ehe zwischen den beiden Wölfen schließen lässt.
- Abgesehen von dem Adelstitel bleibt Hersants Geschlecht sprachlich unmarkiert. [Quelle!]
- Reinhart bietet sich als "geselle[]" (RF V. 396) an, er gibt an, der Familie dienen zu wollen. (RF V. 390-393)
- Nach dem Angebot zieht sich die Wolfsfamilie zurück und bespricht sich. Isengrin lässt sich von seiner Frau, die als Mitregentin ein Entscheidungsrecht hat, beraten. (RF V 402-403)
- Wie oben bereits erwähnt, markiert der Minnesang (RF V. 409) die höfische Standeszugehörigkeit der Familie.
Nach Reinharts vorangegangenen "Fehlaventiuren" [Ruh 1980:18], schließt er mit Isengrin einvernehmlich einen Gesellenvertrag ab. Dieser übergibt ihm feierlich seine Ehefrau und macht sich auf die Jagd. Dabei werden Reinharts schlechte Absichten bereits von der Erzählstimme vorweggenommen:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
---|---|
sin wip nam er bi der hant | Seine Frau nahm er [Isengrin] an der Hand |
vnde bevalch si Reinharte sere | und übergab sie inständig/feierlich? Reinhart |
an sine trewe vnde an sine ere. | (und) dessen Treuepflicht und dessen Tugend. |
Reinhart warb vmb di gevatern sin. | Reinhart warb um seine Gevatterin/Freundin. |
do hat aber er Ysengrin | Nun hatte aber Isengrin |
einen vbelen kamerere. | einen bösen Kammerdiener. |
hi hebent sich vremde mere. | Von hier an kamen merkwürdige Geschichten auf. |
Reinharts Minnesang
Der Fuchs Reinhart, der in verschiedensten Situationen meist einen klaren Durchblick hat (z.B. Überlistung des Löwen am Hoftag) erfährt bei der Brunnenepisode selbst eine Täuschung der Sinne. Als er in den Brunnen des Klosters blickt, meint er seine Frau zu erkennen und springt hinein. Durch Minne wird selbst der Blick des listigen Fuchses getrübt [Ruh 1980:21]. Die Minne scheint demnach eine große Anziehungs- und Bewegkraft auf den Fuchs zu bewirken.
Die Formulierungen aus Reinharts Minne-Diskurs sind vom deutschen Nachdichter des 'Roman de Renard' übenommen [Ruh 1980:15]:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart sprach zv der vrowen: | Reinhart sagte zu der hohen Dame: |
'gevatere, mochtet ir beschowen | 'Gevatterin, bitte seht |
grozen kvmmer, den ich trage: | den großen Kummer, den ich trage: |
von eweren minnen, daz ist min clage, | Wegen dem Minnedienst an Ihnen, das ist meine Klage, |
bin ich harte sere wunt.' | leide ich sehr stark.' |
Hersants Zurückweisung
Als Reaktion erhält Reinhart von Hersant jedoch eine grobe Zurückweisung, die gegen die Tradition der höfischen Minne verstößt:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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'Tv zv, Reinhart, dinen mvnt!' | 'Mach zu, Reinhart, deinen Mund!' |
sprach er Ysengrinis wip, | sprach Isengrins Frau, |
'min herre hat so schonen lip, | 'Mein Mann hat einen so schönen Körper, |
daz ich wol frvndes schal enpern. | dass ich bestimmt auf einen Geliebten verzichten kann. [?] |
Reinhart Fuchs, V. 416-431
Nach dieser Zurückweisung führt Reinhart seinen Minnesang fort. (V.435-449) Als Isengrin von der Jagd zurückkehrt, tut Reinhart so, als wäre nichts geschehen. (V. 441-442)
Hersants Sittenbruch
Während Reinhart trotz der groben Zurückweisung Hersants vorerst die Rolle des beharrlichen Minnesängers beibehält und damit als "hobischere" (V. 441) der christlichen Tradition folgt - wenn auch aus List, wie es die Erzählinstanz bereits andeutete - bricht Hersant mit ihr.
