Figurencharakteristik (Reinhart Fuchs)
Der folgende Beitrag analysiert die Figur Reinhart Fuchs aus dem gleichnamigen Tierepos von Heinrich der Glîchezâre und dessen Charakter.
Dabei werden verschiedene Verse mit Wortbelegen von "kvndikeit" und das Verhalten des Protagonisten in den Episoden untersucht und auf Deutungen und Zitate zurückgegriffen.
Verse mit Wortbelegen „kvndikeit“ und Belege zur Charakterisierung [Heinrich der Glîchezâre 1995]
Reinhart trifft auf die Meise und versucht sie zu überlisten. Diese aber habe schon viel über den Fuchs gehört und ist vorgewarnt. (RF, V 189 - 191)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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die meyse sprach: "Reinhart, | Die Meise sprach: "Reinhart, |
mir ist vil manic ubel [] art | man hat mir häufig von vielen deiner bösen Eigenschaften |
von dir gesagt dicke. […]" | berichtet. […]" |
Deswegen möchte die Meise Reinharts Vertrauen testen und ihm drei Küsse geben, während er die Augen schließen soll: Die Meise wirft Dreck von ihrem Ast herunter. Reinhart hat nur Böses im Sinn und versucht, danach zu schnappen. Die Meise weiß nun, dass er sie zu fangen versucht. (RF, V 197 - 199)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart wart vil gemeit | Reinhart war vergnügt |
von der cleinen leckerheit, | über die kleine Hinterlist, |
er vrevte sich vaste. | er freute sich sehr. |
Die Meise entkommt Reinharts Hinterlist, der nun traurig über sein Scheitern ist. Doch er hat schon eine neue List in Aussicht am Rabe Diezelin. (RF, V. 213-219)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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des wart er trvric vnde vnvro | Deshalb war er traurig und betrübt |
er sprach: 'herre, wie kvmt ditz so, | und sprach: 'Herr, wie kommt es, |
daz mich ein voglin hat betrogen? | dass mich ein Vogel betrogen konnte? |
das mvet mich, daz ist vngelogen.' | Das ärgert mich, das ist nicht gelogen.' |
REinhart kvndikeite pflac, | Reinhart pflegte seine Listigkeit, |
doch ist hevte niht sin tac, | doch ist heute nicht sein Tag, |
daz iz im nach heile mvege ergan. | denn nach dem Glück geht es den Sorgen entgegen. |
Während Reinharts Verbündeter, der Wolf Isengrin und seine Söhne auf Beutejagd sind, wittert Reinhart die Gelegenheit und umwirbt Isengrins Frau Hersant. Später vergewaltigt Reinhart sie sogar. (RF, V 416 - 421)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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sin wip nam er bi der hant | Er nahm seine Frau bei der Hand |
vnde bevalch si Reinharte sere | und empfahl sie an Reinharts |
an sine trewe vnde an sine ere. | Treue und an seine Ehre. |
Reinhart warb vmb di gevatern sin. | Aber Reinhart warb um seine Gevatterin. |
do hat aber er Ysengrin einen vbelen kamerere. | Da hatte Isengrin aber einen üblen Kämmerer, |
hi hebent sich vremde mere. | Denn von jetzt an begeben sich schändliche Geschichten. |
Reinhart beginnt Hersant schamlos zu verführen und vergewaltigt sie anschließend vor den Augen ihres Mannes. (RF, V. 1162-1163)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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siner amien warf er dvrch den mvnt | Hinterlistig wedelte er seiner Geliebten |
sinen zagel dvrch kvndikeit. | den Schwanz durch ihren Mund. |
Isengrin wird von einem Ritter versehentlich gerettet: Dieser will ihn eigentlich töten, schneidet dem Wolf aber lediglich den Schwanz mit seinem Schwert ab, woraufhin dieser fliehen kann. Reinhart flüchtete schon längst vorher. (RF, V 823 - 826)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart, der uil hat gelogin, | Reinhart, der selbst schon viel gelogen hatte, |
der wirt noh hut betrogin. | wird heute noch selbst betrogen. |
doch behalf ime sin kundigkeit von notlichir arbeit. | Doch half ihm seine listige Art aus feindlicher Bedrängnis. |
