Anfortas (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

Aus MediaeWiki
Version vom 18. April 2024, 12:05 Uhr von Nico Kunkel (Diskussion | Beiträge) (→‎Quellenverzeichnis)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Dieser Artikel behandelt die Figur Anfortas, den Gralkönig aus Wolframs Parzivalroman. Neben einer Charakterisierung von Anfortas wird auch die Bedeutung der Figur für den gesamten Roman im Folgenden näher betrachtet. Abschließend gilt es, unterschiedliche Forschungspositionen zu dieser Thematik kurz zu umreißen.

Allgemein

Anfortas ist ein Sohn Frimutels sowie der Bruder von Trevrizent, Schoysiane und Herzeloyde. Somit ist er ein Onkel Parzivals. Außerdem ist Anfortas das Oberhaupt der Gralsgesellschaft. Am Ende des Romans wird er von seiner Herrschaftsposition abgelöst und Parzival wird der neue Gralkönig. Anfortas leidet unter einer Verletzung, die zur Folge hat, dass er stets große Schmerzen erleiden muss und „nicht reiten noch gehen [...] nicht liegen noch stehen" kann („Er mac gerîten noch gegên [...] noch geligen noch gestên" 491,1f.[1]). Vor seiner Verwundung war er allerdings ein weit bekannter Ritter, der insbesondere durch seine „Rittertaten aus Liebe“ („mit rîterschaft durch minne“, 815,13) große Berühmtheit erlangt hat. Anfortas spielt durch seine Rolle als Gralkönig eine zentrale Rolle im Parzival. Zudem zeigt sich, dass sein Unglück unmittelbar mit dem Glück Parzivals verknüpft ist.

Anfortas am See Brumbane (225,8–226,22)

Parzival begegnet Anfortas zum ersten Mal am See Brumbane. Einige Fischer liegen dort mit ihren Booten vor Anker, wobei ein Fischer Parzival besonders auffällt:

einen er im schiffe sach: Einen sah er im Schiff
den het an im alsolch gewant, der war gekleidet,
ob im dienden elliu lant, als ob er aller Länder Herr wäre:
daz ez niht bezzer möhte sîn. Besser kann man nicht angezogen sein.
gefurriert sîn huot waz pfâwîn. Sein pelzgefütterter Hut war mit Pfauenfedern gearbeitet.

225,8-12


Parzival beschließt, den prächtig gekleideten Mann, der, wie sich später herausstellen wird, der Gralkönig Anfortas ist, zu fragen, wo er eine Herberge für die Nacht finden könne. „Der traurige Mann“ („der trûric man“ 225,18) beschreibt ihm den Weg zu einer entfernten Burg, in welcher er ihn am Abend selbst beherbergen will. Allerdings rät er ihm, achtsam zu sein, denn auf den unbekannten Wegen könne man schnell vom Weg abkommen und sich verirren. Parzival folgt dem Angebot des Fischers und gelangt schließlich zu einer mächtigen Festung, der Gralsburg. Parzival weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es sich bei der Burg um Munsalvaesche und bei deren Wirt um den Gralkönig Anfortas handelt. Auch der Fischer weiß nicht, dass der Fremde sein Neffe Parzival ist. Jedoch weiß er, dass ein Ritter kommen wird, dem es möglich ist, ihn durch eine Frage von seinem Leiden zu befreien. Ihm ist bewusst, dass es sich bei dem Fremden um diesen Ritter handeln muss, denn sonst hätte dieser nicht so nahe nach Munsalvaesche vordringen können.

Anfortas in Munsalvaesche (226,23–248,16)

In der Gralsburg wird Parzival sehr freundlich empfangen. Der Burgherr Anfortas sitzt an einer Feuerstelle in einem sehr festlich beleuchteten Saal und bittet Parzival sich zu ihm zu gesellen. Zahlreiche Ritter befinden sich mit ihnen in dem marmornen, prächtig geschmückten Raum. Es herrscht eine große Anspannung innerhalb der Gralsgesellschaft. Denn nicht nur Anfortas, sondern auch die anwesenden Ritter hoffen, dass der Fremde die Frage stellen wird, die ein Ende der Leiden des Burgherren bedeuten würde. Doch obgleich Parzival die wundersamen Geschehnisse des Abends, wie etwa die von einem Knappen getragene Lanze, an deren Schneide Blut hervortritt, als auch die prachtvolle Zeremonie in welcher der Gral in den Saal gebracht wird, bemerkt, wagt er es nicht, Fragen zu stellen. Ebenso nimmt er wahr, dass der Gral auf unerklärliche Weise Speisen und Getränken jeglicher Art hervorbringt. Jedoch äußert er sich nicht dazu. Der Grund dafür liegt in der Erziehung durch Gurnemanz.

er dâhte ‘mir riet Gurnamanz Er dachte: „Gurnemanz hat mir beigebracht–
mit grôzen triwen âne schranz, er ist mir gut und seine Treue ohne Scharte –,
ich solte vil gevrâgen niht. dass ich nicht viel fragen soll.

