Truchseß (der angebliche Drachentöter) (Gottfried von Straßburg, Tristan)
Der Truchseßliebt::Isolde lebt in Irland und dient der Königin Isolde. Er behauptet, Drachentöter zu sein, wird aber des Betrugs überführt.
Charakterisierung
Der Truchseß[1] wird als feige und ängstlich beschrieben (erschrocken unde herzelôs (V. 9119)),[2] ist aber auch zu kluger Berechnung fähig (daz liez er niuwan durch den list (V. 9171)).
Tomas Tomasek [Tomasek 2007] schreibt, der „eher lächerlich wirkende irische Truchsess“ werde „von Tristan souverän ausgeschaltet“. Der Truchseß habe „selbst ein Auge auf Isolde geworfen“, würde aber „aus Feigheit die offene Auseinandersetzung scheuen“.[Tomasek 2007:101] Seine Liebe zu Isolde ist das Motiv, das ihn dazu bringt, zu allen Kampfhandlungen mitzureiten und sich immer zu zeigen:
- und alse ie man ze velde reit
- durch gelücke und durch manheit,
- sô was ouch der truhsaeze dâ
- eteswenne und eteswâ
- durch niht, wan daz man jaehe,
- daz man ouch in dâ saehe,
- dâ man nâch âventiure rite
- (V.8953-8959))
- (Immer wenn jemand zum Kampf ausritt, um sein Glück uns seine Kraft zu probieren, war auch der Truchseß da, überall und immer, nur damit man sagen könnte, man habe auch ihn da gesehen, wo man zum Kampf ritt.)[Krohn 2007:537]
Winfried Christ weist auf die Tatsache hin, dass der "szenische Aufwand", mit dem Gottfried die Episode vom Drachenkampf des Truchseß mit dem toten Drachen bis hin zu seiner Niederlage und der Verspottung durch die Hofgesellschaft, "in keinem Verhältnis zu ihrer strukturellen und erzähltechnischen Funktion" stehe.[Christ 1977:81] Die Truchseß-Episode kann hinsichtlich der Erzähltechnik aufgrund der in ihr enthaltenen Komik und Spannungssteigerung als ein herausragendes Element innerhalb des Tristanromans angesehen werden.
Drachenkampf
Der Truchseß behauptet, den Drachen, der im Tal Anferginan lebt, getötet zu haben und fordert daraufhin das Recht des Drachentöters ein, die Tochter des Königs von Irland, Isolde, zur Frau nehmen zu dürfen, worauf er schon seit langem hofft (V. 9247-9257). Den Drachen hat allerdings ein anderer getötet: Tristan. Dieser schneidet dem Drachen auch die Zunge aus dem Maul (V. 9060-9062). Der Truchseß sticht lediglich auf den schon toten Drachen ein:
- daz vorder stucke daz stach er
- dem trachen zuo dem gorgen în,
- als ez ein tjoste sollte sîn.
- (V. 9208-9210)
- (Das Vorderende steckte er dem Drachen in den Schlund, als ob er ihn dort hineingestoßen hätte.)[Krohn 2007:551]
Der Truchseß reitet mit folgendem Schlachtruf auf den bereits toten Drachen zu: schevalier damoysêle! / ma blunde Îsôt, ma bêle! (V. 9165-9166). Rüdiger Krohn erläutert hierzu: "Mit dem Kampfruf gaben die Streiter sich zu erkennen; meist riefen sie den Namen ihres Herrn oder ihres Landes, Hertz (S. 526) weist darauf hin, daß es nach deutscher Anschauung ein grober Verstoß gegen die Anstandsregeln des Frauendienstes war, den Namen der Dame zu nennen".[Krohn 2007:156] Dies und auch die Erwähnung, dass der Truchseß den Speer beim Stoß aus der Hand verliert, nutzt Gottfried dazu, die Figur des vrouwen ritter (V. 9905) in lächerlicher Weise darzustellen. Winfried Christ hält diese Kampfszene für "eines des komischsten Stücke in mittelhochdeutscher Literatur".[Christ 1977:81] Arthurische 'aventiure'-Kühnheit werde auf ironische Weise mit Requisiten eines zierlich-höfischen Turnierwesens vermischt und dieses "entblößte Missverhältnis" beziehe sich "auf ein Spannungsverhältnis von literarischem und lebenspraktischem Erfahrungshorizont des höfischen Publikums".[Christ 1977:81]
Gerichtsverhandlung
Der Truchseß wähnt den wahren Drachentöter tot, da er Tristan nirgends entdecken kann. Dieser liegt in einem Tümpel, durch die Zunge des Drachen geschwächt und entkräftet (V. 9072-9090). Dies nutzt der Truchseß zu seinem Vorteil aus und gibt sich selbst als der Drachentöter aus (V. 9217-9246). Als Isolde erfährt, dass der Truchseß um ihre Hand verlangt, erklärt sie, lieber Selbstmord begehen zu wollen (V. 9286-9289). Isoldes Mutter bezeichnet die Möglichkeit, dass der Truchseß seinen angeblichen Anspruch auf die junge Isolde wahr machen könnte als die grundelôse[] herzenôt (V. 9363) (unendlich tiefen Schmerz).[Krohn 2007:561] Sie sagt außerdem, ihr Ansehen und Glück würden von dem Anspruch des Truchseß abhängen: mîn êre und al mîn saelekeit (V. 9569). Die ältere Isolde hofft, dass Gott beide vor dem Anspruch des Truchseß behüten werde: ouch sol uns got dar vor bewarn (V. 9278). Gegenüber Tristan gesteht die ältere Isolde:
- ist daz diz wunder sol geschehen,
- sô sîn wir beide, ich unde Îsôt,
- iemer mit lebendem lîbe tôt.