Der Fuchs Reinhart gibt sich als Pilger und Arzt aus und verspricht, den kranken König durch einen Trank zu heilen, jedoch braut Reinhart ihm seinen Tod: Der Trank ist vergiftet. So entkommt Reinhart dem Gerichtstag und damit seinem Urteil.( RF, V 2172 - 2175)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart was vbele vnde rot, | Reinhart war böse und rot, |
daz tet er da vil wol schin: | das machte er vollends deutlich: |
er vergab dem herren sin. | er vergiftet seinen Herrn. |
Der Protagonist und seine Eigenschaften
Kvndikeit
Reinhart Fuchs wird als Protagonist oft mit dem Wort "kvndikeit" beschrieben, das je nach Kontext positiv oder negativ ausgelegt werden kann. Das Wort wird unter anderem mit 'Einfall', "do was im kvndikeite zit || Da brauchte er dringend einen Einfall. " (RF, V. 307) oder 'Geschicklichkeit' "do bedorfte er wol kvndikeit || Jetzt kam es wohl auf seine Geschicklichkeit an. " (RF, V. 3640) übersetzt, aber auch mit 'Listigkeit', "ez sold in wol erlozen Reinhart mit seiner kvndikeit. || Reinhart hätte ihn wohl von seiner Listigkeit erlösen können." (RF, V.1420-1421) oder 'Hinterlistigkeit', "nieman evch gezelen mack Reinharts kvndikeit [...]|| Niemand kann euch erzählen, wie hinterlistig Reinhart war [...] " (RF, V. 1822-1823).[Heinrich der Glîchezâre 1995] Der Fuchs stellt anderen Tieren gerne eine Falle oder hintergeht sie und erfreut sich daran, wenn er erfolgreich war. Als schlauer und kluger Fuchs ist er den anderen Tieren oft überlegen und nutzt deren Leichtgläubigkeit und Naivität gerne mit einer List aus. Die Redewendung "schlau wie ein Fuchs" zu sein ist auch im heutigen Sprachgebrauch noch sehr präsent und unterstützt dieses Bild zusätzlich. Hinterlistig ist jemand, der heimlich bestrebt anderen Schaden zuzufügen oder sie zu betrügen. [Hinterlistig] Listig sein bedeutet, "die Fähigkeit verfügend, sich Umstände zur Erreichung seiner Absichten zu bedienen, die anderen verborgen sind" [Listig]. Und genau diese Eigenschaften besitzt Reinhart Fuchs: Er ist fähig, andere zu hintergehen und seine kvndikeit als Fuchs auszunutzen, denn die meisten Tiere erkennen seine Überlegenheit nicht. Es bereitet dem Fuchs Freude andere zu betrügen und seine Listen vergnügen ihn, wenn er andere Tiere hintergeht. "Reinhart begonde uben baz sine Liste, die er hat. || Reinhart setzte am liebsten seine Listen ein, die er besaß." (RF, V. 104-105)
Der schlaue Fuchs
Reinharts Schlauheit ist nicht nur in den Handlungsmitteln, sondern auch in den Handlungszielen als amoralisch. Bei der Untersuchung und Deutung seiner Gründe und Ernährung der Ziele trifft man auf Rache, ehebrecherisches Begehren und Machtgewinn. Den Wolf schädigt er mehrmals aus Rache, da er die gemeinsame Beute nicht mit seinem Verbündeten teilt. An Bär, Kater, Löwe und vielen weiteren rächt der Fuchs sich, weil sie ihn zu Tode verklagen wollten. Die Wölfin Hersant begehrt Reinhart erst tatsächlich, vergewaltigt sie jedoch schließlich, als Rache am Wolf, der versuchte, Reinhart dem Tode auszuliefern. Auf Rache und Machtgewinn ziele die ganze Interaktion mit dem Löwen, wodurch der Fuchs am Ende alle Feinde beseitigen kann.
Die "Co-Akteure" agieren auf "unvorsichtigem Vertrauen auf Tugend und Recht, vor allem aus Gier" und handeln ihrer Tiernatur entsprechend: Der Wolf ist verfressen, der Löwe gierig nach Macht, Hersant ehebruchwillig, Bär und Kater können Honig und Mäuse nicht widerstehen. Reinhart besitzt die Schlauheit, die in der aktionalen Kontrolle über die Deutung der Handlungsaktionen besteht, dieses Verhalten der Tiere einzuschätzen und zu kalkulieren. Vor allem in der Konstruktion mit dem Wolf wird deutlich, dass Isengrin zwar der physisch stärkere, aber Reinhart intellektuell einfach überlegen ist und zusammen mit seinen schlauen Handlungssträngen für seine Selbsterhaltung sorgen kann. Festzuhalten ist jedoch der Grund für sein Misserfolg: "Wenn Reinhart der physisch stärkere ist, wie in den Anfangsepisoden mit de schwächeren Tieren [...], reicht seine Schlauheit nicht für den Handlungserfolg."