239,11-13

Parzival ist der Meinung, dass er auch ohne nachzufragen erfahren wird, was es mit den Geschehnissen auf der Burg sowie der Gralsgesellschaft auf sich hat. Diese strikte, unüberlegte Anwendung der von Gurnemanz formulierten Verhaltensregeln bringt schwere Folgen mit sich: Denn was Parzival nicht weiß ist, dass er mit der Frage nach dem Grund für die starken Schmerzen des gelähmten Gralkönigs diesen von seinem Leid erlösen könnte und Parzival selbst zum neuen Gralkönig ernannt werden würde. Anfortas macht ihm ein großzügiges Gastgeschenk, indem er ihm sein Schwert, das ihn in zahlreichen Kämpfen und Gefahren begleitet hat, übergibt. Diese Schwertübergabe, die als eine „Inthronisation des Nachfolgers“[2] gedeutet werden kann, soll dem Gast Anreiz geben, den Wirt nach dem Grund für dessen leidvollen Zustand zu fragen. So berichtet Anfortas ihm, dass das Schwert ihn solange durch die Kämpfe begleitet hat, bis Gott ihn schließlich "ame lîbe hât geletzet"("lahm machte am Leben", 239,27). Parzival stellt die mit großer Spannung von der Gralsgesellschaft erwartete Frage jedoch nicht, und dem Burgherrn wird nicht geholfen. Ahnungslos verlässt er am nächsten Morgen die Gralsburg. Parzival agiert hier sehr ungeschickt, denn zahlreiche Hinweise schlagen bei ihm nicht an. Einerseits liegt dies daran, dass Anfortas kaum Schmerzensregungen erkennen lässt.[3]. Auch den üblen Gestank der Wunde wird durch den Duft von "holz [...] lign alôê"(230,11), einem Aloeholzes, welches auf dem Feuer liegt, kaschiert. So wird das signifikanteste Symptopm der Krankheit, der üble Gestank, für Parzival durch den Duft des Aloeholzes und durch den Duft von Balsam (236,4)überdeckt und nicht wahrnehmbar.[4] Weiterhin wird Parzival von der Festlichkeit, der aufwendigen Zeremonie sowie der pompösen Ausstattung des Saals eingeschüchtert sein und weniger einen Blick für das Leiden des Anfortas' gehabt zu haben. Dennoch hätte Parzival die Verwundung von Anfortas bemerken können:

Der wirt het durch siechheit Der Gastgeber hatte wegen seiner Krankheit–
grôziu fiur und an im warmiu kleit. große Feuer und warme Kleider an. –,
wît und lanc zobelîn, Weiter und langer Zobel
sus muose ûze und inne sîn //// –,
der pelliz und der mantel drobe. der Pelz und der Mantel darüber.

231,1-5

Anfartas wird hier schon fast vor den Feuern aufgebahrt und hatte trotz der Feuer dicke Schichten von Kleidern an, was darauf hindeutet, dass er durch Krankheit von einer "innere[n] Kälte ausgezehrt wird"[5]. Dieses Anzeichen einer Verwundung beziehungsweise einer Krankheit entgeht Parzival vollständig. Seine Sinne sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend ausgebildet, um die Gerüche der Wunde oder den in warmen Kleidern gebetteten Anfortas wahrzunehmen.