- (V. 9590-9592)
- (dass, wenn diese Ungeheuerlichkeit eintreten sollten, wir beide, Isolde und ich, auf ewig bei lebendigem Leibe tot wären.)[Krohn 2007:573]
Auch Gurmun, Vater der Isolde, macht deutlich, dass ihn die Angelegenheit schwer bedrückt: mir ist disiu rede swaere alse der tôt. (V. 9729). Dass die Reaktion der Familie Isoldes auf die Forderung des Truchseß von Gottfried so ausführlich dargestellt wird, steigert den Spannungsmoment: es geht um Leben und Tod. Das Interesse des Rezipienten an der Aufklärung des Betrugs wird von Gottfried auf geschickte Weise geweckt.
Im Traum erkennt die ältere Isolde, dass ein gas (V. 9314) der wahre Drachentöter ist (V. 9298-9314) und gemeinsam mit Brangäne machen sich die Isolden auf die Suche nach dem Drachen umd Nachforschungen anzustellen (V. 9311-9368). Bis zur Endeckung Tristans bekommt der Rezipient kein Indiz dafür, dass der Truchseß des Betrugs überführt werden könnte. Die Frage, ob der dreiste Truchseß sich durchsetzt oder die Wahrheit ans Licht kommt, bleibt mindestens bis zur Entdeckung aktuell und kreiert einen Spannungsbogen in der Handlung. Auf der Suche nach Tristan entdeckt die junge Isolde diesen schließlich in dem Tümpel liegend und anhand der Drachenzunge erkennen sie in ihm auch den wahren Drachentöter (V. 9369-9435). Diesen nehmen sie dann auch in ihre Obhut und wollen mit Hilfe von Tristan den Truchseß der Lüge überführen (V. 9566-9586). Nachdem Tristan nun gerettet ist und die Drachenzunge als Beweismittel in sicheren Händen ist, scheint eine Entlarfung des Truchseß kurz bervor zu stehen. Es dauert allerdings noch einige hundert Verse, bis der Fall vor Gericht entschieden ist.[Christ 1977:81] Auch dies dient einer Spannungserhöhung. Es kommt zur Gerichtshandlung, wobei der Truchseß sein angebliches Recht auf Isolde geltend machen möchte (V. 9797-9819).
Der Rede des Truchseß
Bei der ersten Gerichtsverhandlung hält der zuvor wenig scharfsinnig erscheinende Truchseß eine 41 Verse umfassenden Rede, die der Verhöhnung Isoldes dienen soll (V. 9856-9896). Die Rede beinhaltet nicht nur eine tiefsinnige Analyse des Wesens der Frauen (diu art ist an iu allen starc. (V. 9872)), sondern der Truchseß behauptet in seiner Rede im Hinblick auf die Frauen im Allgemeinen auch: ir minnet, daz iuch hazzet; / ir hazzet, daz iuch minnet. (V. 9880-9881). Die ältere Königin Isolde nennt diese Erkenntnis des Truchseß eine vrouwen site (V. 9912), da dieser diese Eigenschaft selbst leben würde, indem er Isolde begehre, die ihn verachte (V. 9925-9927). Sie meint, dem Truchseß sei die Männlichkeit abhanden gekommen: ez hât dir der manne art benomen (V. 9908). Der Betrug des Truchseß, von dem sowohl die beiden Isolden als auch Tristan wissen, ermöglicht es ihnen den Truchseß mit "taktische[r] rhetorische[r] Raffinesse"[Christ 1977:85] ganz und gar der Lächerlichkeit preiszugeben. An mehreren Stellen wird deutlich, dass beide Isolden den Truchseß verabscheuen.[3] Durch seine Hartnäckigkeit und Falschheit gibt er ihnen ungewollt die Möglichkeit, ihrer Haltung überdeutlich Ausdruck zu verleihen.