Im Prozess gegen Reinhart Fuchs wird das recht jedoch als Instrument für amoralisches Handeln des Löwen benutzt. Fragwürdig ist, ob das Todesurteil Reinharts gerechtfertigt ist oder ob er sich trotz seines amoralischen Handelns zu recht entzieht. "Es gibt weder einen Grund zur Sympathie mit dem Fuchs", noch zum Mitleid für dessen Opfer, "sondern nur ein kühles Urteil der instrumentellen Vernunft, dass schlechte Schlauheit größeren Handlungserfolg verspricht, als schlechte Lasterhaftigkeit [...]." [Hübner 2016]
Reinharts Liebe und Minne
Sicherlich ist er auch ein einsames Tier, denn er macht sich nicht viele Freunde: Allen Tiere, denen er begegnet, fügt er in verschiedenster Weise Leid zu und schikaniert sie. Der Leser selbst kann über die Dummheit der anderen Tiere nur lachen und entwickelt Sympathie für den schlauen Fuchs. Für seine Einsamkeit ist Reinhart aufgrund dessen aber selbst verantwortlich, denn die Brunnenepisode verdeutlicht, dass auch Reinhart eine Frau an seiner Seite hat. Der Fuchs meint, im Spiegelbild des Brunnenwassers (RF, V. 840 - 849)[Heinrich der Glîchezâre 1995] seine Frau zu erblicken, die er wie sich selbst liebt. Aber er könne es nicht lassen, noch eine Geliebte, eine Minne zu haben. Die tiefere, emotionale Bindung besteht aber zu der Ehefrau, denn er erkennt sie in seinem eigene Spiegelbild und springt zu ihr hinunter. "Damit ist die Beziehung zwischen Fuchs-Mann und Fuchs-Frau entlang der im literarischen Diskurshöfischer Literatur diskutierten Idee einer Trennung von Ehe und Minne konstruiert [...]." [Mecklenburg 2017]
Der Fuchs als Protagonist
Zu Beginn des Tierepos wird Reinhart Fuchs als "außergewöhnliches Tier" bezeichnet, das sein ganzes Trachten und seine Sinne auf Betrug und schlaue Winkelzüge richte und sich auf vielerlei Bosheit wohl verstanden habe (RF, V. 1-10 ). Schon im Prolog wird regelrecht vor dem Fuchs gewarnt: Iz hate vil vnchvste erkant vnd ist Reinhart genant || Er trug viel Bosheit mit sich und wurde Reinhart genannt (RF, V. 9-10).[Heinrich der Glîchezâre 1995] Auch im Tierreich erzählt man sich nur Schlechtes über Reinhart, ebenso habe die Meise schon viel "manic ubel", also viele üble Eigenschaften, über ihn und seine Taten gehört. Als Reinhart den König vergiftet, wird er als rot und böse betitelt. Im Tierepos wird die Rolle des Protagonisten einem Fuchs zugeordnet. Dieses Tier ist den anderen Tieren körperlich nicht oft überlegen, aber er trotzt mit seiner Überlegenheit in Klugheit und Listigkeit. Die Hauptrolle kann nur einem Fuchs mit den zentralen Charaktereigenschaften Reinharts, wie seine Klugheit, Hinterlistigkeit, Tücke und seine Freude daran, zugeordnet werden, die er bewusst einsetzt, um seine Handlungsziele zu erreichen.
Reinhart als Täter und Opfer
Reinhart der Verlierer
In den anfänglichen Episoden scheitert Reinhart zu genüge: Er will Bauer Lanzelins Hühner stehlen, die sich aber in Sicherheit bringen. Reinhart schnappt sich mit einer List den Hahn Scantecler, der dem Fuchs aber wieder entkommen kann, indem er ihn provoziert. Auch die Meise entwischt Reinhart, die schon vor ihm gewarnt wurde. Der Rabe Diezelin ergatterte einen Käse, den der Fuchs begehrt und deswegen den Raben hintergehen will. Er bringt sich dabei jedoch selbst in Gefahr, vor der er sich im letzten Moment noch retten kann. Anschließend begegnet er dem Kater Diepreht. Der Fuchs versucht den Kater in eine Wildfalle zu locken, in die er selbst hinein fällt und sich noch rechtzeitig mit einer List vor der Axt eines Bauern retten kann. All diesen Tieren versucht Reinhart Leid zuzufügen und will sie zu seinen Gunsten hintergehen. Jedoch gelingt ihm zunächst keine seiner Taten und seine Opfer kommen immer wieder davon.
