Sigunes Bedeutung für die Entwicklung Parzivals

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In diesem Artikel sollen die vier Begegnungen zwischen Sigune und Parzival im Hinblick auf deren Bedeutung für Parzivals Werdegang analysiert werden. Interessant ist hierbei herauszufinden, inwieweit Sigune als Richtungsgeberin für einen vom Weg abgekommenen Helden zu sehen ist [Schnyder 2008: 129]. Da sie immer dann in Erscheinung tritt, wenn Parzival am Scheideweg steht.

Die Figur Sigune

„ein frouwe ûz rehtem jâmer schrei:
ir was diu wâre freude enzwei."
(138, 13f)[1]

Dies ist das Erste, was man über Sigune erfährt. Durch den Verlust ihres Geliebten Schionatulander leidet sie sehr. Dieser wurde im Kampf mit Orilus getötet (141, 8f). Pikant ist jedoch, dass er in Sigunes Dienst umkam, wodurch sie sich die Schuld an seinem Tod gibt (141, 11f). Im weiteren erfahren wir, dass Sigune Parzivals Cousine ist (141, 25f) und das sie einen Teil ihrer Kindheit bei seiner Mutter Herzeloyde verbracht hat (141, 13). Sigune als Figur im Parzival lässt sich aus mehreren Perspektiven betrachten und analysieren. Neben ihrer Rolle als wilde Person und Aussteigerin, wird sie auch als Baumheilige (249, 14-17) angesehen [Schwietering 1920: 140]. Allerdings liegt in diesem Artikel der Fokus auf ihre Funktion als Wegbegleiterin für Parzivals Entwicklung.

Die vier Sigune-Begegnungen

Erste Begegnung

Dem ersten Aufeinandertreffen von Sigune und Parzival geht neben dem Tod Herzeloydes (128, 23f), der das endgültige Austreten Parzivals aus der Obhut seiner Mutter markiert, auch die Begegnung mit Jeschute (130,1-131, 19) und somit Parzivals erster Fauxpas voraus. Diese Episode wird im Gespräch mit Sigune nochmals aufgegriffen. Durch ihre Person wird die Figurenkonstellation veranschaulicht [Draesner 1993: 267]. Während Parzival bei Jeschute war, kämpfte Schionatulander mit Orilus. Nach dessen Sieg kommt er zurück und beschuldigt Jeschute ihn zu betrügen (133,6-10). Daraufhin nimmt er die Verfolgung Parzivals auf (138,1-4). Diese Bedrohung wird Parizval erst durch Sigune vor Augen geführt, denn sie warnt ihn und verdeutlicht, dass er zur einem neuen Verknüpfungspunkt für Erzählungen in einer bereits bestehenden Welt wird [Draesner 1993: 267]. Parzival ist von dem ersten Zusammentreffen mit Sigune überfordert und weiß nicht, wie er reagieren soll. Daher greift er auf den Rat seiner Mutter zurück „ er sî trûric od freuden var, die bat mîn mouter grüezen gar. Got halde iuch" (138, 25ff). Dieses Verhalten unterstreicht sein Mangel an Erfahrung im Umgang mit andern Menschen und seine fehlende Emphatiefähigkeit. Zieht man nun das aetates-Modell zum Lebensalter im Mittelalter heran, ließe sich Parzival in dieser Szene auf der Ebene der pueritia verorten[Sassenhausen 2007: 68]. Denn er ist ungestüm und möchte nur kämpfen (139, 7f), ohne Mitgefühl für Sigune zu empfinden. Im Umgang mit ihr wird in dieser Situation sein momentaner Entwicklungsstand sichtbar. Im Weiteren klärt Sigune ihn über seine Herkunft (V.140, 25-30) und das Schicksal seiner Familie (141, 5-10) auf. Demnach tritt sie hier als Wissensvermittlerin für Parzival, aber auch für die Rezipienten, in Erscheinung. Sie führt die einzelnen Episoden zusammen und verbindet diese zu einer kohärenten Geschichte. Aus diesem Grund hilft Sigune Parzival zum „1.Schritt der Selbsterkenntnis" [Bumke 2004: 58].

Zweite Begegnung

Nach seinem Frageversäumnis auf Munsalvӕsche trifft Parzival zum zweiten Mal auf Sigune. Auch hier erkennt er sie nicht sofort, was unter anderem auch an ihrem veränderten Aussehen liegt „ôwê war kom dîn rôter munt?“ (252, 27). Darum begrüßt Parzival seine Cousine wie eine Fremde, ebenso wie bei ihrer ersten Begegnung. Interessant ist hierbei jedoch, die Art und Weise des Grußes.