Anfortas' Leiden (472,21–483,18)

In einem Gespräch zwischen Trevrizent und Parzival wird der Grund für Anfortas' jämmerlichen Zustand deutlich: So berichtet der Einsiedler, dass Anfortas die Gesetze des Grals missachtet habe und das Leiden des Gralkönigs eine „von Gott verhängte Sündenstrafe" [6] sei. Denn Anfortas hat „Liebe außerhalb des Keuschheitsgebots“ ("minne ûzerhalp der kiusche sinne", 427,29–30) gesucht. Schließlich ist den Gralrittern, die auf Munsalvaesche leben, weltliche Liebe untersagt. Lediglich dem Gralkönig ist es erlaubt, eine Ehefrau, welche von Gott bestimmt wird, zu haben. Anfortas setzte sich über diese Regelung hinweg, indem er sich selbst seine Geliebte Orgeluse gesucht hat und als deren Minneritter hinauszog. Auf seiner Aventiure wird Anfortas beim Tjostieren von einem vergifteten Speer stark verwundet.

mit einem gelupten sper Mit einem vergifteten Speer
wart er ze tjostieren wunt, wurde er beim Tjostieren verwundet,
sô daz er nimmer mêr gesunt so dass er niemals wieder gesund
wart, der süeze oeheim dîn werden konnte, dein lieber Oheim:
durch die heidruose sîn. Das Eisen fuhr ihm durch die Hoden.

479,8–12

Als der Verletzte mit dem Eisen im Körper in der Gralsburg ankommt, zieht ein Arzt das Speerstück heraus und Anfortas wird zum Gral getragen. Die Gralritter erhoffen sich Hilfe von Gott. Dies bewirkt jedoch, dass Anfortas durch den Blick auf den Edelstein am Leben erhalten wird und er nicht sterben kann. Trevrizent berichtet außerdem von den zahlreichen Versuchen, die unternommen werden, um Anfortas' Verletzung zu heilen. So wurde etwa versucht, in den vier Flüssen, „die vom Paradies her fließen“ ("die vier wazzer ûzem paradîs", 481,23), Gêôn, Fîsôn, Eufrat und Tigris ein Heilkraut zu finden. Außerdem hält sich Anfortas am See Brumbane auf, da das milde Seeklima Abhilfe gegen seine Schmerzen verschaffen soll und die Seeluft zudem den übel riechenden Gestank seiner Wunde mildert. Des Weiteren helfen ihm warme Kleidung sowie der Aufenthalt an den Feuerstellen der Gralsburg. Trevrizent wird durch die aufbrausende, gar ungezügelte Art des jungen Parzivals, den er darauf hinweist, „nicht gar so hochfahrend daher zu kommen“ ("vor hôchvart mit senften willen sîn bewart", 473,13f.), an das Schicksal seines Bruders erinnert. So erzählt er ihm Anfortas' Geschichte, um ihm darzustellen, welche Folgen hochmütiges Verhalten haben kann (472,21–27). Denn sein Bruder habe in seiner Jugend durch "hôchvart" ("Hoffart", "Hochmut") Fehler begangen, die er anschließend durch demütiges Verhalten wieder gut machen muss. Schließlich habe Demut Hoffart noch immer überwunden („Diemüet ie hôchvart überstreit“, 473,4). Somit kann eine Verknüpfung zwischen dem jungen Anfortas und Parzival hergestellt werden, da beide aus ehrgeizigem, hochmütigen Verhalten und jugendlichem Leichtsinn Missetaten begangen haben.

Anfortas' Heilung (787,1–796,21)

Anfortas' Schmerzen sind schließlich unerträglich und er bittet die Gralsgesellschaft, ihn nicht länger dem Anblick des Grals auszusetzen, denn er möchte sterben.

sit ihr vor untriwen bewart So wahr ihr keine Verräter seid,
sô loest mich durch des helmes art erlöst mich! Das schuldet ihr dem Adel des Helmes

787,19–21

Dieser Wunsch wird ihm allerdings nicht erfüllt und er wird durch den regelmäßigen Anblick des Grals am Leben gehalten. Sein Leiden wird erst beendet, als die Gralsbotin Cundrîe mit Parzival und Feirefiz in Munsalveasche erscheint. Die Brüder treten an das Bett des Gralkönigs und Parzival stellt die Erlösungsfrage: „Oheim, was tut dir weh?“ ("oeheim, waz wirret dir", 795,29) Diese Frage führt zu der sofortigen Genesung Anfortas' und auch seine Erscheinung verwandelt sich augenblicklich: Der alte, einst unbewegliche Mann erstrahlt plötzlich in jugendlicher Schönheit. Anfortas erscheint nun sogar als ein so schöner Mann, neben dem sogar Parzival zu erblassen droht.

