Mutter-Tochter-Dialoge am Beispiel von Sommerlied 18 (Neidhart)
Der Dialogtypus ist ein Charakteristikum der Neidhartschen Sommerlieder und wird in der mediävistischen Forschung als formale und inhaltliche Neuschöpfung Neidharts aufgefasst. Die Gesprächsszenen lassen sich in Mutter-Tochter-, Gespielinnen- sowie Sänger-Mädchen-Dialoge gliedern, wobei nach Dialogpartner*innen und thematischen Aspekten unterschieden wird (vgl. Schweikle 1990, S. 72).
Im Zuge dieses Artikels sollen die Mutter-Tochter-Dialoge am Beispiel von Sommerlied 18 näher untersucht werden. Hierfür soll zunächst eine theoretische Grundlage gelegt werden, indem auf den Typus der Frauen-Dialoglieder, im Besonderen auf die Mutter-Tochter-Gesprächslieder, eingegangen wird und dabei Begriffe, charakteristische Themen sowie formale Aspekte des Liedtypus erläutert werden.
Aufbauend auf dem ersten Teil des Artikels, soll anschließend das Sommerlied 18 beleuchtet werden. Hierbei werden charakteristische Merkmale näher untersucht, welche unter anderem die Dialogpartnerinnen, den Gesprächsgegenstand sowie die formalen Mittel umfassen. Folgenden Fragestellungen soll in diesem Schritt nachgegangen werden: Welche Rolle nehmen die muoter und tohter in der vorliegenden Gesprächsszene ein? Welche gattungstypischen Themen, aber auch Abweichungen vom Dialogtypus, treten auf? Und variieren der Redeanteil sowie formale Aspekte bei den beiden Parteien? Im letzten Punkt des Artikels soll schließlich auf weitere Mutter-Tochter-Dialoge sowie auf Sonderformen des Typus verwiesen werden.
Frauen-Dialoglieder
Besonders die Frauen-Dialoglieder, die Mutter-Tochter- und die Gespielinnen-Gespräche, sind charakteristisch für das Œuvre Neidharts. Sie sind der Tradition der Frauenlieder des vorangehenden hohen Minnesangs zuzuordnen, in welchen die Dame den Geliebten begehrt und ihr Liebesverlangen sowie ihre Sehnsüchte offen kommuniziert (vgl. Schweikle 1990, S. 72; Bennewitz 1991, S. 27). Ein wesentliches Merkmal der Lieder Neidharts ist der Bruch mit literarischen Konventionen – sowohl formal als auch inhaltlich (vgl. Lomnitzer, S. 126). So merkt Hübner an, dass „[d]ie traditionellen Muster des Minnesangs […] auf den falschen Gegenstand und den falschen gesellschaftlichen Raum bezogen [werden]“ (2008, S. 54). Ebenso wie ein Großteil der Lieder Neidharts Szenen des Dorflebens illustriert, stammen auch die Dialogpartnerinnen aus dem bäuerlichen Milieu (vgl. Hübner 2008, S. 45). Neidhart setzt somit adlige Liebesideale in einen bäuerlichen, dörflichen Kontext - „[…] eine neue Variante des höfischen Liebeslieds“ (Hübner 2008, S. 45). Die Rezipient*innen konnten dabei seine Intention nur nachvollziehen, wenn ihnen das klassische Minnesangschema geläufig war (vgl. Ruh 1984, S. 109).
