1010-1028: Ersterwähnung eines Astrolabs im lothringischen Raum in einem Brief Radulfs von Lüttich: Unterschied zwischen den Versionen

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[§2] Radulfs Schreiben an den Kölner Magister Ragimbold, welches das hier zu behandelnde Exzerpt beinhaltet, ist Teil einer aus insgesamt neun Stücken bestehenden Briefsammlung, die in vier Handschriften überliefert ist, von denen ''Paris, BN, ms. lat. 6401'' (Brief 1–8) und ''Paris, BN, ms. lat. 7377 C'' (Brief 4 und 9) die wichtigsten darstellen.<ref name="ftn4">Beschreibung der Handschriften bei Tannery-Clerval, ''Correspondance'', S. 488–491; Folkerts, ''„Boethius“'', S. 5–7; Borst, ''Zahlenkampfspiel'', S. 100–101, 308–309. Zu ''Ms. 6401'' vgl. die Bibliographie bei Gneuss und Lapidge, ''Manuscripts'', S. 639–640. Digitalisate von ''Ms. 6401'' und ''Ms. 7377 C'' unter: [https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b90671348 https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b90671348] und [https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9072623x/f4.item https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9072623x/f4.item]. </ref> Joanna Story zufolge entstand ''Ms. lat. 6401'' Ende des 10. Jahrhunderts in der englischen Benediktinerabtei Ramsey oder in der französischen Benediktinerabtei Fleury durch die Hand eines mit der Ramseyer Schrift vertrauten Schreibers. Anfang des 11. Jahrhunderts wurde der Codex in Fleury um die Briefe Radulfs und Ragimbolds und weitere Texte erweitert. Die Abschrift erfolgte also nur wenige Jahre nach dem Briefwechsel.<ref name="ftn5">Story, Boethius, S. 256–257.</ref>  
[§2] Radulfs Schreiben an den Kölner Magister Ragimbold, welches das hier zu behandelnde Exzerpt beinhaltet, ist Teil einer aus insgesamt neun Stücken bestehenden Briefsammlung, die in vier Handschriften überliefert ist, von denen ''Paris, BN, ms. lat. 6401'' (Brief 1–8) und ''Paris, BN, ms. lat. 7377 C'' (Brief 4 und 9) die wichtigsten darstellen.<ref name="ftn4">Beschreibung der Handschriften bei Tannery-Clerval, ''Correspondance'', S. 488–491; Folkerts, ''„Boethius“'', S. 5–7; Borst, ''Zahlenkampfspiel'', S. 100–101, 308–309. Zu ''Ms. 6401'' vgl. die Bibliographie bei Gneuss und Lapidge, ''Manuscripts'', S. 639–640. Digitalisate von ''Ms. 6401'' und ''Ms. 7377 C'' unter: [https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b90671348 https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b90671348] und [https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9072623x/f4.item https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9072623x/f4.item]. </ref> Joanna Story zufolge entstand ''Ms. lat. 6401'' Ende des 10. Jahrhunderts in der englischen Benediktinerabtei Ramsey oder in der französischen Benediktinerabtei Fleury durch die Hand eines mit der Ramseyer Schrift vertrauten Schreibers. Anfang des 11. Jahrhunderts wurde der Codex in Fleury um die Briefe Radulfs und Ragimbolds und weitere Texte erweitert. Die Abschrift erfolgte also nur wenige Jahre nach dem Briefwechsel.<ref name="ftn5">Story, Boethius, S. 256–257.</ref>  


[§3] Vier Briefe stammen von Radulf, vier von seinem Briefpartner Ragimbold von Köln. Den neunten Brief eines Mönchs B. an Ragimbold konnte die Forschung noch keinem Verfasser sicher zuordnen. Die Abfolge der Stücke gestaltet sich dabei wie folgt:<ref name="ftn6">Manitius, ''Geschichte'', S. 780, orientiert sich bei seiner Zählung offensichtlich an der Anordnung der Briefe in Ms. 6401. Diese Zählung wird hier übernommen. </ref>  
[§3] Vier Briefe stammen von Radulf, vier von seinem Briefpartner Ragimbold von Köln. Den neunten Brief eines Mönchs B. an Ragimbold konnte die Forschung noch keinem Verfasser sicher zuordnen. Die Abfolge der Stücke gestaltet sich dabei wie folgt:<ref name="ftn6">Manitius, ''Geschichte'', S. 780, orientiert sich bei seiner Zählung offensichtlich an der Anordnung der Briefe in ''Ms. 6401''. Diese Zählung wird hier übernommen. </ref>  


Brief 1: Radulf antwortet auf einen nicht erhaltenen Brief Ragimbolds zur Summe der Winkel im Dreieck.  
Brief 1: Radulf antwortet auf einen nicht erhaltenen Brief Ragimbolds zur Summe der Winkel im Dreieck.  
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[§13] Das Astrolab ist ein zweidimensionales Modell des Himmels in Bezug auf den Horizont eines bestimmten Ortes zu einem beliebigen Zeitpunkt.<ref name="ftn37">Eine gute Einführung bieten North, Astrolabe; Stautz, ''Astrolabiensammlungen'', S. 99–122.</ref> In eine Grundscheibe (''mater'') werden eine oder mehrere Ortsscheiben eingelegt, die für bestimmte geographische Breiten stehen. Darüber befindet sich eine drehbare, durchbrochene Scheibe (''rete''), die ein Netz (Arabisch: ''ʿankabūt'') der Positionen der wichtigsten Fixsterne und den Tierkreis wiedergibt. Mithilfe eines Alhidade (Arabisch: ''al-ʿiḍāda'') genannten, drehbaren Zeigers werden Skalen und Positionspunkte, die auf der Rückseite eingraviert werden, zugeordnet. Mit dem Instrument lassen sich u. a. Auf- und Untergangszeiten von Sternen und Tageszeiten beobachten und ermitteln.  
