1010-1028: Ersterwähnung eines Astrolabs im lothringischen Raum in einem Brief Radulfs von Lüttich: Unterschied zwischen den Versionen

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[§26] Die Beschäftigung mit Astrolabien lässt sich auch Ende des 11. Jahrhunderts noch in Lothringen nachweisen. Die früheste Quelle für die praktische Anwendung des Astrolabiums bei Himmelsbeobachtungen im lateinischen Westen ist eine Stelle in ''De lunationibus'' vom ursprünglich aus Lothringen stammenden Prior der englischen Benediktinerabtei Great Malvern Priory, Walcher von Malvern (gest. 1135). Im Oktober 1092 beobachtete er in England eine Mondfinsternis und nutzte für die Messungen ein Astrolab.<ref name="ftn92">Walcherus Malvernensis, ''De Lunationibus'', ed. Nothaft, in: Nothaft, ''Walcher'', S. 114.</ref> Walcher muss das Instrument bereits im lothringischen Raum kennengelernt haben, bevor er nach England ging. Dort begegnete er wahrscheinlich erst 1120 Petrus Alfonsi (gest. nach 1130), einem aus Aragón stammenden und 1106 getauften Juden, mit dessen Wirken Walchers Astrolabwissen in der Forschung des Öfteren in Verbindung gebracht wird. Gegen diese Forschungsmeinung spricht das Datum von Walchers Beobachtung und dass er das Astrolab nicht als etwas vollkommen Neues vorstellt.<ref name="ftn93">Zu Petrus Alfonsis Lebensdaten siehe Nothaft, ''Walcher'', S. 46–48; zu den Argumenten, die dafürsprechen, dass Walcher das Astrolabium schon vor seiner Zusammenarbeit mit Petrus Alfonsi kannte vgl. ebd. S. 36. Zum Einfluss Petrus Alfonsis auf Adelard von Bath und die arabischen Studien im normannischen England, siehe: [https://wiki.uni-konstanz.de/transmed-de/index.php/1107-1120er:_Die_Questiones_naturales_Adelards_von_Bath_bewerben_%E2%80%9Edie_Studien_der_Araber%E2%80%9C 1120: Die Questiones naturales Adelards von Bath bewerben die Studien der Araber].</ref>
[§26] Die Beschäftigung mit Astrolabien lässt sich auch Ende des 11. Jahrhunderts noch in Lothringen nachweisen. Die früheste Quelle für die praktische Anwendung des Astrolabiums bei Himmelsbeobachtungen im lateinischen Westen ist eine Stelle in ''De lunationibus'' vom ursprünglich aus Lothringen stammenden Prior der englischen Benediktinerabtei Great Malvern Priory, Walcher von Malvern (gest. 1135). Im Oktober 1092 beobachtete er in England eine Mondfinsternis und nutzte für die Messungen ein Astrolab.<ref name="ftn92">Walcherus Malvernensis, ''De Lunationibus'', ed. Nothaft, in: Nothaft, ''Walcher'', S. 114.</ref> Walcher muss das Instrument bereits im lothringischen Raum kennengelernt haben, bevor er nach England ging. Dort begegnete er wahrscheinlich erst 1120 Petrus Alfonsi (gest. nach 1130), einem aus Aragón stammenden und 1106 getauften Juden, mit dessen Wirken Walchers Astrolabwissen in der Forschung des Öfteren in Verbindung gebracht wird. Gegen diese Forschungsmeinung spricht das Datum von Walchers Beobachtung und dass er das Astrolab nicht als etwas vollkommen Neues vorstellt.