Parzivâls schoen was nun ein wint Parzivals Schönheit war neben seiner ein windiges Ding
und Absalôn Dâvîdes kint, und die des Absalon, Davids Kind,
von Ascalûn Vergulaht, und Vergulahts von Ascalûn
und al den schoene was geslaht, und aller jener, bei denen Schönheit in der Familie lag,
und des man Gahmurete auch die, die man an Gahmuret rühmte
dô man in zogen sach als man ihn so liebenswert herrlich
ze Kanvoleiz so wünneclîch, in Kanvoleiz Einzug halten sah –
ir decheins schoen was der gelîch keines Mannes Schönheit war der gleich,
die Anfortas ûz siechheit truoc. die dem Anfortas von seiner Krankheit blieb.

796,7–15

Auf Anfortas' Heilung folgt unmittelbar die Ernennung Parzivals zum neuen Gralkönig. Es überrascht, dass Anfortas' Genesungsprozess, verglichen mit dessen langer, ausführlich beschriebener Leidensgeschichte, nur äußerst knapp abgehandelt wird. Weniger der Geheilte oder die erlöste Gesellschaft treten in den Vordergrund, sondern es ist Parzival der im Mittelpunkt steht.[7] Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob mit der Erlösung Anfortas' auch eine Ablösung des Romanhelden von seiner dunklen, schuldhaften Vergangenheit einhergeht und folglich auch von einer Erlösung Parzivals gesprochen werden kann.

Die Bedeutung der Figur Anfortas

Anfortas' Verwundung kann "ganz mittelalterlich-korrekt als Strafe für einen Tabubruch"Referenzfehler: Für ein <ref>-Tag fehlt ein schließendes </ref>-Tag. Durch das Versagen jeglicher irdischer Heilungsversuche wird deutlich, dass die Kastration des Gralkönigs sowie sein Leiden von Gott gewollt sind. Auch Trevrizent sieht darin den Grund für das Misslingen der Heilungsversuche: "got selbe uns des verbunde" ("Gott selber will uns das nicht gönnen", 481,18). Überdies wird die Dimension der Verfehlung Anfortas' durch eine besondere Bestimmung deutlich: Selbst wenn die Heilung gelingt, darf Anfortas nie mehr Gralkönig werden (484,8).[8] Die Verwundung des Gralkönigs stürzt somit nicht nur den König selbst und die Gesellschaft von Munsalvaesche in tiefes Leid, sondern sie gefährdet auch den Fortbestand der Herrschaft der Titurel-Familie. Schließlich hat Anfortas keine Nachkommen und auch sein Bruder Trevrizent wird nach seinem Askeseschwur (480,11–21), den er für die Heilung Anfortas abgelegt hat, nicht für Nachkommen sorgen. Die Unterbrechung der Erbfolge wird "von Trevrizent selbst mit drohendem Herrschaftsverlust korreliert" (481,3–4)".[9] Hierin kann eine Parallele zu den Verhältnissen am Artushof gezogen werden, denn auch Artus kann durch den Verlust seines Sohnes Ilinot, der im Kampf für seine Minnedame starb (383,1–12), keine Nachkommen mehr aufweisen.

Betrachtet man den Grund für Anfortas' Strafe genauer, stutzt man über die schwerwiegende Bestrafung. Denn wie Anfortas einstige Geliebte berichtet, sei es zwischen dem Gralkönig und ihr zu keiner körperlichen Liebe gekommen (616,21f.).[10] Somit hat Anfortas, wenn man den Aussagen der ehemaligen Geliebten folgt, nur in Gedanken Sünde begangen. Auf Grund dieser Tatsache verwundert die harte Strafmaßnahme durch Gott und die Gesetze der Gralsburg sowie der Umgang mit deren Einhaltung erscheinen zweifelhaft. So wird durch die Figur Anfortas ein negatives Licht auf die Herrschaft des Gralreichs geworfen.


Darüber hinaus wird durch Parzivals Verhalten gegenüber seinem Onkel die Unerfahrenheit und Unreflektiertheit des Romanhelden verdeutlicht. So bemerkt Parzival etwa nicht, dass der vornehme Mann, den er am See Brumbane trifft, von schweren Leiden gezeichnet ist. Ebenso reagiert er nicht auf die Schwertübergabe, die ihn zum Fragen nach dem Schicksal Anfortas' verhelfen soll. Auf ironische Weise hat der Erzähler "die ersten Worte, die Parzival an ihn richtet, als Frage formuliert", [11] denn bis zu der nächsten Frage die der Protagonist an den Gralkönig richtet und somit dessen Erlösung bewirkt, vergeht sehr viel Zeit.