[§13] Das Astrolab ist ein zweidimensionales Modell des Himmels in Bezug auf den Horizont eines bestimmten Ortes zu einem beliebigen Zeitpunkt.<ref name="ftn37">Eine gute Einführung bieten North, Astrolabe; Stautz, ''Astrolabiensammlungen'', S. 99–122.</ref> In eine Grundscheibe (''mater'') werden eine oder mehrere Ortsscheiben eingelegt, die für bestimmte geographische Breiten stehen. Darüber befindet sich eine drehbare, durchbrochene Scheibe (''rete''), die ein Netz (Arabisch: ''ʿankabūt'') der Positionen der wichtigsten Fixsterne und den Tierkreis wiedergibt. Mithilfe eines Alhidade (Arabisch: ''al-ʿiḍāda'') genannten, drehbaren Zeigers werden Skalen und Positionspunkte, die auf der Rückseite eingraviert werden, zugeordnet. Mit dem Instrument lassen sich u. a. Auf- und Untergangszeiten von Sternen und Tageszeiten beobachten und ermitteln.  


[§14] Bereits Ptolemaios<ref name="ftn38">Toomer, Ptolemy.</ref> (gest. ca. 170) erwähnt im ''Almagest'' ein ''astrolabon'' (''ἀστρολάβον'') genanntes Gerät, wobei es sich aber eher um eine Armillarsphäre, einem Unterrichtszwecken dienendem Modell des Sonnensystems mit die Planetensphären symbolisierenden Ringen, gehandelt haben dürfte.<ref name="ftn39">Stückelberger, Ptolemaios. Zur älteren Forschungsmeinung, die darunter noch ein Astrolab verstand, vgl. u. a. Neugebauer, History, S. 240. Eine kurze Beschreibung mit Abbildung einer Armillarsphäre in: ''Ioannes Philoponus, De usu astrolabii eiusque constructione'', herausgegeben, übersetzt und erläutert von Alfred Stückelberger, S. 66–67.</ref> Frühe Abhandlungen zum Astrolab stammen vom alexandrinischen Gelehrten Johannes Philoponos (gest. 540)<ref name="ftn40">''Ioannes Philoponus, De usu astrolabii eiusque constructione'', herausgegeben, übersetzt und erläutert von Alfred Stückelberger.</ref> und dem syrischen Bischof Severus Sebokht (gest. 666–667).<ref name="ftn41">Zu seiner Biographie vgl. ''McMahon, Severus Sebokht. Seine unvollständig erhaltene Abhandlung bei Nau, Traité.''</ref> Die ersten bekannten arabischen Astrolabtraktate verfassten in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ʿAlī b. ʿIsā (fl. um 215/830)<ref name="ftn42">Bolt, ʿAlī, S. 34. Eine Edition seines ''Kitāb al-ʿamal bi-l-aṣṭurlāb'' bei Cheikho, Kitāb. Eine deutsche Übersetzung bietet Schoy, Gebrauch. Mindestens ein weiteres ʿAlī b. ʿIsā zugewiesenes Traktat ist noch unediert. Ich danke Petra Schmidl (Erlangen) für Literaturhinweise zu ʿAlī b. ʿIsā und für die Zusendung ihrer Edition.</ref> und Muḥammad b. Mūsā al-Ḫwārizmī<ref name="ftn43">Zu seiner Biographie vgl. Toomer, Al‐Khwārizmī. Eine Edition seines Astrolabtraktats mit englischer Übersetzung bietet Charette-Schmidl, Astronomy, S. 115–124, 140–150. </ref> (gest. ca. 235/850).<ref name="ftn44">Eine Liste wichtiger griechischer, syrischer, arabischer und lateinischer Astrolabtexte bietet Kunitzsch, Reception, S. 249–252.</ref> Einige von al-Ḫwārizmīs Arbeiten waren, zusammen mit anderen astronomischen Schriften aus dem islamischen Osten, spätestens im 10. Jahrhundert in al-Andalus bekannt.<ref name="ftn45">Juste, ''Alchandreana'', S. 5–6. Zu al-Ḫwārizmīs astronomischen Tafeln, die nur in der lateinischen Übersetzung einer andalusischen Version, nicht aber im arabischen Original, auf uns gekommen sind, vgl. King und Samsó, Handbooks, S. 33–35; jetzt auch Samsó, ''Sides'', S. 23, 688–708.</ref>
[§14] Bereits Ptolemaios<ref name="ftn38">Toomer, Ptolemy.</ref> (gest. ca. 170) erwähnt im ''Almagest'' ein ''astrolabon'' (''ἀστρολάβον'') genanntes Gerät, wobei es sich aber eher um eine Armillarsphäre, einem Unterrichtszwecken dienendem Modell des Sonnensystems mit die Planetensphären symbolisierenden Ringen, gehandelt haben dürfte.<ref name="ftn39">Stückelberger, Ptolemaios. Zur älteren Forschungsmeinung, die darunter noch ein Astrolab verstand, vgl. u. a. Neugebauer, History, S. 240. Eine kurze Beschreibung mit Abbildung einer Armillarsphäre in: ''Ioannes Philoponus, De usu astrolabii eiusque constructione'', herausgegeben, übersetzt und erläutert von Alfred Stückelberger, S. 66–67.</ref> Frühe Abhandlungen zum Astrolab stammen vom alexandrinischen Gelehrten Johannes Philoponos (gest. 540)<ref name="ftn40">''Ioannes Philoponus, De usu astrolabii eiusque constructione'', herausgegeben, übersetzt und erläutert von Alfred Stückelberger.</ref> und dem syrischen Bischof Severus Sebokht (gest. 666–667).<ref name="ftn41">Zu seiner Biographie vgl. McMahon, Severus Sebokht. Seine unvollständig erhaltene Abhandlung bei Nau, Traité.</ref> Die ersten bekannten arabischen Astrolabtraktate verfassten in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ʿAlī b. ʿIsā (fl. um 215/830)<ref name="ftn42">Bolt, ʿAlī, S. 34. Eine Edition seines ''Kitāb al-ʿamal bi-l-aṣṭurlāb'' bei Cheikho, Kitāb. Eine deutsche Übersetzung bietet Schoy, Gebrauch. Mindestens ein weiteres ʿAlī b. ʿIsā zugewiesenes Traktat ist noch unediert. Ich danke Petra Schmidl (Erlangen) für Literaturhinweise zu ʿAlī b. ʿIsā und für die Zusendung der Edition.</ref> und Muḥammad b. Mūsā al-Ḫwārizmī<ref name="ftn43">Zu seiner Biographie vgl. Toomer, Al‐Khwārizmī. Eine Edition seines Astrolabtraktats mit englischer Übersetzung bietet Charette-Schmidl, Astronomy, S. 115–124, 140–150. </ref> (gest. ca. 235/850).<ref name="ftn44">Eine Liste wichtiger griechischer, syrischer, arabischer und lateinischer Astrolabtexte bietet Kunitzsch, Reception, S. 249–252.</ref> Einige von al-Ḫwārizmīs Arbeiten waren, zusammen mit anderen astronomischen Schriften aus dem islamischen Osten, spätestens im 10. Jahrhundert in al-Andalus bekannt.<ref name="ftn45">Juste, ''Alchandreana'', S. 5–6. Zu al-Ḫwārizmīs astronomischen Tafeln, die nur in der lateinischen Übersetzung einer andalusischen Version, nicht aber im arabischen Original, auf uns gekommen sind, vgl. King und Samsó, Handbooks, S. 33–35; jetzt auch Samsó, ''Sides'', S. 23, 688–708.</ref>


