1010-1028: Ersterwähnung eines Astrolabs im lothringischen Raum in einem Brief Radulfs von Lüttich: Unterschied zwischen den Versionen

Zur Navigation springen Zur Suche springen
keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 76: Zeile 76:
[§27] England blieb jedoch nicht die nordwestlichste Grenze des Transfers astronomisch-mathematischen Wissens aus arabisch-islamischer in lateinisch-christliche Sphäre: Wahrscheinlich war es der isländische Kleriker und Gelehrte Sæmund Sigfússon (1056–1133), der einen Text des alten Corpus, die Abhandlung ''De mensura astrolabii'' aus Lothringen in seine Heimat brachte.<ref name="ftn94">Zur Abhandlung Millás, ''Assaig'', S. 296–302; Kunitzsch, Chapter, S. 244–245.</ref> Die aus dem späten 12. Jahrhundert stammende Handschrift ''Reykjavík, GkS 1812 IV, 4°'' enthält ein altisländisch-lateinisches Glossar und dort auf fol. 34<sup>v </sup>arabische Sternnamen in latinisierter Form mit altisländischer Übersetzung, die einer ''De mensura astrolabii'' begleitenden Sterntafel entnommen zu sein scheinen. Das Glossar ist die älteste skandinavische Quelle mit arabischen Begriffen.<ref name="ftn95">Etheridge, Evidence, S. 55–57, 60–62. Ein Digitalisat des schlecht erhaltenen Folioseite unter: [https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up].</ref> Jahrzehnte nach Radulf gelangte Astrolabmaterial so über Lothringen in den äußersten Nordwesten der christlichen Welt.  
[§27] England blieb jedoch nicht die nordwestlichste Grenze des Transfers astronomisch-mathematischen Wissens aus arabisch-islamischer in lateinisch-christliche Sphäre: Wahrscheinlich war es der isländische Kleriker und Gelehrte Sæmund Sigfússon (1056–1133), der einen Text des alten Corpus, die Abhandlung ''De mensura astrolabii'' aus Lothringen in seine Heimat brachte.<ref name="ftn94">Zur Abhandlung Millás, ''Assaig'', S. 296–302; Kunitzsch, Chapter, S. 244–245.</ref> Die aus dem späten 12. Jahrhundert stammende Handschrift ''Reykjavík, GkS 1812 IV, 4°'' enthält ein altisländisch-lateinisches Glossar und dort auf fol. 34<sup>v </sup>arabische Sternnamen in latinisierter Form mit altisländischer Übersetzung, die einer ''De mensura astrolabii'' begleitenden Sterntafel entnommen zu sein scheinen. Das Glossar ist die älteste skandinavische Quelle mit arabischen Begriffen.<ref name="ftn95">Etheridge, Evidence, S. 55–57, 60–62. Ein Digitalisat des schlecht erhaltenen Folioseite unter: [https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up https://handrit.is/en/manuscript/imaging/is/GKS04-1812#page/34v++(70+of+77)/mode/2up].</ref> Jahrzehnte nach Radulf gelangte Astrolabmaterial so über Lothringen in den äußersten Nordwesten der christlichen Welt.  