Des Weiteren verwendet Trevrizent die Geschichte seines Bruders als Paradebeispiel für falsches Verhalten. Denn Parzival soll durch Anfortas' Geschichte darauf hingewiesen werden, wohin hochmütiges Verhalten führen kann.[12]


Außerdem können einige Parallelen zwischen der Figur Anfortas und anderen Handlungsfiguren ausfindig gemacht werden, womit das Motiv der Doppelung, das den gesamten Parzivalroman leitmotivisch durchzieht, auch in Bezug auf den Gralkönig zu Tage tritt. Neben der von Trevrizent aufgezeigten Parallele, die durch die Wesensverwandtschaft zwischen Parzival und seinem Onkel entsteht, ergibt sich ebenso eine Analogie zwischen der Bestrafung des Gralkönigs, dem ein Schwert durch die Hoden fuhr und der Bestrafung des Zauberers Clinschor. Denn der Zauberer wurde zur Strafe, da er sich mit der verheirateten Königin Iblis von Sizilien vergnügte, „zwischen den Beinen glatt gemacht" ("zwischenn beinn gemachet sleht", 657,21). Demzufolge gleichen sich sowohl die körperlichen Bestrafungen, als auch die Vergehen der beiden Romanfiguren, da sowohl Anfortas als auch Clinschor als Leidtragende eines falschen Minnedienstes betrachtet werden können.

Forschungsperspektiven

Redzich betont ihn ihrem Aufsatz, dass die detaillierte Schilderung von Anfortas' Verwundung und seinen Schmerzen von besonderer Bedeutung seien. Schließlich könne man nur in sehr wenigen Werken der mittelalterlichen Literatur eine solch genaue Beschreibung der schmerzvollen Qualen einer literarischen Figur beobachten. Zumeist wird zwar von Kämpfen und Verletzungen berichtet, die Schmerzen, die mit den oft sehr großen Wunden einhergehen, bleiben jedoch häufig unerwähnt. Anders ist es nun im Parzival. Denn Anfortas' Wunde „stigmatisiert den König in gleicher Weise, wie sie ihn identifiziert. Sie steht wie eine Chiffre für seine Geschichte [...]“.[13] So wird etwa auch berichtet, welche Maßnahmen Anfortas vornimmt, um seine Schmerzen erträglicher zu machen. Zudem wird sein Leiden genau geschildert, etwa indem beschrieben wird, wie er vor Schmerzen schreit (789,13). In der früheren Forschung wurde seine Verletzung häufig „vor dem Horizont christlicher Allegorese“[14] gedeutet. So wird seine, durch die Verletzung bedingte, gebeugte Haltung unter Bezugnahme auf die Lehren Bernhards von Clairvaux', als Darstellung seiner Sündhaftigkeit verstanden. Dem entgegen stehen in der neueren Forschung vielmehr die Arzneien und Therapien, welche dem Gralkönig zu einer Besserung verhelfen sollen, im Fokus. Außerdem wird auch dem Zusammenhang von Astrologie und periodischer Verschlechterung des Zustands von Anfortas großes Interesse beigemessen. In anderen Schriften wird die Erlösung des Gralkönigs, die häufig als Gnade Gottes verstanden wird, hervorgehoben. So konstatiert etwa Barbara Haupt, dass „gerade an der göttlich-wunderbaren Heilung des Anfortas'“[15] ersichtlich werden würde, „welche Kraft Wolfram der menschlichen Fähigkeit zu Glauben und Vertrauen zusprechen würde“.[16] Redzich untersucht in ihrer Schrift ferner, ob und in welcher Art und Weise Wolfram Gedankengut des Kirchenvaters Augustin, insbesondere dessen Schrift Vom Gottesstaat aufnimmt. So sieht sie Parallelen zwischen den Schmerzen Anfortas und den Reflexionen Augustins zum Thema Schmerz. Nach Augustin ist der Schmerz eine Grundbedingung menschlicher Existenz. Außerdem ist er Merkmal der Strafe Gottes, die auf die Erbsünde zurückgeführt werden kann. „Augustin betrachtet das irdische Leben in seiner Gesamtheit als Strafe, die ihren adäquaten Ausdruck in der Omnipräsenz des Schmerzes findet“.[17] Nach Ansicht des Kirchenvaters ist es überheblich, hochmütig, die Angemessenheit und Dauer einer von Gott auferlegten Bestrafung beurteilen zu wollen. Dies zeuge von mangelnder Vernunft und führe zu einer tieferen Verstrickung in die Schuld.[18] Eine Übertragung dieser Überlegung Augustins könnte im Parzival beobachtet werden, denn bei Parzivals erstem Besuch in Munsalvaesche kommt es zu keiner Erlösung des Gralkönigs. Dies liegt womöglich daran, dass Anfortas sehnlich darauf gehofft hat, erlöst zu werden und die Dauer der Bestrafung angezweifelt hat. Folglich hat Parzival die ersehnte Frage nicht gestellt.