[§15] Ende des 10. Jahrhunderts gelangte eine Sammlung von lateinischen Übersetzungen und Bearbeitungen arabischer Astrolabtexte und Abhandlungen zu weiteren astronomischen Instrumenten wahrscheinlich über Katalonien in den Raum nördlich der Pyrenäen. Sie wird in der Forschung zumeist als „Old Corpus“ bezeichnet.<ref name="ftn46">So z. B. Kunitzsch, Stars, S. 58. Burnett, King, S. 331 spricht von „Early Collection“; Juste, Hermann, S. 274 von „vetus corpus”. Unklar bleiben die Argumente für die abweichende Ansicht von Borst, ''Astrolab'', S. 42, der den Corpus auf „nicht allzulange vor 1050“ datiert. Vgl. zur Kritik an Borsts Thesen North, Review, S. 636, der urteilt: „Borst’s selection of authorities is somewhat arbitrary (…) he overlooks some important recent literature.” Den aktuellen Forschungsstand fasst jetzt vorzüglich zusammen: Samsó, ''Sides'', S. 373–399. Nicht berücksichtigt werden kann hier die als ''Alchandreana'' bezeichnete Sammlung astrologischer Texte, die etwa zur selben Zeit im französischen Limousin entstand. Vgl. zu dieser Juste, ''Alchandreana''.</ref> Die meisten dieser Texte finden sich in einem aus dem Kloster Santa Maria de Ripoll stammenden Codex.<ref name="ftn47">Der Großteil der Texte ediert bei Millás, ''Assaig'', S. 271–335. Zwar stützte sich Millás auf viele Handschriften, doch bietet seine Edition oft fehlerhafte Lesarten. Vgl. zur Beurteilung seiner Edition Kunitzsch, Glossar, S. 466; zu den unkorrekten Lesarten bspw. Schramm, Astrolabtext, S. 212, 214. Bergmann, Traktat, S. 89, nimmt Lothringen als Entstehungsort des Ripoller Codex an. Ein Digitalisat des Manuskripts unter: [http://pares.mcu.es/ParesBusquedas20/catalogo/show/1994851 http://pares.mcu.es/ParesBusquedas20/catalogo/show/1994851] </ref>
[§15] Ende des 10. Jahrhunderts gelangte eine Sammlung von lateinischen Übersetzungen und Bearbeitungen arabischer Astrolabtexte und Abhandlungen zu weiteren astronomischen Instrumenten wahrscheinlich über Katalonien in den Raum nördlich der Pyrenäen. Sie wird in der Forschung zumeist als „Old Corpus“ bezeichnet.<ref name="ftn46">So z. B. Kunitzsch, Stars, S. 58. Burnett, King, S. 331 spricht von „Early Collection“; Juste, Hermann, S. 274 von „vetus corpus”. Unklar bleiben die Argumente für die abweichende Ansicht von Borst, ''Astrolab'', S. 42, der den Corpus auf „nicht allzulange vor 1050“ datiert. Vgl. zur Kritik an Borsts Thesen North, Review, S. 636, der urteilt: „Borst’s selection of authorities is somewhat arbitrary (…) he overlooks some important recent literature.” Den aktuellen Forschungsstand fasst jetzt vorzüglich zusammen: Samsó, ''Sides'', S. 373–399. Nicht berücksichtigt werden kann hier die als ''Alchandreana'' bezeichnete Sammlung astrologischer Texte, die etwa zur selben Zeit im französischen Limousin entstand. Vgl. zu dieser Juste, ''Alchandreana''.</ref> Die meisten dieser Texte finden sich in einem aus dem Kloster Santa Maria de Ripoll stammenden Codex.<ref name="ftn47">Der Großteil der Texte ediert bei Millás, ''Assaig'', S. 271–335. Zwar stützte sich Millás auf viele Handschriften, doch bietet seine Edition oft fehlerhafte Lesarten. Vgl. zur Beurteilung seiner Edition Kunitzsch, Glossar, S. 466; zu den unkorrekten Lesarten bspw. Schramm, Astrolabtext, S. 212, 214. Bergmann, Traktat, S. 89, nimmt Lothringen als Entstehungsort des Ripoller Codex an. Ein Digitalisat des Manuskripts unter: [http://pares.mcu.es/ParesBusquedas20/catalogo/show/1994851 http://pares.mcu.es/ParesBusquedas20/catalogo/show/1994851] </ref>
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[§20] Radulfs Brief beinhaltet keinerlei Informationen zu Form und Aussehen des Astrolabs. Jedoch erlaubt der Rückgriff auf Instrumente, ihre mögliche Verwendung und ihre Darstellung im 11. Jahrhundert Überlegungen darüber anzustellen, wie Radulfs Astrolab ausgesehen haben könnte. 1962 beschrieb Marcel Destombes das sogenannte „karolingische Astrolab“, ein Instrument „katalanischer Provenienz, dass Ende des 10. Jahrhunderts konstruiert wurde.“ Es hatte bereits mehrere Ortsscheiben, die sich noch an den ptolemäischen Klimata orientieren, während die meisten ostarabischen Astrolabien schon Scheiben für bestimmte Breitengrade besaßen.<ref name="ftn72">Vgl. zum Begriff „Klimata“ Borrelli, ''Aspects'', S. 41–42. Grundlage der Beschäftigung mit dem Thema bildet immer noch Honigmann, ''Klimata''.</ref> David A. King spricht von westislamischen, also andalusischen Einflüssen,<ref name="ftn73">King, European Astrolabe, S. 365.</ref> betont aber, dass die Inschrift ROMA ET FRANCIA auf einer der Scheiben auf einen lateinischen Ursprung des Astrolabs verweist.<ref name="ftn74">King, European Astrolabe, S. 374.</ref> Spuren eines weiteren zeitgenössischen Astrolabs findet man in der Handschrift ''BN Paris, ms. lat. 7412''.<ref name="ftn75">Die folgenden Ausführungen nach Kunitzsch, ''Traces'', S. 113−120.</ref> Das Manuskript bietet den Text der ''Sententie astrolabii'' und verwandte Texte, seine Entstehungszeit fällt in die Mitte des 11. Jahrhunderts. Die letzten neun Seiten zeigen Zeichnungen eines kompletten Astrolabs mit Rete und Vorder- und Rückseite der Mater und der Ortsscheiben für die sieben Klimata. Der Kopist hatte anscheinend ein westarabisches Astrolab vor sich und gab die arabischen Inschriften äußerst genau wieder. Die Rückseite der Mater nennt sogar den Namen des Astrolabbauers in kufischer Schrift: ''ʿamal Ḫalaf bin al-Muʿāḍ'' (hergestellt von Ḫalaf b. al-Muʿāḍ). Radulfs Astrolab dürfte also den andalusischen Instrumenten nachempfunden gewesen sein, oder zumindest viele ihrer Elemente übernommen haben. Die Tatsache, dass sich Radulf und Ragimbold vornehmlich über geometrische Fragen austauschten und dass Radulfs Brief in Sammelhandschriften wie ''Paris, BN, ms. lat. 7377 C'' neben geometrischen Abhandlungen wie Gerberts ''Geometria'' und der ''Geometria incerti auctoris'' zu finden ist, verleitete Mary Catherine Welborn zu der Annahme, es habe sich bei Radulfs Instrument um ein arabisches Quadrantastrolab gehandelt, das v. a. der Landvermessung gedient habe.<ref name="ftn76">Welborn, Lotharingia, S. 191–192.</ref> Spätere Forschungen haben allerdings gezeigt, dass Quadrantastrolabien selbst in arabischen Traktaten frühestens im 12. Jahrhundert nachweisbar sind.<ref name="ftn77">King, Remarks, S. 17–20.</ref>