<ref name="ftn93">Zu Petrus Alfonsis Lebensdaten siehe Nothaft, ''Walcher'', S. 46–48; zu den Argumenten, die dafürsprechen, dass Walcher das Astrolabium schon vor seiner Zusammenarbeit mit Petrus Alfonsi kannte vgl. ebd. S. 36. Zum Einfluss Petrus Alfonsis auf Adelard von Bath und die arabischen Studien im normannischen England, siehe: [https://wiki.uni-konstanz.de/transmed-de/index.php/1107-1120er:_Die_Questiones_naturales_Adelards_von_Bath_bewerben_%E2%80%9Edie_Studien_der_Araber%E2%80%9C 1120: Die Questiones naturales Adelards von Bath bewerben die Studien der Araber].</ref>


[§27] England blieb jedoch nicht die nordwestlichste Grenze des Transfers astronomisch-mathematischen Wissens aus arabisch-islamischer in lateinisch-christliche Sphäre: Wahrscheinlich war es der isländische Kleriker und Gelehrte Sæmund Sigfússon (1056–1133), der einen Text des alten Corpus, die Abhandlung ''De mensura astrolabii'' aus Lothringen in seine Heimat brachte.<ref name="ftn94">''Zur Abhandlung Millás, Assaig, S. 296–302; Kunitzsch, Chapter, S. 244–245. ''</ref> Die aus dem späten 12. Jahrhundert stammende Handschrift ''Reykjavík, GkS 1812 IV, 4°'' enthält ein altisländisch-lateinisches Glossar und dort auf fol. 34<sup>v </sup>arabische Sternnamen in latinisierter Form mit altisländischer Übersetzung, die einer ''De mensura astrolabii'' begleitenden Sterntafel entnommen zu sein scheinen. Das Glossar ist die älteste skandinavische Quelle mit arabischen Begriffen.<ref name="ftn95">Etheridge, Evidence, S. 55–57, 60–62. Ein Digitalisat des schlecht erhaltenen Folioseite unter: [https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up].</ref> Jahrzehnte nach Radulf gelangte Astrolabmaterial so über Lothringen in den äußersten Nordwesten der christlichen Welt.  
[§27] England blieb jedoch nicht die nordwestlichste Grenze des Transfers astronomisch-mathematischen Wissens aus arabisch-islamischer in lateinisch-christliche Sphäre: Wahrscheinlich war es der isländische Kleriker und Gelehrte Sæmund Sigfússon (1056–1133), der einen Text des alten Corpus, die Abhandlung ''De mensura astrolabii'' aus Lothringen in seine Heimat brachte.<ref name="ftn94">Zur Abhandlung Millás, ''Assaig'', S. 296–302; Kunitzsch, Chapter, S. 244–245.</ref> Die aus dem späten 12. Jahrhundert stammende Handschrift ''Reykjavík, GkS 1812 IV, 4°'' enthält ein altisländisch-lateinisches Glossar und dort auf fol. 34<sup>v </sup>arabische Sternnamen in latinisierter Form mit altisländischer Übersetzung, die einer ''De mensura astrolabii'' begleitenden Sterntafel entnommen zu sein scheinen. Das Glossar ist die älteste skandinavische Quelle mit arabischen Begriffen.<ref name="ftn95">Etheridge, Evidence, S. 55–57, 60–62. Ein Digitalisat des schlecht erhaltenen Folioseite unter: [https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up].</ref> Jahrzehnte nach Radulf gelangte Astrolabmaterial so über Lothringen in den äußersten Nordwesten der christlichen Welt.  