Neudeck betrachtet Wolframs Parzival in erster Linie als einen Sippenroman und betont die defizitären Strukturen, die in den beiden Dynastien, dem Artushof und der Gralsgesellschaft vorzufinden sind. Die Herrschaftsstrukturen werden durch verschiedene Faktoren erschüttert: Dies ist zum einen die Kastration des Oberhaupts der Gesellschaft, zum anderen die Tatsache, dass die Sippenoberhäupter selbst gegen die Gesetze verstoßen würden. So können Anfortas als auch Artus, die eigentlich für die Einhaltung des Regelkodex sorgen sollten, diesem selbst nicht gerecht werden. So verstößt Artus "fundamental gegen die Ordnungs- und Regelsysteme"[19] der eigenen Gesellschaft, indem er eine Mitschuld am Tod des Vetters Ither trägt. Eine Maßregelung eines derartigen Übertritts würde stets nicht nur an einem Individuum erfolgen, sondern auch die Sippe als ganzes würde bestraft werden und deren Existenz sei nicht mehr gesichert.[20] Darüber hinaus konstatiert Neudeck, dass Anfortas' Verwundung nicht nur zu einer "gestörte Sippenkontinuität",[21] führe, sondern sie mache darüber hinaus "auf den krisenhaften Zustand der Männerwelt des Adels"[22] aufmerksam. Somit könne im Parzival eine "literarische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gewalt in einer adligen Gesellschaft"[23] beobachtet werden. Schließlich würden "die Bindungen und Verpflichtungen, die sich aus dem umfassenden Verwandtschaftsgefüge des Werks ergeben, immer wieder mit gewalthaft-ritterlichem Handeln in Konflikt"[24] geraten.

Quellenverzeichnis

  • Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004.
  • Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin 2009.
  • Haupt, Barbara: Heilung von Wunden, in: An den Grenzen höfischer Literatur, hg. von. Gert Kaiser, München 1991, S. 77–113.
  • Neudeck, Otto: Das Stigma des Anfortas. Zum Paradoxon der Gewalt in Wolframs „Parzival“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, hg. von Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Tübingen 1994 (19) Heft 2, S. 52–75.
  • Redzich, Carola: Der Schmerz des Anfortas: Zu Wolframs poetischer Inszenierung eines augustinischen Theorems, in: Schmerz in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Marie Rasmussen, Arthur Groos, Volker Mertens u.a., Göttingen 2010. (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 4), S. 213–241.
  • Thomasek, Thomas: Kranke Körper in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur. Eine Skizze zur Krankheitsmotivik, in: Ridder, Klaus (Hg.)/Langer, Otto (Hg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin: Weidler 2002.
  1. Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. Bumke 2004: S. 66
  3. Tomasek 2002: 111
  4. Tomasek 2002: 111
  5. Tomasek 2002: 111
  6. Bumke 2004: S.92
  7. Dallapiazza 2009: vgl. S. 77
  8. Neudeck 1994: vgl. S. 56
  9. Neudeck 1994: S. 55
  10. Bumke 2004: Vgl. 105
  11. Bumke 2004: S. 65
  12. Bumke 2004: Vgl. S. 91f.
  13. Redzich 2010: S. 215
  14. Redzich 2010: ebd.
  15. Haupt 1991: S. 112
  16. Haupt 1991, S. 112
  17. Redzich 2010: S. 219
  18. Redzich 2010: S. 226
  19. Neudeck 1994: S. 61
  20. Neudeck 1994: vgl. ebd.
  21. Neudeck 1994: S. 56
  22. Neudeck 1994: ebd.
  23. Neudeck 1994: ebd.
  24. Neudeck 1994: ebd.