[§20] Radulfs Brief beinhaltet keinerlei Informationen zu Form und Aussehen des Astrolabs. Jedoch erlaubt der Rückgriff auf Instrumente, ihre mögliche Verwendung und ihre Darstellung im 11. Jahrhundert Überlegungen darüber anzustellen, wie Radulfs Astrolab ausgesehen haben könnte. 1962 beschrieb Marcel Destombes das sogenannte „karolingische Astrolab“, ein Instrument „katalanischer Provenienz, dass Ende des 10. Jahrhunderts konstruiert wurde.“ Es hatte bereits mehrere Ortsscheiben, die sich noch an den ptolemäischen Klimata orientieren, während die meisten ostarabischen Astrolabien schon Scheiben für bestimmte Breitengrade besaßen.<ref name="ftn72">Vgl. zum Begriff „Klimata“ Borrelli, ''Aspects'', S. 41–42. Grundlage der Beschäftigung mit dem Thema bildet immer noch Honigmann, ''Klimata''.</ref> David A. King spricht von westislamischen, also andalusischen Einflüssen,<ref name="ftn73">King, European Astrolabe, S. 365.</ref> betont aber, dass die Inschrift ROMA ET FRANCIA auf einer der Scheiben auf einen lateinischen Ursprung des Astrolabs verweist.<ref name="ftn74">King, European Astrolabe, S. 374.</ref> Spuren eines weiteren zeitgenössischen Astrolabs findet man in der Handschrift ''BN Paris, ms. lat. 7412''.<ref name="ftn75">Die folgenden Ausführungen nach Kunitzsch, ''Traces'', S. 113−120.</ref> Das Manuskript bietet den Text der ''Sententie astrolabii'' und verwandte Texte, seine Entstehungszeit fällt in die Mitte des 11. Jahrhunderts. Die letzten neun Seiten zeigen Zeichnungen eines kompletten Astrolabs mit Rete und Vorder- und Rückseite der Mater und der Ortsscheiben für die sieben Klimata. Der Kopist hatte anscheinend ein westarabisches Astrolab vor sich und gab die arabischen Inschriften äußerst genau wieder. Die Rückseite der Mater nennt sogar den Namen des Astrolabbauers in kufischer Schrift: ''ʿamal Ḫalaf bin al-Muʿāḍ'' (hergestellt von Ḫalaf b. al-Muʿāḍ). Radulfs Astrolab dürfte also den andalusischen Instrumenten nachempfunden gewesen sein, oder zumindest viele ihrer Elemente übernommen haben. Die Tatsache, dass sich Radulf und Ragimbold vornehmlich über geometrische Fragen austauschten und dass Radulfs Brief in Sammelhandschriften wie ''Paris, BN, ms. lat. 7377 C'' neben geometrischen Abhandlungen wie Gerberts ''Geometria'' und der ''Geometria incerti auctoris'' zu finden ist, verleitete Mary Catherine Welborn zu der Annahme, es habe sich bei Radulfs Instrument um ein arabisches Quadrantastrolab gehandelt, das v. a. der Landvermessung gedient habe.<ref name="ftn76">Welborn, Lotharingia, S. 191–192.</ref> Spätere Forschungen haben allerdings gezeigt, dass Quadrantastrolabien selbst in arabischen Traktaten frühestens im 12. Jahrhundert nachweisbar sind.<ref name="ftn77">King, Remarks, S. 17–20.</ref>


[§21] Anhand von Radulfs kurzer Notiz lässt sich zwar nicht sagen, ob er sich über den arabischen Ursprung des Astrolabs im Klaren war. Die Incipits und Kapitelüberschriften der zeitgenössischen Astrolabtraktate aus dem 11. Jahrhundert verweisen jedoch mehrheitlich auf arabische Quellen und arabisches Vokabular.<ref name="ftn78">Zur Datierung der folgenden Handschriften vgl. Kunitzsch, Glossar, S. 477.</ref> Exemplarisch genannt seien hier ''Paris 11248''<ref name="ftn79">MS Paris 11248 fol. 1r: „In nomine domini incipit liber de labore vel scientia astrolapsus et horologii interpretatus de Arabico in Latinam“. Vgl. Millás, ''Assaig'', S. 275; Schramm, ''Astrolabtext'', S. 209. Ein Digitalisat unter: [https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b100344762/f2.item https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b100344762/f2.item]. </ref>, ''Leiden, Scalig. 38''<ref name="ftn80">Leiden, Scalig. 38 fol. 44r: „De vocabulis latinis et arabicis stellarum et formationibus earundem.“ Ein Digitalisat unter: [https://digitalcollections.universiteitleiden.nl/view/item/882100 https://digitalcollections.universiteitleiden.nl/view/item/882100]</ref> und ''Vat. Reg. lat. 598''.<ref name="ftn81">Vat. Reg. lat. 598 fol. 115r: „Incipiunt interpretationes arabicorum nominum astrolabii“; fol. 116r: „Incipit liber de scientia vel labore astrolapsus de arabico in latinum translatus.“ Eine detaillierte Beschreibung des Manuskripts bei Bergmann, Traktat, S. 95, FN 189, mit Korrekturen bei Kunitzsch, Glossar, S. 469, FN 26a. Das Digitalisat unter: [https://digi.vatlib.it/view/MSS_Reg.lat.598].</ref> Neben der Datierung erlaubt auch die räumliche Einordnung – ''Leiden, Scalig. 38'' und ''Vat. Reg. lat. 598'' entstanden wahrscheinlich in Lothringen – eine mögliche Verbindung zu Radulfs Personenkreis herzustellen.<ref name="ftn82">Bergmann, Traktat, S. 89, 93.</ref> Der Handschriftenbefund verdeutlicht also: Die Tatsache, dass das Astrolab aus der arabisch-islamischen Sphäre in die lateinischsprachige Welt gelangt war, gehörte zum Allgemeingut in Radulfs gelehrten Kreisen.  