Niederlage
Als die ältere Isolde am Gerichtstag behauptet, den wahren Drachentöter zu kennen (V. 9950-9951), fordert der Truchseß einen Zweikampf ein: hant wider hende, / ê ich den vuoz gewende! (V. 9963-9965) (Mann gegen Mann, ehe ich zurückstehe!)[Krohn 2007:595] Der Kampf wird auf den dritten Tag angesetzt (V. 9980-9981). Gottfried führt den Streit vor Gericht als unmittelbare Wechselrede zwischen den Personen aus und bereichert die Truchseß-Episode somit um weitere dramatische Szenen. Laut Winfried Christ werden durch diese Gerichtsrede Gottfrieds "juristische Kenntnisse [] und sein Darstellungsinteresse am Judikal-Prozeduralen" sichtbar.[Christ 1977:82] Am anberaumten zweiten Gerichtstag führt der Truchseß als angeblichen Beweis den Drachenkopf an: diz houbet, seht, daz brâhte ich dan. (V. 11232)). Da der Kopf aber keine Zunge mehr enthält, ist der Truchseß des Betrugs überführt (V. 11233-11241). Trotzdem fordert der Truchseß noch einmal den Zweikampf ein (V. 11288-11292). Mit dieser Forderung schwenkt der Truchseß vom Gerichtsverfahren auf "das archaische Mittel des Kampfurteils" um.[Christ 1977:84] Auch hier wird wieder mit dem Gegensatz von 'aventiure'-Kühnheit und Höfischheit gespielt. Tristan lässt sich auf die Forderung ein (V. 11301-11308). Die Verwandten des Truchseß raten diesem ihm jedoch, von den Forderungen Abstand zu nehmen (V. 11309-11348): dîne vriunt die heizen dich / dise vorderunge varen lân. (V.11346-11347)). Der Truchseß wird daraufhin verhöhnt und ist dem Spott der Anwesenden ausgesetzt: si triben in mit spotte / umbe und umbe als einen bal. (V. 11362-11363)).
Fazit
Gottfried stellt uns in der Person des Truchseß eine feige, aber dennoch Mitleid erregende Figur vor. Mit großem szenischen Aufwand bettet Gottfried die Figur des angeblichen Drachentöters in die Romanhandlung ein – die in der Episode enthaltene Komik „wird seine Wirkung beim zeitgenössischen Publikum nicht verfehlt haben“,[Christ 1977:81] schreibt Winfried Christ. Die Episode hat im Laufe der Jahre wenig von dieser Wirkung eingebüßt, sodass Gottfried zugestanden werden muss, mit der Darstellung des Truchseß im Drachenkampf und vor Gericht eine komische und Spannungsmomente schaffende Handlung kreiert zu haben, die mit ihrer zeitlosen Komik auch den modernen Rezipienten erreicht.
Literatur
- ↑ Er taucht zum ersten Mal in Vers 8949 auf.
- ↑ Mit diesen Eigenschaften wird der Truchseß im Tristanroman beschrieben: Er wird als schurkisch bezeichnet (der leide truhsaeze (V. 9142), der veige (V. 11251)), als Betrüger (der valsche (V. 11275 u. 11283)), die ältere Isolde bezeichnet ihn als grässlichen Mann (den unsaeligen man (V. 10303)), er wird der Aufschneiderei bezichtigt (an disem lantschalle / ist lützel êren bejaget. (V. 11266f.)) und als armselig beschrieben (der arme truhsaeze (V. 11360)). Die Ritterschaft, die bei dem Gerichtstag anwesend ist, hält den Truchseß für einen glücklosen, armseligen Mann (disem unsaeligen man, / der nie saelde gewan (V. 9785f.)).
- ↑ Sowohl die junge als auch die ältere Isolde bekräftigen mehrmals, dass sie dem Truchseß gegenüber nicht wohlwollend gesinnt sind. Vor der versammelten Ritterschaft erklärt Isolde dem Truchseß: ine wart iu nie getriu noch holt / noch zwâre niemer werden sol. (V. 9864-9865) (aber ich war Euch niemals liebend gewogen und werde es auch gewisslich niemals sein.)[Krohn 2007:589] Die ältere Isolde erklärt gegenüber dem Truchseß, dass weder sie noch ihre Tochter ihn jemals mochten: ich selbe enwart dir ouch nie holt. / ich weiz wol, alse entout Îsolt (V. 9935-9936)). Mutter und Tochter Isolde verdächtigen den Truchseß außerdem des Mordes an Tristan: der truhsaeze der hât in / mortlîche ermordet unde erslagen (V. 9396-9397)). Auch traut Isoldes Mutter Isolde dem Truchseß nicht zu, mit dem Drachen gekämpft zu haben: ei wie sicher ich es bin, / der truhsaeze daz er in / ie getorste bestân! (V. 9349-9351).
<HarvardReferences />
- [*Christ 1977] Christ, Winfried: Rhetorik und Roman. Untersuchungen zu Gofffrieds von Straßburg 'Tristan und Isolde', Meisenheim am Glan 1977.
- [*Tomasek 2007] Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007.
- [*Krohn 2007] Gottfried von Straßburg: Tristan, ins Neuhochdeutsche übers. von Krohn, 12. Auflage, Stuttgart 1980.