[§28] Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Radulfs Briefwechsel mit Ragimbold veranschaulicht, wie sich führende Domschullehrer – die sich allesamt auf die eine oder andere Weise mit Gerbert von Aurillac in Beziehung setzen lassen – das aus al-Andalus stammende Astrolab zunutze machten, um damit lange zuvor diskutierte Probleme zu lösen, die sich partiell aus dem Verlust eines Großteils der antiken Fachliteratur ergaben. Sie erkannten früh, dass Astrolab und Astrolabtraktate zwar nicht als Ersatz für die älteren Texte und Methoden dienen, diese aber ergänzen konnten. Ordnet man den Brief Radulfs unter Heranziehung anderer schriftlicher und materieller Quellen in einen von Katalonien aus nach Nordosten führenden Prozess des Wissenstransfers ein, so liefert er trotz seiner Kürze einen weiteren Beweis dafür, dass das neue, aus der arabisch-islamischen Sphäre kommende mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen seit Ende des 10. bzw. Anfang des 11. Jahrhunderts Einzug in die Curricula und den Bildungskanon der großen Kathedralschulen des West- und Ostfrankenreiches hielt. Daneben stehen, v. a. anfangs noch, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Klassiker der Antike. Das Verhältnis der „alten“ und „neuen“ Literatur zueinander zu ergründen, bedarf einer genaueren Untersuchung der Codices und bleibt ein Desiderat der Forschung.<ref name="ftn96">Erste Ansätze zur Untersuchung von Teilen solcher Sammelhandschriften in ihrem Verhältnis zueinander bei Wallis, Albums.</ref>|''Astrolabium misissem uobis iudicandum, sed est nobis exemplar ad aliud construendum: cuius de scientia si quid affectatis, ad missam sancti lan(berti) non uos pigeat aduenire. Forsitan non penitebit: alioquin uidere tantummodo astrolabium non magis iuuabit quam lippum pictae tabulae, fomenta podagrum.''|Ich würde Euch das Astrolabium zusenden, sodass Ihr Euch eine Meinung bilden könnt, doch ist es unser Modell, um ein anderes zu bauen. Wenn Ihr danach strebt, mehr zu erfahren, dann kommt zum Fest des heiligen Lambert. Ihr werdet es wohl nicht bereuen: Ein Astrolabium lediglich zu sehen, wird nicht mehr nützen als „Gemälde einem Triefäugigen, warme Kompressen einem Gichtkranken“ [Hor. Epist. I,2,52].|6=''The Letters and Poems of Fulbert of Chartres'', ed./übers. Frederick Behrends, Oxford: Clarendon Press, 1976.
[§28] Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Radulfs Briefwechsel mit Ragimbold veranschaulicht, wie sich führende Domschullehrer – die sich allesamt auf die eine oder andere Weise mit Gerbert von Aurillac in Beziehung setzen lassen – das aus al-Andalus stammende Astrolab zunutze machten, um damit lange zuvor diskutierte Probleme zu lösen, die sich partiell aus dem Verlust eines Großteils der antiken Fachliteratur ergaben. Sie erkannten früh, dass Astrolab und Astrolabtraktate zwar nicht als Ersatz für die älteren Texte und Methoden dienen, diese aber ergänzen konnten. Ordnet man den Brief Radulfs unter Heranziehung anderer schriftlicher und materieller Quellen in einen von Katalonien aus nach Nordosten führenden Prozess des Wissenstransfers ein, so liefert er trotz seiner Kürze einen weiteren Beweis dafür, dass das neue, aus der arabisch-islamischen Sphäre kommende mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen seit Ende des 10. bzw. Anfang des 11. Jahrhunderts Einzug in die Curricula und den Bildungskanon der großen Kathedralschulen des West- und Ostfrankenreiches hielt. Daneben stehen, v. a. anfangs noch, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Klassiker der Antike. Das Verhältnis der „alten“ und „neuen“ Literatur zueinander zu ergründen, bedarf einer genaueren Untersuchung der Codices und bleibt ein Desiderat der Forschung.<ref name="ftn96">Erste Ansätze zur Untersuchung von Teilen solcher Sammelhandschriften in ihrem Verhältnis zueinander bei Wallis, Albums.</ref>|''Astrolabium misissem uobis iudicandum, sed est nobis exemplar ad aliud construendum: cuius de scientia si quid affectatis, ad missam sancti lan(berti) non uos pigeat aduenire. Forsitan non penitebit: alioquin uidere tantummodo astrolabium non magis iuuabit quam lippum pictae tabulae, fomenta podagrum.''|Ich würde Euch das Astrolabium zusenden, sodass Ihr Euch eine Meinung bilden könnt, doch ist es unser Modell, um ein anderes zu bauen. Wenn Ihr danach strebt, mehr zu erfahren, dann kommt zum Fest des heiligen Lambert. Ihr werdet es wohl nicht bereuen: Ein Astrolabium lediglich zu sehen, wird nicht mehr nützen als „Gemälde einem Triefäugigen, warme Kompressen einem Gichtkranken“ [Hor. Epist. I,2,52].|6=''The Letters and Poems of Fulbert of Chartres'', ed./übers. Frederick Behrends, Oxford: Clarendon Press, 1976.
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