[§21] Anhand von Radulfs kurzer Notiz lässt sich zwar nicht sagen, ob er sich über den arabischen Ursprung des Astrolabs im Klaren war. Die Incipits und Kapitelüberschriften der zeitgenössischen Astrolabtraktate aus dem 11. Jahrhundert verweisen jedoch mehrheitlich auf arabische Quellen und arabisches Vokabular.<ref name="ftn78">Zur Datierung der folgenden Handschriften vgl. Kunitzsch, Glossar, S. 477.</ref> Exemplarisch genannt seien hier ''Paris 11248''<ref name="ftn79">MS Paris 11248 fol. 1r: „In nomine domini incipit liber de labore vel scientia astrolapsus et horologii interpretatus de Arabico in Latinam“. Vgl. Millás, ''Assaig'', S. 275; Schramm, ''Astrolabtext'', S. 209. Ein Digitalisat unter: [https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b100344762/f2.item https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b100344762/f2.item]. </ref>, ''Leiden, Scalig. 38''<ref name="ftn80">Leiden, Scalig. 38 fol. 44r: „De vocabulis latinis et arabicis stellarum et formationibus earundem.“ Ein Digitalisat unter: [https://digitalcollections.universiteitleiden.nl/view/item/882100 https://digitalcollections.universiteitleiden.nl/view/item/882100]</ref> und ''Vat. Reg. lat. 598''.<ref name="ftn81">Vat. Reg. lat. 598 fol. 115r: „Incipiunt interpretationes arabicorum nominum astrolabii“; fol. 116r: „Incipit liber de scientia vel labore astrolapsus de arabico in latinum translatus.“ Eine detaillierte Beschreibung des Manuskripts bei Bergmann, Traktat, S. 95, FN 189, mit Korrekturen bei Kunitzsch, Glossar, S. 469, FN 26a. Das Digitalisat unter: [https://digi.vatlib.it/view/MSS_Reg.lat.598 https://digi.vatlib.it/view/MSS_Reg.lat.598].</ref> Neben der Datierung erlaubt auch die räumliche Einordnung – ''Leiden, Scalig. 38'' und ''Vat. Reg. lat. 598'' entstanden wahrscheinlich in Lothringen – eine mögliche Verbindung zu Radulfs Personenkreis herzustellen.<ref name="ftn82">Bergmann, Traktat, S. 89, 93.</ref> Der Handschriftenbefund verdeutlicht also: Die Tatsache, dass das Astrolab aus der arabisch-islamischen Sphäre in die lateinischsprachige Welt gelangt war, gehörte zum Allgemeingut in Radulfs gelehrten Kreisen.  


[§22] Stephen C. McCluskey hat die Frage aufgeworfen, ob Radulf mit den geringen mathematischen Kenntnissen, die sein Briefwechsel mit Ragimbold erkennen lässt, in der Lage gewesen sein kann, ein Astrolab nach einem anderen Exemplar zu bauen.<ref name="ftn83">McCluskey, ''Astronomies'', S. 178.</ref> Zwar bejaht er die Frage, bemerkt jedoch einschränkend, dass Radulf die Theorie der stereographischen Projektion, die dem Astrolab zugrunde liegt, nicht verstanden haben kann, da Ptolemaios’ ''Planisphaerium'', das dieses Verfahren erklärt, erst 1143 durch Hermann von Kärnten (fl. ca. 1138–1143) ins Lateinische übersetzt worden sei.<ref name="ftn84">Zu Hermann, der in den Quellen auch als ''Hermannus Dalmata'' und in Abgrenzung zu Hermann von Reichenau als ''Hermannus Secundus'' begegnet und auch an der ersten lateinischen Koranübersetzung beteiligt war, vgl. Burnett, Hermann. Zu ihm zugeschriebenen Werken immer noch, wenn auch teils überholt, Burnett, Arabic.</ref> McCluskey ist dabei allerdings entgangen, dass Kunitzsch Fragmente einer älteren Übersetzung des ''Planisphaerium'' in ''BN, ms. lat. 7412'' bekanntgemacht hat.<ref name="ftn85">Kunitzsch, Fragments.</ref> Dass Radulf den Text kannte, muss also zumindest erwogen werden.