Denn obwohl es nach den Sittenregeln offensichtlich ist, dass der Geschlechtsakt zwischen den beiden höfischen Figuren als Ehebruch unmöglich und die Rollendichtung keine Abbildung der Wirklichkeit ist, interpretiert Hersant Reinharts Aussagen wörtlich. Interessant ist das an dieser Stelle aufgezeigte Spannungsfeld zwischen den Sitten der ehelichen Treue und der Minne-Beziehung zum Ritter aus der Perspektive Hersants. Einerseits betont Hersant ihre bedingungslose Treue und Liebe zu ihrem Mann Isengrin (V. 430), die zunächst als Grundmotivation ihrer groben Zurückweisung gilt. Andererseits verletzt sie mit ihrem unangemessenen Wortlaut gegen die Tradition der Minne und macht damit einen obszönen, rücksichtslosen und unmanierlichen Eindruck, der ihrem Stand nicht angemessen ist. Damit reduziert sie das Ritual auf das Sexuelle. Die Episode offenbart aber auch, dass sich Hersant selbst nicht nach den christlichen Sitten zu richten scheint, denn sie begründet ihre Zurückweisung nicht mit diesen, sondern mit ihrem eigenen sexuellen Verlangen, was die folgenden Punkte veranschaulichen:
- Hersant ist auf Körperlichkeiten fixiert. Ihre 'Loyalität' zu Isengrin drückt sie durch ihre Bewunderung für seinen "schonen lip" (V. 430) aus, nicht durch ihre Ehe. Reinhart hingegen weist sie auch nicht mit der Begründung des Ehebruchs zurück, sondern weil er ihr "zu swach" (V. 433) erscheint. Das kann entweder ein erneuter Verweis auf Reinharts körperliche Beschaffenheit, jedoch auch auf seine Persönlichkeit oder seinen niederen Stand sein. Der letzte Fall würde einen besonders widersprüchlichen Bezug zur mittelalterlichen, gesellschaftlichen Ordnung darstellen.
- In ihrer Zurückweisung lässt Hersant durchscheinen, dass sie sich durchaus die Möglichkeit eines Liebhabers offenlässt. Im Konjunktiv drückt sie aus, dass sie sich einen Liebhaber aussuchen würde, der attraktiver als Reinhart oder ihm höher gestellt sei.
Bedeutung des Tierseins für die Kritik der christlichen Moral
Die Orientierung Hersants an ihrer Libido setzt sie im Kontrast zu ihrer höfisch-adelig stilisierten Ehe als animalisch-primitiv herab. In dieser Episode lassen sich an Hersants Reaktion die Widersprüchlichkeiten der Trennung zwischen Mensch und Tier ablesen.[Kompatscher-Gufler 2017:32ff.] Die Tatsache, dass es sich um eine Tierfigur handelt und die vorangegangene, hochkulturelle Stilisierung ihrer Standeszugehörigkeit bestärken die Betrachtung dieser Verschränkung und bildet den ersten Ansatz der Gesellschaftskritik des Autors. Diese gilt dem Menschen, der das Tiersein durch die Annahme eines Mensch-Tier-Dualismus ablehnt, einerseits begründet mit dem christlichen Schöpfungsbericht[Kompatscher-Gufler 2017:33], andererseits mit seiner Kultur und seiner Fähigkeit zu komplexen Gesellschaftsformen, Kultur und Recht.[Kompatscher-Gufler 2017:32f.]
Hersants Position im Spannungsverhältnis lässt sich also auf den Menschen übertragen: Zwar beherrscht er mit seiner Kultur seit dem Ackerbau und der Viehzucht das Natürliche und Animalische[Kompatscher-Gufler 2017:32], wird jedoch als Tier auch von seiner Triebhaftigkeit und seiner Libido geleitet, weil die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Lebewesen fließend sind. [Kompatscher-Gufler 2017:44] In der christlichen Kultur wird der zweite Punkt zugunsten des ersten geleugnet.
Darüber hinaus grenzt sich die tierische Gegenwelt des Waldes von der menschlichen, höfischen Umgebung ab. [AUSARBEITUNG NACH DIETL] Die Möglichkeit des Transfers wird durch die Beibehaltung des Waldes als Raum für ritterliche aventiuren in Artusromanen und der Übertragung menschlicher Habitus (s. oben) gewahrt.