"Ein Unglückstag Reinharts, und dies, obschon er seine kundekeit mannigfach unter Beweis stellt. Das steht im krassen Gegensatz zum Erfolg von Reinharts Finten in der Haupthandlung. Das epische Vorzeichen ist wohl deshalb verquer gesetzt, weil es im Hinblick auf die späteren, vielfach kriminell zu nennenden Taten des Protagonisten nötig schien, diesem beim Publikum einige Sympathien zu sichern: dem Erfolglosen mit reichen Gaben werden sie nie verwehrt." [Ruh 1980] Reinhart musste am Anfang bei seinen hinterlistigen Taten scheitern, um die Sympathie der Leser und anderer Tieren zu gewinnen. Hätte er anfänglich nicht verloren, hätte der Wolf Isengrin nicht in ein Bündnis mit dem Fuchs eingewilligt. Publikum und Tiere hätten kein Mitleid empfunden und Reinhart wäre nicht so ungeschoren davon gekommen. Allerdings sind seine bislang vollbrachten Taten noch harmlos.
Reinhart der Sieger
Reinhart scheiterte anfänglich bei körperlich unterlegenen Tieren, denn Hahn, Meise, Rabe und Kater waren physisch deutlich schwächer als er. Mit seinen unzähligen Listen und seinem hinterlistigen Charakter gleicht er nun jegliche körperliche Überlegenheit anderer Tiere aus:
Obwohl Reinhart Fuchs mit dem Wolf Isengrin ein Bündnis abschließt, wird der Wolf immer und immer wieder zum Opfer; "Reinhartis driuwe warin laz, […]. || Reinharts Treue war unzuverlässig." (RF, V. 753). Mehrfach nutzt der Fuchs Isengrins Dummheit und Naivität aus. Weil der Wolf Isengrin von Natur aus verfressen ist, lockt Reinhart ihn wiederholt mit Futter und führt Isengrin so hinters Licht. Reinhart gelingen viele Listen, bis hin zur grausamen Kastration Isengrins und der Beschneidung seines Schwanzes, das mittelhochdeutsche Wort zagel. Als wäre es damit noch nicht genug, vergewaltigt Reinhart Isengrins Frau Hersant, die er schon lange begehrt, vor den Augen ihres Mannes. Reinharts nicht aufzuhaltender Drang, Isengrin sowohl seelisch, als auch körperlich zu verletzten, nimmt Isengrin alles: von seiner Männlichkeit bis hin zu seiner Würde und seinem Stolz.
Reinhart Fuchs als "Opfer"
Der Protagonist Reinhart Fuchs schadet im Tierepos vielen Tieren, nutzt deren Naivität aus und hintergeht sogar seine Verbündeten. Wiederholt setzt Reinhart seine Listen ein und strebt lediglich nach seinem eigenen Wohlergehen, wobei er dabei bereitwillig in Kauf nimmt, dass er andere verletzt, sowohl seelisch, als auch körperlich. Die Bedürfnisse seiner Umwelt interessieren ihn nicht.
Aufgrund seiner Taten muss er sich vor Gericht behaupten, wo ihm die Todesstrafe droht. Niemand setzt sich vorerst für eine Verhandlung im Sinne einer verbindlichen Justiz ein und die Episode der Gerichtsverhandlung offenbart dadurch auch den Egoismus und die Rücksichtslosigkeit der anderen Tiere. Auf diese Weise wird der Angeklagte vor Gericht selbst zum Opfer, denn ihm wird die formale Möglichkeit verwehrt, sich gegen die zahlreichen Anschuldigungen zu verteidigen.