Anrede erste Begegnung

mittelhochdeutsch neuhochdeutsch
"er sî trûric od freuden var, Scheint jemand traurig oder fröhlich-
die bat mîn mouter grüezen gar. Mutter riet mir, stets zu grüßen.
Got halde iuch" Gott mit euch!
(138, 25ff)


Anrede zweite Begegnung

mittelhochdeutsch neuhochdeutsch
„frouwe, mir is vil leit Edle Frau, Ihr tut mir leid
iwer senelîchiu arebeit. in Eurem großen Seelenschmerz.
Bedurft ir mînes dienstes iht, Wenn ich Euch irgend helfen kann,
in iwerem dienste man mich siht" so sieht man mich in Eurem Dienste.
(249, 27-30)


Ist Parzival bei dem ersten Aufeinandertreffen noch unsicher und greift infolgedessen auf den Rat seiner Mutter zurück, so wirkt er hier gereift. Die Anrede „frouwe" (249, 27) erscheint höfisch und verdeutlicht die respektvolle Gesprächsaufnahme. Parzival stellt seinem Gegenüber nicht mehr vielen aufdringliche Fragen sondern bekundet dezent sein Interesse, indem er sein Mitgefühl ausdrückt und seine Hilfe anbietet. Aufgrund dessen kann sich Parzival hier nicht mehr auf der Stufe der pueritia befinden. Anstelle von pueritia ist er nun auf der Ebene der adolescentia anzusiedeln. Dort ist der Mensch zeugungsfähig und hinsichtlich gesellschaftlicher Belange eingeschränkt mündig. Eine emotionale Ausgeglichenheit wird den Menschen erst bei iuventus zugeschreiben [Sassenhausen 2007: 68f]. Diese ist bei Parzival trotz seiner Anteilnahme, bezüglich Sigunes Leid, noch nicht festzustellen, da er dieses Mitgefühl dem Gralskönig Anfortas auf ''Munsalvӕsche durch sein Frageversäumnis verwehrt (242, 13-18). Parzivals innerliche Haltung gegenüber Leid und Leidensbereitschaft kann Anteilnahme noch nicht als etwas Positives zulassen [Draesner 1993: 272]. Unterstrichen wird diese durch seine Aussage „wir sulen disen tôten man begraben" (253, 8), die zeigt, dass er sich nicht in Sigunes Gemütslage einfühlen kann und ebenso wenig bereit ist, ihre Trauer zu akzeptieren. Parzival versucht zwar das normativ Richtige zu tun, vergisst dabei aber, dass es für Sigune nicht das Beste ist. In dieser Situation sind die Rollen, der Beratenden und des Beratenen vertauscht. Diese ändert sich jedoch schnell wieder als Sigune Parzival über seine Verfehlung beim Gralskönig aufklärt „iuch solt iur wirt erbarmet hân, an dem got wunder hât getân, und het gevrâget sîner nôt." (255, 17ff). Sigune fungiert hier abermals als Vermittlungsinstanz, die Parzival über sein Verhalten unterrichtet. Wie entscheidend richtiges Benehmen ist verdeutlicht sie, indem sie ihm seinen Rang als Ritter abspricht. Zudem nimmt sie ihm die Möglichkeit, ihr weitere Fragen zu stellen und so an Wissen zu gelangen (255, 26-29). Folglich reflektiert Parzival sein Verhalten erstmals kritisch „daz er vrâgens was sô laz, do’r bî dem trûregen wirte saz, das rou dô grœzlîche den het ellens rîche" (256, 1-4). Somit führt Sigune einen Wendepunkt in seinem Denken herbei, da er sein Verhalten zum ersten Mal hinterfragen muss. Neben der Rolle einer Wissensvermittlerin übernimmt sie nun auch die Rolle einer strengen Mutter oder eines Lehrers.