[AUCH IN ANDEREN WERKEN EROTISIERUNG DER MINNE ZU FINDEN; BEDEUTUNGSWANDEL VON MINNE ZU SEX]
Moralisches Patt zwischen Reinhart und Hersant
Orientiert an der christlichen Gesellschaftsordnung ist die moralische Überlegenheit Hersants über Reinhart somit problematisierbar. Bei den vorangegangenen Begegnungen Reinharts mit den anderen Tieren präsentierte der Text den Fuchs seiner List wegen durchgehend und eindeutig als unsittlich und gegen die Ordnung verstoßend. An dieser Textstelle kehrt sich dieser Sachverhalt um. Formal und eben wegen seines egoistischen Strebens hält sich Reinhart an die Ordnung und sein Gegenüber benimmt sich falsch. Diese Aussage trifft eingeschränkt, wie oben dargestellt, auch auf Hersant zu. Spöttisch und zynisch wirkt dabei die Erzählinstanz, die das Vorhaben Reinharts, Hersant zu vergewaltigen, bereits andeutet.
"Durch das höfisch-galante Vorspiel, schon als solches parodistisch durch die undamenhafte Replik der mehrfach als edel [...] apostrophierten Partnerin, erhält die Reinhart-Hersant-Minne ein zusätzliches Element literarischer Kritik. Höfische Minne ist, ungeachtet der Theorie hôher minne und nobler Worte, bîligen im Ehebruch." [Ruh 1980:15]
Gegensätzlichkeit Reinhart und Isengrin
- Mit der vorangehenden, feierlichen Übergabe seiner Frau an den Fuchs wird Isengrin als Gegenbild zu diesem konstruiert: Er glaubt wirklich an die höfisch-katholischen Ideale und Sitten, was sich auch in seinem Glauben an Hersants Treue nach seiner schweren Verletzung zeigt.
- Handlungsverlauf zeigt trotzdem Überlegenheit Reinharts, beginnt bereits mit Isengrins Wiederkehr von der Jagd (adeliges Hobby) ohne Beute. Reinhart setzt die Sitten zu seinem Nutzen ein und beherrscht sie besser als die Wölfe selbst.
Vergewaltigung Hersants - Wegkürzen mit Verlinkung auf Artikel über sexuelle Gewalt
- Artikel Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs Wiki-Artikel
- Schlüsselszene Vergewaltigung: Parodie der Minne? Unmöglichkeit der Abwesenheit (männlich-dominanter) Sexualität? Tatsächliche Intime Verhältnisse zwischen 'Hoher Dame' und Minnesänger in historischer Realität? (Aber Reinhart entspricht nicht normativem Bild von Maskulinität und körperlicher Stärke, ist Hersant körperlich unterlegen, überlistet sie)
-> Ausdruck eines Zusammenbruchs einer Ordnung? (Satire ja auch beispielsweise an Klosterleben/Justiz angewandt)
- Definitive Markierung Weiblichkeit auf Inhaltsebene
- Vorangegangene Kastration Isengrins: ebenfalls geschlechtliche Markierung, Selbstverschuldung durch Naivität des Wolfes. Humor in Bezug auch auf Isengrins 'Seeligkeit' -> Mönche glauben, er sei einer von ihnen, Vergleich mit Beschneidung. Schwarzer Humor auch in Bezug auf adeliges Eheverhältnis: Jammer Hersants über Kastration ihres Mannes richtet sich gegen sie selbst? (Animalismus, Sexualität, s. o.: Tendenz zu Primitivität)
- Aufbrechen der Trennung Ehe und Minne
[- Im Text mehrmals nur angedeutetes Eingehen auf Fuchsfrau, Erkennen im Brunnen, tiefe Verbundenheit - hier Ideal der Trennung Minne-Ehe umgesetzt? Humor: Reinhart springt nur nach sich selbst, Narzissmus, Egoismus, "männliches Phantasma der selbstreferentiellen Inkorporation des Weiblichen", Eignung Tierfiguren gegen Homosexualitätsverdacht]
Literaturverzeichnis
<HarvardReferences />
- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs, eine antihöfische Kontrafaktur.
- [*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler: Human-animal studies: eine Einfuehrung fuer Studierende und Lehrende. Mensch-Tier-Grenze. 2017.
- [*Dietl 2009] Dielr: Violentia und potestas. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ›Reinhart Fuchs‹ . 2009.
- ↑ Alle Versangaben des Artikels beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und erläutert von Karl-Heinz Göttert, bibliographisch ergänzte Ausg., Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek 9819).
- Schilling, M. (1989). Vulpekuläre Narrativik. Beobachtungen zum Erzählen im 'Reinhart Fuchs'. Zeitschrift Für Deutsches Altertum Und Deutsche Literatur, 118(2), 108-122. Retrieved May 20, 2020, from www.jstor.org/stable/20657904
- Schul, Böth, Mecklenburg: "Abenteuerliche Überkreuzungen : Vormoderne intersektional." (2017)