Gerechtigkeit unter den Tieren
Schließlich will der Wolf Isengrin Rache an Reinhart Fuchs nehmen und setzt einen Gerichtstag an, zu dem sich viele Tiere um Isengrin als Unterstützung versammeln, während Reinhart nur Krimel, einen Dachs bei sich hat. Die anwesenden Tiere fordern gemeinsam ein unverzügliches Urteil beziehungsweise eine Strafe für Reinhart, um sich an ihm zu rächen und ihn für all seine Taten büßen zu lassen. Alle sind sich einig, auch der König und gleichzeitig Richter, der Löwe Vrevel. Niemand verteidigte den Fuchs oder erhob Gegenrede gegen das ihm drohende Urteil. Bis auf das Kamel, welches "gottesfürchtig und weise" (V. 1439)[Heinrich der Glîchezâre 1995] ist, denn es erinnert an ein Gerichtsverfahren im Sinne des Rechts: Der Angeklagte müsse drei Mal vor Gericht geladen werden, erscheine er nicht, wird er dafür mit dem Leben bezahlen.
Reinharts Listenreichtum und seinen zahlreichen Schandtaten lassen sich in keinster Weise rechtfertigen. Allerdings fällen die Tiere in ihrer Wut und Zorn auf Reinhart ein vorschnelles Urteil, ohne sich der Gerechtigkeit, die sie selbst fordern, zu besinnen und in ihrem Sinn zu handeln. Reinhart wird hier selbst kurz zum Opfer der Gesellschaft im Tierepos. Aus dieser Rolle kann er sich aber auch wieder befreien und greift dabei auf seine Eigenschaft kvndikeit zurück, auf seine Schlauheit und seine Hinterlistigkeit, denn Reinhartes liste waren gros […]. || Reinharts Hinterlistigkeit war unendlich […]. (RF, V. 1865).
Der Gerichtstag
Der König erweise sich zunächst als Gerichtsherr, der das Verfahren gegen den Fuchs ordnungsgemäß leite, indem er den abwesenden Reinhart nach Lehnsrecht dreimal laden lässt. Ebenso drohe er ihm, als der Fuchs die Königsboten übel zugerichtet heimschickt, rechtskonform mit Verbannung und Tod. Reinhart kehrt schließlich verkleidet als Arzt und Pilger bei dem Hoftag ein und verspricht den König Löwe Vrevel zu heilen, welcher brutal und aggressiv das Ameisenvolk zerstört hat. Dessen Lehensherr rächte sich und drang über das Ohr in das Hirn des Löwen ein, was dem Löwen Todesqualen verursachte. König Vrevel nutzte die Situation zu seinen Gunsten egoistisch aus: "Dem Fuchs vorbehaltlos vertrauend, lässt Vrevel nicht nur den Wolf enthäuten, sondern er opfert auch eine Reihe anderer Vasallen seiner Gesundheit. Nachdem deshalb die meisten übrigen Untertanen des Königs geflohen sind, heilt der falsche Arzt seinen königlichen Patienten nun mehr, um ihn dann zu vergiften und sich aus dem Staub zu machen." [Neudeck 2016] Aus der Gerichtsverhandlung und der Fällung eines Urteils wird ein dramatischer Ausgang. Der Fuchs nutzt den Einwand des Kamels, dass auch ihm eine gerechte Verurteilung zustehe, und tötet im Gegenzug seinen Richter.
Reinhart überwiegt als Täter
Der Protagonist handelt alles andere als gerecht. Reinharts Listen und Schandtaten sind nicht zu rechtfertigen, vor allem die Vergewaltigung Hersants nicht. Von Heinrich der Glîchezâre wird die Vergewaltigung nur kurz und undetailliert angeschnitten. Aber bei einer genauerer Interpretation Reinharts Handlungen, wird die Vergewaltigung, vor den Augen Hersants Mann, seinem eigentlichen Verbündeten, zum Höhepunkt seiner Ungerechtigkeit. Der Wolf Isengrin wird niemals seine verdiente Gerechtigkeit erlangen können. Reinhart überwindet am Ende den König Vrevel und das Gesellschaftssystem im Tierepos und kommt ungestraft davon. Der Fuchs bereut seine Taten nie und würde sich auch niemals als schuldig erweisen, für all seine mutwilligen Taten. Trotzdem wird Reinhart nicht einmal ansatzweise zur Rechenschaft gezogen und kommt ungestraft, als Sieger über alle, davon: Reinhart was vbele vnde rot, daz tet er da vil wol schin:er vergab dem herren sin. (RF, V. 2172-2175).