Dritte Begegnung

Zum dritten Mal begegnet Parzival seiner Cousine Sigune, die inzwischen als Klausnerin lebt (435, 26ff), nachdem er nach einer längeren Gawan-Passage wieder in den Vordergrund der Erzählung tritt. Parallel zu den ersten Treffen erkennt er sie wieder nicht auf Anhieb „dennoch was im hart unkuont wer si wӕre od möhte sîn." (437, 22f). Dennoch bittet er höflich um Auskunft. Diese gehobene Sprache und das Überdenken seines Vorgehens „ez dûht in alze spâte: daz er niht was erbeizet ê, diu selbe schame tet im wê." (437, 6ff) veranschaulichen, dass er nun endgültig die Stufe iuventus erreicht hat. Zudem akzeptiert Parzival nun auch Sigunes selbst gewählte Lebensform, indem er nicht mehr versucht ihr zu sagen, was sie tun soll [Draesner 1993: 273]. Interessant ist die Umkehrung in dieser Szene. Denn nun klagt Parzival Sigune sein Leid (441, 3-17). Hierbei vergisst er aber auch nicht ihren Schmerz. Dies Fähigkeit, sein Versagen einzusehen, und die Größe um Hilfe zu bitten, deuten auf eine Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit hin (422, 1-8). Dies bleibt auch Sigune nicht verborgen, die ihm nun den Weg zu Cundrie und somit zum Gral weißt. Daher fungiert sie hier ein letztes Mal als Wegweiser, auch wenn der von ihr gewiesene Weg nicht begehbar ist (442, 21ff). An dieser Stelle zeigt sich, dass Sigunes Aufgabe als Wegbegleiterin für Parzival und seine Entwicklung nun vollbracht ist. Ihre Funktion als Vermittlerin des Wandels der Ordnung wird sie aber weiterhin bekleiden [Draesner 1993: 282].

Vierte Begegnung

Dem letzten Aufeinandertreffen von Parzival und Sigune geht insbesondere Parzivals Ernennung zum Gralskönig voraus (796, 17-21). Nachdem er endlich seine Frau Cundwîramurs wiedergesehen hatte, weisen ihnen Gralsritter den Weg zur Klause Sigunes. Als sie dort eintreffen ist Sigune bereits tot (804, 23). Anschließend beerdigen Parzival und Condrîramurs Sigune bei ihrem Geliebten (805, 18). Diese Geste unterstreicht die doppelte positive Veränderung Parzivals. Er kann jetzt nicht nur Trauer verstehen, sondern diese auch selbst zulassen, ohne darin Schwäche zu sehen. Mit diesem letzten Treffen schließt sich auch der Kreis der Verwandtschaftsbeziehungen. Erfährt man bei der ersten Begegnung nur von der Verwandtschaft Sigunes und Parzivals, hört man nun, dass auch Condwîramurs einige Zeit ihrer Kindheit bei Sigunes Mutter verbracht hat (805, 2-9). Infolgedessen vermittelt Sigune auch über ihren Tod hinaus, hier zwischen Parzival und seiner Frau. Diese umrahmende Funktion der ersten und vierten Begegnung veranschaulichen nochmals Parzivals Werdegang und die Tatsache, dass dieser nun abgeschlossen ist.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich Sigune tatsächlich als Wegweiser für Parzival interpretieren, der ihm immer wieder die Richtung weist. Nicht nur in Form eines geographischen Wegweisers sondern auch als eine normative Werteinstanz. Sie klärt ihn nicht nur über seine Vergangenheit auf, sondern verknüpft sein Handeln mit dessen Folgen, die auch weitere Personen betreffen können. Daher kann Sigune als eine Art Scherbensammlerin angesehen werden, die isoliert wirkende Erzählungen zu einer ganzheitlichen Geschichte zusammensetzt und in einen übergeordneten Kontext stellt. Anhand ihrer Aufeinandertreffen lässt sich Parzivals Entwicklung fortlaufend abbilden. Sigune stellt somit auch eine Konstante in seinem Leben da, die ihm immer wieder auf den rechten Weg bringt und ihn dazu animiert, sein Verhalten zu reflektieren.

Literaturangaben

Textausgabe

  1. Im Folgenden immer zitiert aus: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übers. von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2006.

Sekundärliteratur

[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36).

[*Draesner 1993]Draesner, Ulrike: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs Parzival. Frankfurt am Main, 1993 (Mikrokosmos 36).

[*Sassenhausen 2007]Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literarpsychologische Deutung, Köln/Weimar/Wien 2007.

[*Schnyder 2008]Schnyder, Mireille: Der Wald in der höfischen Literatur: Raum des Mythos und des Erzählens. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. 13, 2008.

[*Schwietering 1920]Schwietering, Julius: Sigune auf der Linde. In: ZfdA (1920), S.140-143; (wieder In: Ders., Philologische Schriften. Hgg. von Friedrich Ohly/ Max Wehrli. München 1969, S. 362-384).