[§28] Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Radulfs Briefwechsel mit Ragimbold veranschaulicht, wie sich führende Domschullehrer – die sich allesamt auf die eine oder andere Weise mit Gerbert von Aurillac in Beziehung setzen lassen – das aus al-Andalus stammende Astrolab zunutze machten, um damit lange zuvor diskutierte Probleme zu lösen, die sich partiell aus dem Verlust eines Großteils der antiken Fachliteratur ergaben. Sie erkannten früh, dass Astrolab und Astrolabtraktate zwar nicht als Ersatz für die älteren Texte und Methoden dienen, diese aber ergänzen konnten. Ordnet man den Brief Radulfs unter Heranziehung anderer schriftlicher und materieller Quellen in einen von Katalonien aus nach Nordosten führenden Prozess des Wissenstransfers ein, so liefert er trotz seiner Kürze einen weiteren Beweis dafür, dass das neue, aus der arabisch-islamischen Sphäre kommende mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen seit Ende des 10. bzw. Anfang des 11. Jahrhunderts Einzug in die Curricula und den Bildungskanon der großen Kathedralschulen des West- und Ostfrankenreiches hielt. Daneben stehen, v. a. anfangs noch, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Klassiker der Antike. Das Verhältnis der „alten“ und „neuen“ Literatur zueinander zu ergründen, bedarf einer genaueren Untersuchung der Codices und bleibt ein Desiderat der Forschung.<ref name="ftn96">Erste Ansätze zur Untersuchung von Teilen solcher Sammelhandschriften in ihrem Verhältnis zueinander bei Wallis, Albums.</ref>|''Astrolabium misissem uobis iudicandum, sed est nobis exemplar ad aliud construendum: cuius de scientia si quid affectatis, ad missam sancti lan(berti) non uos pigeat aduenire. Forsitan non penitebit: alioquin uidere tantummodo astrolabium non magis iuuabit quam lippum pictae tabulae, fomenta podagrum.''|Ich würde Euch das Astrolabium zusenden, sodass Ihr Euch eine Meinung bilden könnt, doch ist es unser Modell, um ein anderes zu bauen. Wenn Ihr danach strebt, mehr zu erfahren, dann kommt zum Fest des heiligen Lambert. Ihr werdet es wohl nicht bereuen: Ein Astrolabium lediglich zu sehen, wird nicht mehr nützen als „Gemälde einem Triefäugigen, warme Kompressen einem Gichtkranken“ [Hor. Epist. I,2,52].|6=''The Letters and Poems of Fulbert of Chartres'', ed./übers. Frederick Behrends, Oxford: Clarendon Press, 1976.
[§28] Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Radulfs Briefwechsel mit Ragimbold veranschaulicht, wie sich führende Domschullehrer – die sich allesamt auf die eine oder andere Weise mit Gerbert von Aurillac in Beziehung setzen lassen – das aus al-Andalus stammende Astrolab zunutze machten, um damit lange zuvor diskutierte Probleme zu lösen, die sich partiell aus dem Verlust eines Großteils der antiken Fachliteratur ergaben. Sie erkannten früh, dass Astrolab und Astrolabtraktate zwar nicht als Ersatz für die älteren Texte und Methoden dienen, diese aber ergänzen konnten. Ordnet man den Brief Radulfs unter Heranziehung anderer schriftlicher und materieller Quellen in einen von Katalonien aus nach Nordosten führenden Prozess des Wissenstransfers ein, so liefert er trotz seiner Kürze einen weiteren Beweis dafür, dass das neue, aus der arabisch-islamischen Sphäre kommende mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen seit Ende des 10. bzw. Anfang des 11. Jahrhunderts Einzug in die Curricula und den Bildungskanon der großen Kathedralschulen des West- und Ostfrankenreiches hielt. Daneben stehen, v. a. anfangs noch, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Klassiker der Antike. Das Verhältnis der „alten“ und „neuen“ Literatur zueinander zu ergründen, bedarf einer genaueren Untersuchung der Codices und bleibt ein Desiderat der Forschung.<ref name="ftn96">Erste Ansätze zur Untersuchung von Teilen solcher Sammelhandschriften in ihrem Verhältnis zueinander bei Wallis, Albums.</ref>|''Astrolabium misissem uobis iudicandum, sed est nobis exemplar ad aliud construendum: cuius de scientia si quid affectatis, ad missam sancti lan(berti) non uos pigeat aduenire. Forsitan non penitebit: alioquin uidere tantummodo astrolabium non magis iuuabit quam lippum pictae tabulae, fomenta podagrum.''|Ich würde Euch das Astrolabium zusenden, sodass Ihr Euch eine Meinung bilden könnt, doch ist es unser Modell, um ein anderes zu bauen. Wenn Ihr danach strebt, mehr zu erfahren, dann kommt zum Fest des heiligen Lambert. Ihr werdet es wohl nicht bereuen: Ein Astrolabium lediglich zu sehen, wird nicht mehr nützen als „Gemälde einem Triefäugigen, warme Kompressen einem Gichtkranken“ [Hor. Epist. I,2,52].|6=Radulfus, Leodiensis magister, ep. 5 ad Ragimboldum, magistrum Coloniensem, ed. Paul Tannery, Abbé Clerval, Une correspondance d’écolâtres du onzième siècle, in: ''Notices et extraits'' 36/2 (1901) S. 487–543, hier: S. 529.
 
Borst, Arno: ''Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende'' (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1989, Bericht 1), Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1989, S. 72 [deutsche Übersetzung].
 
Borrelli, Arianna: ''Aspects of the Astrolabe: ‚Architectonica Ratio‘ in Tenth- and Eleventh-Century Europe'', Stuttgart: Steiner Verlag, 2008, S. 113 [englische Übersetzung].
 
==Zitierte Quellen==
''The Letters and Poems of Fulbert of Chartres'', ed./übers. Frederick Behrends, Oxford: Clarendon Press, 1976.


''Gerberti postea Silvestri II papae Opera mathematica'' (972–1003), ed. Nicolaus Bubnov, Berlin: R. Friedländer & Sohn, 1899.
''Gerberti postea Silvestri II papae Opera mathematica'' (972–1003), ed. Nicolaus Bubnov, Berlin: R. Friedländer & Sohn, 1899.
Cookies helfen uns bei der Bereitstellung von Transmed Wiki. Durch die Nutzung von Transmed Wiki erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies speichern.

Navigationsmenü