Thematischer Hintergrund
Die sogenannte Pastourellensituation, das Zusammentreffen von Ritter und Mädchen in einer Naturszenerie, bildet den thematischen Hintergrund der Frauen-Dialoglieder. Dabei ist für die Neidhartschen Sommerlieder charakteristisch, dass eine „Umkehrung des Werbungsschemas“ (Schweikle 1990, S. 72) vorgenommen wird – die Initiative ergreift hier die weibliche Figur. Aber auch das subjektive Nacherzählen der Begegnung in Dialogform ist ein Merkmal Neidharts. Das Liebesziel stimmt mit dem fiktiven Schauplatz der Sommer- und Winterlieder überein: Es ist der Ritter von Riuwental, der hier begehrt wird (vgl. Schweikle 1990, S. 71). Je nach Liedgattung und Szenerie variiert die Bezeichnung des Reuentals – vom Heimatort des Sänger-Ichs, welches bestimmte Konnotationen mit sich bringt, zum Personennamen einer Rollenfigur. Lediglich in den Frauen-Dialogliedern, welche „am Schema der Patourelle“ (Schweikle 1990, S. 54) orientiert sind, bezeichnet Riuwental stets eine Rollenfigur, einen ritter (z. Bsp. SL 17, 26) oder knappen (z. Bsp. SL 1,2), welcher Gesprächsgegenstand und Objekt des Begehrens der Dialogpartnerinnen ist (vgl. Schweikle 1990, S. 52 f.)
Beispiele:
Gespielinnen-Gesprächslied SL 14: Den sie alle nennent von Riuwental und sînen sanc erkennt wol über al, derst mir holt.
Mutter-Tochter-Gesprächslied SL 11: über al müezen sîn die liute werden inne: mîn muot der strebt gein Riuwental.
Diese Grundkonstellation wird in den Frauen-Dialogliedern immer wieder aufgegriffen: Ein Mädchen aus dem bäuerlichen Milieu setzt – entgegen aller gesellschaftlicher Standesnormen – ihre Hoffnung in eine Ehe mit Riuwental (vgl. Hübner 2008, S. 58).
Dialogpartnerinnen
Während bei den Mutter-Tochter-Gesprächsszenen eine Unterhaltung zwischen einem Bauernmädchen und ihrer Mutter geführt wird, tauschen sich bei den Gespielinnen-Dialogen zwei Dorfmädchen „auf der Ebene gleicher Interessen“ (Schweikle 1990, S. 76) untereinander aus (vgl. Hübner 2008, S. 55). Gerade in den früher entstandenen Mutter-Tochter-Gesprächsliedern sind die Dialogpartnerinnen namenlos und werden beispielsweise als muoter, eide, tochter, kint, maget oder frouwe typisiert. Hingegen ist das Ziel des Begehrens, in den meisten Fällen der Ritter von Riuwental, bereits zu Beginn namentlich ausgewiesen. Die Vergabe von Namen ist erst ab Sommerlied 10 erkennbar, jedoch hauptsächlich in den Gespielinnen-Gesprächsliedern, in welchen die Freundinnen sich namentlich ansprechen oder auf andere gespilen referieren. Ab Sommerlied 24 tragen auch die Sprecherinnen Namen (vgl. Schweikle 1990, S. 73).
Formale Aspekte
Die reine Dialogform tritt vorranging bei den Mutter-Tochter-Gesprächsliedern auf, wobei das Sänger-Ich in vereinzelten Liedern vollkommen verstummt (vgl. Plotke 2010, S. 27). Die Gesprächspartnerinnen können dabei im alternierenden Wechsel zu Wort kommen, aber auch Halbstrophen und freiere Formen sind im Neidhartschen Œuvre vorzufinden (vgl. Schweikle 1990, S. 74). Bereits zu Beginn ist bei den Frauen-Dialogliedern eine Vielzahl von formalen Erweiterungen erkennbar. Diese umfassen unter anderem das „obligatorisch[e] Element“ (Hübner 2008, S. 48) des sommerlichen Natureingangs, welches von einer Gesprächspartnerin vorgetragen wird, aber auch Inquitformeln – beispielsweise „sprach ein magt“ (SL 18) – sowie Zwischen- oder Schlussbemerkungen und Erzähleinschübe des lyrischen Ichs sind bei den sommerlichen Dialogliedern vorzufinden. Zudem kann das Sänger-Ich als Rollenfigur auftreten, wie etwa als Geliebter des Dorfmädchens (vgl. Schweikle 1990, S. 73). Dabei können die Dialogtypen nicht immer strikt differenziert werden, da auch Kombinationsformen sowie Einschübe von Monolog- und Trutzstrophen vorherrschen (vgl. Schweikle 1990, S. 74). Bei den Mutter-Tochter-Gesprächsliedern ist der Dialog selten abgeschlossen, sodass eine Fortsetzung durch weitere Strophen denkbar wäre (vgl. Schweikle 1990, S. 75).