[§22] Stephen C. McCluskey hat die Frage aufgeworfen, ob Radulf mit den geringen mathematischen Kenntnissen, die sein Briefwechsel mit Ragimbold erkennen lässt, in der Lage gewesen sein kann, ein Astrolab nach einem anderen Exemplar zu bauen.<ref name="ftn83">McCluskey, ''Astronomies'', S. 178.</ref> Zwar bejaht er die Frage, bemerkt jedoch einschränkend, dass Radulf die Theorie der stereographischen Projektion, die dem Astrolab zugrunde liegt, nicht verstanden haben kann, da Ptolemaios’ ''Planisphaerium'', das dieses Verfahren erklärt, erst 1143 durch Hermann von Kärnten (fl. ca. 1138–1143) ins Lateinische übersetzt worden sei.<ref name="ftn84">Zu Hermann, der in den Quellen auch als ''Hermannus Dalmata'' und in Abgrenzung zu Hermann von Reichenau als ''Hermannus Secundus'' begegnet und auch an der ersten lateinischen Koranübersetzung beteiligt war, vgl. Burnett, Hermann. Zu ihm zugeschriebenen Werken immer noch, wenn auch teils überholt, Burnett, Arabic.</ref> McCluskey ist dabei allerdings entgangen, dass Kunitzsch Fragmente einer älteren Übersetzung des ''Planisphaerium'' in ''BN, ms. lat. 7412'' bekanntgemacht hat.<ref name="ftn85">Kunitzsch, Fragments.</ref> Dass Radulf den Text kannte, muss also zumindest erwogen werden.
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[§23] In der jüngsten Forschung ist Radulfs Brief zusammen mit Fulberts Eintragungen als Indiz für einen Transfer des Astrolabwissens im Raum nördlich der Pyrenäen gedeutet worden, der neben den Astrolabtraktaten auch mithilfe von mündlicher Unterweisung, Zeichnungen und Demonstration der Instrumente erfolgte.<ref name="ftn86">Borrelli, ''Aspects'', S. 21, 99–100, 112–113.</ref> In diesem Sinne ist Radulfs Bemerkung zu verstehen, dass es Ragimbold nicht viel bringen werde, dass Astrolabium lediglich zu sehen. Der Briefwechsel wird auch als Beispiel für den Wissenstransfer entlang des Rheins im 11. Jahrhundert herangezogen<ref name="ftn87">Heidrich, Wissenstransfer, S. 47.</ref> und zeigt, dass ein Astrolab aufgrund seiner Seltenheit ein lohnendes Reiseziel sein konnte.<ref name="ftn88">Schechner, Medieval Travel, S. 207–208.</ref>
[§23] In der jüngsten Forschung ist Radulfs Brief zusammen mit Fulberts Eintragungen als Indiz für einen Transfer des Astrolabwissens im Raum nördlich der Pyrenäen gedeutet worden, der neben den Astrolabtraktaten auch mithilfe von mündlicher Unterweisung, Zeichnungen und Demonstration der Instrumente erfolgte.<ref name="ftn86">Borrelli, ''Aspects'', S. 21, 99–100, 112–113.</ref> In diesem Sinne ist Radulfs Bemerkung zu verstehen, dass es Ragimbold nicht viel bringen werde, dass Astrolabium lediglich zu sehen. Der Briefwechsel wird auch als Beispiel für den Wissenstransfer entlang des Rheins im 11. Jahrhundert herangezogen<ref name="ftn87">Heidrich, Wissenstransfer, S. 47.</ref> und zeigt, dass ein Astrolab aufgrund seiner Seltenheit ein lohnendes Reiseziel sein konnte.<ref name="ftn88">Schechner, Medieval Travel, S. 207–208.</ref>


[§24] Wie in §2 gezeigt, wurden die Briefe schon bald nach ihrer Abfassung verbreitet und rezipiert. Die Kompilation der wichtigsten Überlieferungsträger erlaubt hier einige wichtige Rückschlüsse: Der ''Codex Paris, BN, ms. lat. 7377 C'' etwa beginnt mit der Abhandlung ''De quadratura circuli'' aus der Feder Francos von Lüttich (gest. ca. 1083), der eine Lösung für das von Radulf und Ragimbold diskutierte Problem der Quadratur des Kreises bietet.<ref name="ftn89">Borst, ''Zahlenkampfspiel'', S. 100–101, 308–309. Eine moderne Edition des Traktats bei Folkerts und Smeur, Treatise. Zu Francos spärlichen Lebensdaten vgl. ebd., S. 230.</ref> Franco verweist im Traktat u. a. auf Ragimbold.<ref name="ftn90">Franco Leodiensis, De quadratura circuli, ed. Menso Folkerts und A.J.E.M. Smeur, in: Folkerts und Smeur, Treatise, S. 76: „[…] quamquam doctissimus vir Regimboldus asserat in latere dupli quincuncem et latus simplicis contineri. Quod et ipse et cum Gerberto noster Racechinus fatetur. […] Hoc igitur est diagonium propositi quadrati quantam ad magistri Regimboldi sententiam.“</ref> Zwei der Briefe Ragimbolds folgen in dieser Sammelhandschrift – die mehrere mathematische Schriften aus dem Umfeld Gerberts von Aurillac und seiner Schüler versammelt – gleich auf Francos Traktat und zeigen so, dass der Kompilator sich des Austausches zwischen Quelle und Rezipient bewusst gewesen ist.  
[§24] Wie in §2 gezeigt, wurden die Briefe schon bald nach ihrer Abfassung verbreitet und rezipiert. Die Kompilation der wichtigsten Überlieferungsträger erlaubt hier einige wichtige Rückschlüsse: Der ''Codex Paris, BN, ms. lat. 7377 C'' etwa beginnt mit der Abhandlung ''De quadratura circuli'' aus der Feder Francos von Lüttich (gest. ca. 1083), der eine Lösung für das von Radulf und Ragimbold diskutierte Problem der Quadratur des Kreises bietet.<ref name="ftn89">Borst, ''Zahlenkampfspiel'', S. 100–101, 308–309. Eine moderne Edition des Traktats bei Folkerts und Smeur, Treatise. Zu Francos spärlichen Lebensdaten vgl. ebd., S. 230.</ref> Franco verweist im Traktat u. a. auf Ragimbold.<ref name="ftn90">Franco Leodiensis, ''De quadratura circuli'', ed. Menso Folkerts und A.J.E.M. Smeur, in: Folkerts und Smeur, Treatise, S. 76: „[…] quamquam doctissimus vir Regimboldus asserat in latere dupli quincuncem et latus simplicis contineri. Quod et ipse et cum Gerberto noster Racechinus fatetur. […] Hoc igitur est diagonium propositi quadrati quantam ad magistri Regimboldi sententiam.“</ref> Zwei der Briefe Ragimbolds folgen in dieser Sammelhandschrift – die mehrere mathematische Schriften aus dem Umfeld Gerberts von Aurillac und seiner Schüler versammelt – gleich auf Francos Traktat und zeigen so, dass der Kompilator sich des Austausches zwischen Quelle und Rezipient bewusst gewesen ist.  