Gewalt und Macht in der Gesellschaft der Tiere
Herrschaft durch König Vrevel
Der Hoftag des Königs Vrevel bietet die Gelegenheit für den Gerichtstag, wo die von Reinhart Fuchs geschädigten Tiere Anklage gegen ihn erheben. Da die Szene in feudaler Anarchie endet, ermöglicht diese Episode die Steigerung in das Dramatische. Zu einer Katastrophe führt vor allem die "problematische Figur des Königs". Vrevel denkt, dass seine Schmerzen, die tatsächlich von der in sein Gehirn gedrungenen Ameise stammen, eine Bestrafung Gottes ist, da er seine königlichen Pflichten vernachlässigte. Das will er nun aufholen und den Gerichtstag vollziehen. Der Löwe bricht jedoch am Ende in Egoismus aus, und bringt deswegen nicht nur seine Untertanen um, sondern häutet auch den Wolf, um daraus Nutzen für seine Gesundheit zu ziehen.
Aus Vrevels brutalem Verhalten in der Ameisenepisode und auch aus dem gewaltsamen Vorgehen im Hoftag, lässt sich schließen, dass die königliche Macht im Tierepos allein auf Gewalt basiert und ausgeübt wird. "Rücksichtsloser Machtgebrauch, bloß äußerliche Rechtlichkeit, bestechliche Gerechtigkeit königliche Treulosigkeit bestimmen die öffentlichen Verhältnisse im Tierstaat. Deswegen bringt der König zunächst seine Vasallen um, um schließlich selber umgebracht zu werden." [Neudeck 2016] Ebenso gerate die Schwachstelle der monarchischen Herrschaft in den Fokus: "die unsichere Eignung des Herrschers im Allgemeinen sowie die Manipulierbarkeit [...]" durch beispielsweise Kommunikation und Gewalt. Die monarchische Spitze der feudalen Gesellschaftsordnung, die durch den Löwen Vrevel verkörpert wird, impliziere gleichzeitig eine prekäre Schwachstelle. Die neugeschaffene Textsorte Tierepos ermögliche "eine kritische Reflexion des Politischen, die in einer pragmatisch-illusionslosen Darstellung politischen Handelns fassbar wird." [Neudeck 2016]
Der Anti-Held Reinhart
"Eine besondere Rolle kommt dem Protagonisten zu. Reinhart ist es nämlich, der durch seine kundekeit die wahre Natur der Tierfiguren entlarvt [...], weil die Repräsentanten des Tieradels nicht ihren Idealen und Pflichten, sondern ihren natürlichen Interessen und Begierden folgen.", wie König Vrevel, der nur nach seiner Gesundheit strebt, und dafür das Recht mit Füßen trete, ebenso seine Getreuen schinden lasse, der Kapellan, der Bär Brun und der Kater Dieprecht, die aufgrund ihrer Gefräßigkeit vom amtlichen Auftrag abgelenkt werden. [Ruh 1980]
Auch Reinhart nutzt Gewalt immer wieder, um seine Machtposition zu demonstrieren, als der, den anderen Tieren deutlich überlegene, schlaue Fuchs. Der Protagonist bekomme am Ende die Rolle des "Anti-Helden" zugeschrieben: Er gewinnt den Gerichtstag, indem er alle Kläger umbringt, die ihm nach dem Leben trachten, und "zerstört auch nachhaltig die politische Ordnung der Tiergesellschaft", denn auch die monarchische Spitze, den König, stürzt und beseitigt er gnadenlos. [Neudeck 2016]
Widerspieglung der Menschen im Tierepos
Die politische Argumentation nach Ruh
Die Welt und die Gesellschaft der Tiere im Tierepos 'Reinhart Fuchs' seien nach Kurt Ruh ausschließlich die Widerspieglung der adligen Welt und deren Vertreter. Er stellt die These auf, die gezielte politische Satire beruhe auf der Standeskritik, die der Tierdichtung als solcher eigen sei. Als Voraussetzung dafür werden die Tiere als "Barone" oder "Herren" dargestellt. "Aber nicht, um [...] die feudale Welt idealiter oder auch nur abbildend darzustellen, sondern um sie der Kritik zu unterwerfen. Diese Kritik wächst aus ihr selbst, nicht aus der Ideologie eines anderen Standes. [...] Die Episierung geschieht, indem die Tiere handelnd ihre eigene Natur enthüllen. Das heißt zugleich, daß sie - und dies ist die grundlegende Anthropomorphisierung der Tiergeschichte - sich zu verstellen vermögen oder auch in einem neutralen Zustand zu verharren. " Die wahre Natur manifestiere sich erst in dem Zwang der grundlegenden biologischen Bedürfniserfüllung.