Mutter-Tochter-Gesprächslieder
Grundkonstellation: Verstand vs. Gefühl
„Die Konfliktkonstellation Mutter (Verstand) – Tochter (Gefühl)“ (Schulze, S. 139 f.) stellt die Ausgangssituation des Dialogtypus dar und ist bereits bei Vorgängern Neidharts, wie etwa bei Dietmar von Eist, präsent (vgl. Schulze, S. 139 f.). Die Tochter ist in den Gesprächsszenen als „tanz- und liebeslustig“ (Schweikle 1990, S. 74), als naiv und ahnungslos charakterisiert. Im Gegensatz dazu tritt die Mutter als vernünftig und erfahren auf – sie warnt vor den „erotischen Gefährdungen“ (Schweikle 1990, S. 74), die der Sommer und die damit einhergehende Tanzsaison mit sich bringen. Dabei lässt sie die romantische Illusion der Tochter zerplatzen, indem sie schonungslos auf die Realität hinweist und den Versuch unternimmt, an ihr Urteilsvermögen zu appellieren (vgl. Schweikle 1990, S. 74).
Themen und Motive
huote-Motiv
Implikationen der Minne (Mutter)
Tanz und Verlangen nach romantischer Begegnung (Tochter)
Mutter-Tochter-Dialoge am Beispiel von SL 18
Übersetzung und Inhalt
Strophe 1
"Uns wil ein sumer komen", | Beispiel |
sprach ein magt: "jâ hân ich den von Riuwental vernomen. | Beispiel |
jâ wil ich in loben. | Beispiel |
mîn herze spilt gein im vor vreuden, als ez welle toben. | Beispiel |
ich hœr in dort singen vor den kinden. | Beispiel |
jâne wil ich nimmer des erwinden, | Beispiel |
ich springe an sîner hende zuo der linden." | Beispiel |
Strophe 2
Diu muoter rief ir nâch; | Beispiel |
sî sprach: "tohter, volge mir, niht lâ dir wesen gâch! | Beispiel |
weistû, wie geschach | Beispiel |
dîner spilen Jiuten vert, alsam ir eide jach? | Beispiel |
der wuohs von sînem reien ûf ir wempel, | Beispiel |
und gewan ein kint, daz hiez si lempel: | Beispiel |
alsô lêrte er sî den gimpelgempel." | Beispiel |
Strophe 3
"Muoter, lât iz sîn! | Beispiel |
er sante mir ein rôsenschapel, daz het liehten schîn, | Beispiel |
ûf daz houbet mîn, | Beispiel |
und zwêne rôten golzen brâhte er her mir über Rîn: | Beispiel |
die trag ich noch hiwer an mînem beine. | Beispiel |
des er mich bat, daz weiz ich niewan eine. | Beispiel |
jâ volge ich iuwer ræte harte kleine." | Beispiel |
Strophe 4
Der muoter der wart leit, | Beispiel |
daz diu tohter niht enhôrte, daz si ir vor geseit; | Beispiel |
iz sprach diu stolze meit: | Beispiel |
"ich hân im gelobt: des hât er mîne sicherheit. | Beispiel |
waz verliuse ich dâ mit mîner êren? | Beispiel |
jâne wil ich nimmer widerkêren, | Beispiel |
er muoz mich sîne geile sprünge lêren." | Beispiel |
Strophe 5
Diu muoter sprach: "wol hin! | Beispiel |
verstû übel oder wol, sich, daz ist dîn gewin: | Beispiel |
dû hâst niht guoten sin. | Beispiel |
wil dû mit im gein Riuwental, dâ bringet er dich hin: | Beispiel |
alsô kan sîn treiros dich verkoufen. | Beispiel |
er beginnt dich slahen, stôzen, roufen | Beispiel |
und müezen doch zwô wiegen bî dir loufen." | Beispiel |