[§25] Dass das Radulf bekannte und von ihm an Ragimbold weitergegebene Wissen um das Astrolab schon bald über den direkten Wirkungskreis der Lütticher Schule hinausging, beweist die letzte Seite eines Fragments der Vulgata (''Trier StB 1093/1694 gr2º''), das im letzten Viertel des 10. oder ersten Viertel des 11. Jahrhunderts in der oberlothringischen Benediktinerabtei Echternach entstand. Die Liste von Schultexten nennt u. a. ein einfach als ''Astrolabium'' bezeichnetes Werk und bezieht sich vermutlich auf eine heute verlorene Astrolab-Handschrift. Die Datierung spricht für einen der aus Katalonien kommenden älteren Traktate. Thomas Falmagne hat verschiedene Theorien für die Herkunft der Handschrift gegenübergestellt und schließlich – mit Verweis auf den Brief Radulfs und die engen Beziehungen zwischen Lüttich und Chartres – einen Transfer von Lüttich – „mit Chartres als möglicher Zwischenstufe“ – nach Echternach vorgeschlagen.<ref name="ftn91">Falmagne und Deitz, ''Handschriften'', S. 118, 196–201.</ref>
[§25] Dass das Radulf bekannte und von ihm an Ragimbold weitergegebene Wissen um das Astrolab schon bald über den direkten Wirkungskreis der Lütticher Schule hinausging, beweist die letzte Seite eines Fragments der Vulgata (''Trier StB 1093/1694 gr2º''), das im letzten Viertel des 10. oder ersten Viertel des 11. Jahrhunderts in der oberlothringischen Benediktinerabtei Echternach entstand. Die Liste von Schultexten nennt u. a. ein einfach als ''Astrolabium'' bezeichnetes Werk und bezieht sich vermutlich auf eine heute verlorene Astrolab-Handschrift. Die Datierung spricht für einen der aus Katalonien kommenden älteren Traktate. Thomas Falmagne hat verschiedene Theorien für die Herkunft der Handschrift gegenübergestellt und schließlich – mit Verweis auf den Brief Radulfs und die engen Beziehungen zwischen Lüttich und Chartres – einen Transfer von Lüttich – „mit Chartres als möglicher Zwischenstufe“ – nach Echternach vorgeschlagen.<ref name="ftn91">Falmagne und Deitz, ''Handschriften'', S. 118, 196–201.</ref>
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[§26] Die Beschäftigung mit Astrolabien lässt sich auch Ende des 11. Jahrhunderts noch in Lothringen nachweisen. Die früheste Quelle für die praktische Anwendung des Astrolabiums bei Himmelsbeobachtungen im lateinischen Westen ist eine Stelle in ''De lunationibus'' vom ursprünglich aus Lothringen stammenden Prior der englischen Benediktinerabtei Great Malvern Priory, Walcher von Malvern (gest. 1135). Im Oktober 1092 beobachtete er in England eine Mondfinsternis und nutzte für die Messungen ein Astrolab.<ref name="ftn92">Walcherus Malvernensis, ''De Lunationibus'', ed. Nothaft, in: Nothaft, ''Walcher'', S. 114.</ref> Walcher muss das Instrument bereits im lothringischen Raum kennengelernt haben, bevor er nach England ging. Dort begegnete er wahrscheinlich erst 1120 Petrus Alfonsi (gest. nach 1130), einem aus Aragón stammenden und 1106 getauften Juden, mit dessen Wirken Walchers Astrolabwissen in der Forschung des Öfteren in Verbindung gebracht wird. Gegen diese Forschungsmeinung spricht das Datum von Walchers Beobachtung und dass er das Astrolab nicht als etwas vollkommen Neues vorstellt.<ref name="ftn93">Zu Petrus Alfonsis Lebensdaten siehe Nothaft, ''Walcher'', S. 46–48; zu den Argumenten, die dafürsprechen, dass Walcher das Astrolabium schon vor seiner Zusammenarbeit mit Petrus Alfonsi kannte vgl. ebd. S. 36. Zum Einfluss Petrus Alfonsis auf Adelard von Bath und die arabischen Studien im normannischen England, siehe: [https://wiki.uni-konstanz.de/transmed-de/index.php/1107-1120er:_Die_Questiones_naturales_Adelards_von_Bath_bewerben_%E2%80%9Edie_Studien_der_Araber%E2%80%9C 1120: Die Questiones naturales Adelards von Bath bewerben die Studien der Araber].</ref>
[§26] Die Beschäftigung mit Astrolabien lässt sich auch Ende des 11. Jahrhunderts noch in Lothringen nachweisen. Die früheste Quelle für die praktische Anwendung des Astrolabiums bei Himmelsbeobachtungen im lateinischen Westen ist eine Stelle in ''De lunationibus'' vom ursprünglich aus Lothringen stammenden Prior der englischen Benediktinerabtei Great Malvern Priory, Walcher von Malvern (gest. 1135). Im Oktober 1092 beobachtete er in England eine Mondfinsternis und nutzte für die Messungen ein Astrolab.<ref name="ftn92">Walcherus Malvernensis, ''De Lunationibus'', ed. Nothaft, in: Nothaft, ''Walcher'', S. 114.</ref> Walcher muss das Instrument bereits im lothringischen Raum kennengelernt haben, bevor er nach England ging. Dort begegnete er wahrscheinlich erst 1120 Petrus Alfonsi (gest. nach 1130), einem aus Aragón stammenden und 1106 getauften Juden, mit dessen Wirken Walchers Astrolabwissen in der Forschung des Öfteren in Verbindung gebracht wird. Gegen diese Forschungsmeinung spricht das Datum von Walchers Beobachtung und dass er das Astrolab nicht als etwas vollkommen Neues vorstellt.<ref name="ftn93">Zu Petrus Alfonsis Lebensdaten siehe Nothaft, ''Walcher'', S. 46–48; zu den Argumenten, die dafürsprechen, dass Walcher das Astrolabium schon vor seiner Zusammenarbeit mit Petrus Alfonsi kannte vgl. ebd. S. 36. Zum Einfluss Petrus Alfonsis auf Adelard von Bath und die arabischen Studien im normannischen England, siehe: [https://wiki.uni-konstanz.de/transmed-de/index.php/1107-1120er:_Die_Questiones_naturales_Adelards_von_Bath_bewerben_%E2%80%9Edie_Studien_der_Araber%E2%80%9C 1120: Die Questiones naturales Adelards von Bath bewerben die Studien der Araber].</ref>


[§27] England blieb jedoch nicht die nordwestlichste Grenze des Transfers astronomisch-mathematischen Wissens aus arabisch-islamischer in lateinisch-christliche Sphäre: Wahrscheinlich war es der isländische Kleriker und Gelehrte Sæmund Sigfússon (1056–1133), der einen Text des alten Corpus, die Abhandlung ''De mensura astrolabii'' aus Lothringen in seine Heimat brachte.<ref name="ftn94">''Zur Abhandlung Millás, Assaig, S. 296–302; Kunitzsch, Chapter, S. 244–245. ''</ref> Die aus dem späten 12. Jahrhundert stammende Handschrift ''Reykjavík, GkS 1812 IV, 4°'' enthält ein altisländisch-lateinisches Glossar und dort auf fol. 34<sup>v </sup>arabische Sternnamen in latinisierter Form mit altisländischer Übersetzung, die einer ''De mensura astrolabii'' begleitenden Sterntafel entnommen zu sein scheinen. Das Glossar ist die älteste skandinavische Quelle mit arabischen Begriffen.<ref name="ftn95">Etheridge, Evidence, S. 55–57, 60–62. Ein Digitalisat des schlecht erhaltenen Folioseite unter: [https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up].</ref> Jahrzehnte nach Radulf gelangte Astrolabmaterial so über Lothringen in den äußersten Nordwesten der christlichen Welt.  