"Man kann auch sagen: die Tiere geben sich menschlich, nehmen noble Lebensformen, Sitte, Vernunft, Ideologien in Anspruch, handeln indes immer als Tiere, ihrer Natur entsprechend. Das aber bedeutet, da die handelnden Tiere die Menschenwelt spiegeln, Demaskierung. Der Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit tut sich drastisch auf, die Menschen, hier die adlige Gesellschaft, enthüllen ihre wahren, nämlich die kreatürlichen Kräfte. […]" Die höfische Epik stelle die adlige Gesellschaft und deren Verständnis von êre, triuwe und milte dar. Die Beziehung zwischen Wolf und Fuchs basiere auf untriuwe, ebenso wie der König zu seinen Untertanen agiert. [Ruh 1980]
Die Rolle des Fuchses
"Eine besondere Rolle kommt dem Protagonisten zu. Reinhart ist es nämlich, der durch seine kvndekeit die wahre Natur der Tierfiguren entlarvt [...].": Die Eitelkeit Scanteclers und Dizelin, die Gefräßigkeit und die Dummheit des Wolfes und viele der Teilnehmer am Hoftag, "weil die Repräsentanten des Tieradels nicht ihren Idealen und Pflichten , sondern ihren natürlichen Interessen und Begierden folgen." Der Begriff der untriuwe werde nicht in der Figur des Protagonisten thematisiert. "Der hypostasierte untriuwe-Begriff in einer Person führt zur Vorstellung, die Welt wäre in bester Ordnung, wenn nur der Erzgauner Reinhart nicht wäre." [Ruh 1980] Die Dreistigkeit des Fuchses, jeden zu hintergehen und auszunutzen steht im direkten Vergleich zum Verhalten des königlichen Herrschers und dessen Untertanen, deren Handlungen nur von egoistischen Zielen und natürlichen Trieben, wie Bedürfnisbefriedigung geprägt sind.
Paradoxie nach Mecklenburg
Mecklenburg untersucht die paradoxe und "widersprüchliche Überkreuzung" von Anthropomorphie und Animalität. "Menschen haben einen freien Willen, sie wissen im Listhandeln die Hintergehbarkeit von Ausdruck zu nutzen; Tiere besitzen keine Willensfreiheit , sie folgen ihren Instinkten und sind, so sie zu den Wildtieren gehören, nicht an Bedingungen menschlicher Sozialräume angepasst." Explizites Verhalten bestimmter Charaktere kann er nur als tierisch zuweisen, bspw. die Beschwerde Hersants in der Öffentlichkeit über das Fehlen des zagels ihres Mannes und kann er verschiedene Eigenschaften der Tiere nicht auf menschliche projizieren. Die an ihre Handlung und Figuren herangetragene alltagspraktische Logik könne auf paradoxe Weise zwar in ihrer Geltung enthoben werden, das an den Figuren vorgeführte Exempel könne aber doch wieder auf die Bewältigung eines alltagspraktischen Problems hin beziehbar werden. [Mecklenburg 2017]
Die Darstellung des Fuchses
Der Fuchs im Mittelalter
In mittelalterlichen Lehrbüchern, wie im altdeutschen "Physiologus", wird der Fuchs überwiegend mit negativen Aspekten assoziiert. Ebenso wird der Fuchs in Verbindung mit dem Teufel gebracht und ein Vergleich zwischen sündigen Verhalten des Tieres und der Menschen gezogen. Das Verhalten des Tieres weise jedoch partiell so unheimliche und untierische Züge auf, dass die Anspielung auf das Wirken des Böse sichtbar sind. Auch im altdeutschen "Titian" zeichne sich ein Mensch, der als ein Fuchs bezeichnet wird, als jemand aus, dessen Absichten nicht durchschaubar oder moralisch einwandfrei sind. In den mittelalterlichen 'Predigtmärchen' wird der "Prototyp des 'menschlichen Fuchses'" von vier negativen Eigenschaften dominiert: Habsucht, Verzweiflung, Falschheit und Verschlagenheit. [Müllneritsch 2010]
Das Tier als Begleiter des Bösen
Der Fuchs wurde in vielen Kulturen mit Tabuwörtern bezeichnet, der wohl aufgrund des Aberglaubens nicht bei seinem Namen genannt werden solle. Bei einem morgendlichen Spaziergang einen Fuchs zu sehen, deute auf Glück oder Unglück hin, meistens aber sei das Tier ein Indiz für nahendes Unglück. Springe ein Fuchs über einen Kirchweg, kündige er so Leichen an und ein Traum von einem Fuchs offenbare eine bevorstehende Begegnung mit einem hinterlistigen Menschen. [Müllneritsch 2010] All diese abergläubischen Beispiele beweisen, wie stark negativ der Fuchs als Tier behaftet ist, und dass sich dieses Bild bis hin zur Angst vor dem Fuchs steigert.
Der Fuchs als Metapher
Warum der Fuchs als hinterlistig assoziiert wird, lässt sich allein aus seinem natürlichen/ biologischem Verhalten schließen: "Gut versteckt wartet er auf seine Beute, um sie dann unvermittelt anzuspringen; wenn ein Mensch so etwas beobachtet oder möglicherweise selbst von einem Fuchs angefallen wird, ist es nicht verwunderlich, wenn das Tier in Folge als heimtückisch gilt." [Müllneritsch 2010]
Schlussbetrachtung
Der Protagonist Reinhart Fuchs wird häufig durch verschiedene Auslegungen des Wortes 'kvndikeit' beschrieben. Im Tierepos werden Reinharts unzählige Listen thematisiert, wobei er sich wiederholt einen Spaß auf Kosten anderer erlaubt. Einige seiner Tücken und Listen schlagen über sein Ziel hinaus: Sowohl die Vergewaltigung Hersants, als auch die Verstümmelung Isengrins sind weder zu tolerieren, noch zu rechtfertigen.
Sympathieträger wird er durch die anfänglichen Episoden, in denen er scheitert und als Verlierer heraus geht. Zum Gerichtstag rückt dann die Gerechtigkeit der Tiergesellschaft in das Licht und Reinhart steht nicht mehr allein im Fokus. Trotzdem ist Reinhart böse und hinterlistig genug, dass er sich nicht davor scheut, auch noch seinen Richter und gleichzeitig König der Gesellschaft, Löwe Vrevel, umzubringen. Nach Kurt Ruh ist hier die zielende Absicht des Autor, den Rezipient*innen die Augen zu öffnen, denn Reinhart Fuchs ist nicht der alleinige ungerechte Täter, sondern auch die Herrschaft des Tierreichs, stellvertretend für die Schicht des Adels. Trotz aller Interpretationen und Auslegungen können die grausamen Taten Reinharts nicht gerechtfertigt werden. Als hinterlistiger Fuchs wird er für all seine Schandtaten nie zur Rechenschaft gezogen, im Gegenteil: Der König zieht bis zuletzt unwissentlich einen Nutzen aus Reinhart, dem schlaue und einfallsreichen Fuchs, der niemals büßen oder bezahlen muss.
Schlussendlich charakterisieren Reinhart zwei verschiedene Charakterseiten: Mit seinem schlauen, klugen Einfalls- und Ideenreichtum ist er nicht nur jeder Situation, sondern ebenso jedem Tier in der Geschichte überlegen. Diese Überlegenheit nutzt er allerdings schamlos ohne Rücksicht auf seine Umwelt aus, und fügt so vielen anderen willkürlich Leid zu. Er sieht als einziger die Dummheit aller in der Tiergesellschaft und geht mit offenen Augen durchs Leben. Dabei fällt ihm auf, dass die anderen Tiere nur egoistisch und nach ihren eigenen Vorteilen, Bedürfnissen und ihrem Begehren handeln. Dieses Verhalten nutzt der Protagonist bis zum dramatischen Ende aus. Paradox zu seiner Klugheit stehen zentral Reinharts hinterlistige Eigenschaften, zu betrügen und unmoralisch jede List auszuführen ohne jegliche Empathie.
Ruh interpretiert das Tierepos von Heinrich der Glîchezâre und deutet die politische Kritik Heinrichs und betitelt das Tierepos als eine "gezielte politische Satire", die auf der Standeskritik beruhe. Mecklenburg hingegen diskutiert die Anthropomorphisierung und die Animalität der Geschichte.
Literatur
<HarvardReferences />
- [*Heinrich der Glîchezâre 1995] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg. Karl-Heinz Götter, Stuttgart 1995.
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- [*Hinterlistig] https://www.duden.de/rechtschreibung/hinterlistig
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- [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (RF, V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, Göttingen 2017.
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- [*Müllneritsch 2010] Müllneritsch, Helga: Die Darstellung des Fuchses. Graz 2010.
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- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs. Eine antihöfische Kontrafaktur, in: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1980.
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- [*Neudeck 2016] Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des politischen in der europäischen Tierepik, München 2016.
- [*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016.