[§27] England blieb jedoch nicht die nordwestlichste Grenze des Transfers astronomisch-mathematischen Wissens aus arabisch-islamischer in lateinisch-christliche Sphäre: Wahrscheinlich war es der isländische Kleriker und Gelehrte Sæmund Sigfússon (1056–1133), der einen Text des alten Corpus, die Abhandlung ''De mensura astrolabii'' aus Lothringen in seine Heimat brachte.<ref name="ftn94">''Zur Abhandlung Millás, Assaig, S. 296–302; Kunitzsch, Chapter, S. 244–245. ''</ref> Die aus dem späten 12. Jahrhundert stammende Handschrift ''Reykjavík, GkS 1812 IV, 4°'' enthält ein altisländisch-lateinisches Glossar und dort auf fol. 34<sup>v </sup>arabische Sternnamen in latinisierter Form mit altisländischer Übersetzung, die einer ''De mensura astrolabii'' begleitenden Sterntafel entnommen zu sein scheinen. Das Glossar ist die älteste skandinavische Quelle mit arabischen Begriffen.<ref name="ftn95">Etheridge, Evidence, S. 55–57, 60–62. Ein Digitalisat des schlecht erhaltenen Folioseite unter: [https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up].</ref> Jahrzehnte nach Radulf gelangte Astrolabmaterial so über Lothringen in den äußersten Nordwesten der christlichen Welt.  


[§28] Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Radulfs Briefwechsel mit Ragimbold veranschaulicht, wie sich führende Domschullehrer – die sich allesamt auf die eine oder andere Weise mit Gerbert von Aurillac in Beziehung setzen lassen – das aus al-Andalus stammende Astrolab zunutze machten, um damit lange zuvor diskutierte Probleme zu lösen, die sich partiell aus dem Verlust eines Großteils der antiken Fachliteratur ergaben. Sie erkannten früh, dass Astrolab und Astrolabtraktate zwar nicht als Ersatz für die älteren Texte und Methoden dienen, diese aber ergänzen konnten. Ordnet man den Brief Radulfs unter Heranziehung anderer schriftlicher und materieller Quellen in einen von Katalonien aus nach Nordosten führenden Prozess des Wissenstransfers ein, so liefert er trotz seiner Kürze einen weiteren Beweis dafür, dass das neue, aus der arabisch-islamischen Sphäre kommende mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen seit Ende des 10. bzw. Anfang des 11. Jahrhunderts Einzug in die Curricula und den Bildungskanon der großen Kathedralschulen des West- und Ostfrankenreiches hielt. Daneben stehen, v. a. anfangs noch, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Klassiker der Antike. Das Verhältnis der „alten“ und „neuen“ Literatur zueinander zu ergründen, bedarf einer genaueren Untersuchung der Codices und bleibt ein Desiderat der Forschung.<ref name="ftn96">Erste Ansätze zur Untersuchung von Teilen solcher Sammelhandschriften in ihrem Verhältnis zueinander bei Wallis, Albums.</ref>
[§28] Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Radulfs Briefwechsel mit Ragimbold veranschaulicht, wie sich führende Domschullehrer – die sich allesamt auf die eine oder andere Weise mit Gerbert von Aurillac in Beziehung setzen lassen – das aus al-Andalus stammende Astrolab zunutze machten, um damit lange zuvor diskutierte Probleme zu lösen, die sich partiell aus dem Verlust eines Großteils der antiken Fachliteratur ergaben. Sie erkannten früh, dass Astrolab und Astrolabtraktate zwar nicht als Ersatz für die älteren Texte und Methoden dienen, diese aber ergänzen konnten. Ordnet man den Brief Radulfs unter Heranziehung anderer schriftlicher und materieller Quellen in einen von Katalonien aus nach Nordosten führenden Prozess des Wissenstransfers ein, so liefert er trotz seiner Kürze einen weiteren Beweis dafür, dass das neue, aus der arabisch-islamischen Sphäre kommende mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen seit Ende des 10. bzw. Anfang des 11. Jahrhunderts Einzug in die Curricula und den Bildungskanon der großen Kathedralschulen des West- und Ostfrankenreiches hielt. Daneben stehen, v. a. anfangs noch, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Klassiker der Antike. Das Verhältnis der „alten“ und „neuen“ Literatur zueinander zu ergründen, bedarf einer genaueren Untersuchung der Codices und bleibt ein Desiderat der Forschung.<ref name="ftn96">Erste Ansätze zur Untersuchung von Teilen solcher Sammelhandschriften in ihrem Verhältnis zueinander bei Wallis, Albums.</ref>
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