1258-1283: al-Qazwīnī berichtet aus dem Irak über Schleswig bzw. Haithabu: Unterschied zwischen den Versionen

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[§5] Sowohl in der hier zitierten Quellenstelle als auch in fünf weiteren Lemmata aus ''Āṯār al-bilād'' nennt al-Qazwīnī einen gewissen al-Ṭarṭūšī als Quelle.<ref name="ftn7">Engels, Reisebericht, S. 414.</ref> Sowohl dessen Identität als auch die Rezeption seiner Beobachtungen bei al-Qazwīnī und anderen arabisch-islamischen Geographen sind in der Forschung breit diskutiert worden. Der Grund hierfür liegt darin, dass einige Beobachtungen al-Ṭarṭūšīs in ''Āṯār al-bilād'' sich zum Teil wörtlich mit Passagen decken, die andere arabische Autoren in ihren Werken verarbeiteten. Der erste, von dem bekannt ist, dass er sich auf al-Ṭarṭūšī als Quelle stützte, ist der aus Almería stammende Geograph al-ʿUḏrī<ref name="ftn8">Molina, Al-῾Udhrī, S. 776-777.</ref>, der sein Werk „Ornamentierung der Nachrichten“ (''Tarṣīʿ al-aḫbār'')<ref name="ftn9">Penelas, Tarṣīʿ al-akhbār.</ref> zwischen 1066 und 1085 schrieb. Dessen Schüler al-Bakrī (gest. 487/1094), ebenfalls Geograph aus al-Andalus, verarbeitete in seinem um 1067-1068 verfassten „Buch der Routen und Reiche“ (''Kitāb al-Masālik wa-l-mamālik'') Informationen al-Ṭarṭūšīs in seinen Kapiteln über slawische Länder und die Iberische Halbinsel.<ref name="ftn10">Miquel, Ibrāhīm b. Yaʿḳūb, S. 991; El-Hajji, Ibrāhīm Ibn Yaʿqūb, S. 25; Lévi-Provençal, Abū ʿUbaid al-Bakrī, S. 155-157; Jacob, ''Arabische Berichte'', S. 2.</ref>
[§5] Sowohl in der hier zitierten Quellenstelle als auch in fünf weiteren Lemmata aus ''Āṯār al-bilād'' nennt al-Qazwīnī einen gewissen al-Ṭarṭūšī als Quelle.<ref name="ftn7">Engels, Reisebericht, S. 414.</ref> Sowohl dessen Identität als auch die Rezeption seiner Beobachtungen bei al-Qazwīnī und anderen arabisch-islamischen Geographen sind in der Forschung breit diskutiert worden. Der Grund hierfür liegt darin, dass einige Beobachtungen al-Ṭarṭūšīs in ''Āṯār al-bilād'' sich zum Teil wörtlich mit Passagen decken, die andere arabische Autoren in ihren Werken verarbeiteten. Der erste, von dem bekannt ist, dass er sich auf al-Ṭarṭūšī als Quelle stützte, ist der aus Almería stammende Geograph al-ʿUḏrī<ref name="ftn8">Molina, Al-῾Udhrī, S. 776-777.</ref>, der sein Werk „Ornamentierung der Nachrichten“ (''Tarṣīʿ al-aḫbār'')<ref name="ftn9">Penelas, Tarṣīʿ al-akhbār.</ref> zwischen 1066 und 1085 schrieb. Dessen Schüler al-Bakrī (gest. 487/1094), ebenfalls Geograph aus al-Andalus, verarbeitete in seinem um 1067-1068 verfassten „Buch der Routen und Reiche“ (''Kitāb al-Masālik wa-l-mamālik'') Informationen al-Ṭarṭūšīs in seinen Kapiteln über slawische Länder und die Iberische Halbinsel.<ref name="ftn10">Miquel, Ibrāhīm b. Yaʿḳūb, S. 991; El-Hajji, Ibrāhīm Ibn Yaʿqūb, S. 25; Lévi-Provençal, Abū ʿUbaid al-Bakrī, S. 155-157; Jacob, ''Arabische Berichte'', S. 2.</ref>


[§6] Georg Jacob (1862-1937) beschäftigte sich als erster mit den betreffenden Parallelstellen, nachdem er sowohl inhaltliche als auch wörtliche Übereinstimmungen zwischen einem Lemma aus ''Āṯār al-bilād ''und einer Passage aus dem Werk des al-Bakrī feststellte. Beide Passagen handeln von einer „Stadt der Frauen“ (''madīnat al-nisāʾ''), jedoch nennt der Artikel aus ''Āṯār al-bilād' 'namentlich al-Ṭarṭūšī, die Passage von al-Bakrī einen gewissen Ibrāhīm b. Yaʿqūb als Quelle. Eine zweite Übereinstimmung der beiden Werke gab Jacob Grund zur Annahme, dass sich die jeweils zitierten Berichterstatter al-Ṭarṭūšī und Ibrāhīm b. Yaʿqūb auf eine gemeinsame Quelle stützen mussten. Beide erwähnen nämlich, dass ihnen ein gewisser Hūtuh, König der Römer (''malik al-Rūm''), von der „Stadt der Frauen“ erzählte.<ref name="ftn11">Al-Bakrī, ''Kitāb al-Masālik wa-l-mamālik'', ed. Adrian P. van Leeuwen, André Ferré, Tunis: al-Dār al-ʿarabiyya li-l-kitāb, 1992, § 550, S. 334; al-Qazwīnī, ''Aṯār'', ed. Wüstenfeld, S. 373.</ref> Dieser Hūtuh wurde von Jacob und anderen unstrittig mit Otto I. dem Großen (regn. 936-973 als Herzog der Sachsen und König der Franken, 962-973 als römisch-deutscher Kaiser) identifiziert.<ref name="ftn12">König, ''Arabic-Islamic Views'', S. 107, 279-288.</ref> In einem weiteren Lemma aus ''Āṯār al-bilād ''erwähnt al-Ṭarṭūšī nochmals den römischen König (''malik al-Rūm)'', diesmal unter Vermittlung des al-ʿUḏrī.<ref name="ftn13">Siehe das Lemma „Lorca“, in al-Qazwīnī, ''Aṯār'', ed. Wüstenfeld, S. 373; Jacob, ''Arabische Berichte'', S. 33.</ref> Deshalb, so Jacob, sei es unklar, „ob Qazwīnī at-Ṭarṭūšī [auch in allen anderen Artikeln] nur über ʿUd̲h̲ri oder auch unmittelbar zitiert (…).“<ref name="ftn14">Engels, Reisebericht, S. 414.</ref> In einer weiteren Stelle bei al-Bakrī berichtet Ibrāhīm b. Yaʿqūb außerdem, dass er beobachtet habe, wie bulgarische Gesandte von König Hūtuh an dessen Hof in ''Māḏī burġ'' (Magdeburg oder Merseburg) empfangen worden seien.<ref name="ftn15">Engels, Reisebericht, S. 415; al-Bakrī, ''Kitāb al-Masālik'', ed. van Leeuwen and Ferré, § 552, S. 334-335.</ref> Dies und der Umstand, dass Otto der Große im Jahr 973 tatsächlich vom 27. April bis zum 1. Mai in Merseburg verweilte und kurz zuvor in Quedlinburg eine bulgarische Gesandtschaft empfangen hatte, verleiteten Jacob zu dem Schluss, Ibrāhīm b. Yaʿqūb und al-Ṭarṭūšī hätten sich zu dieser Zeit an dessen Hof getroffen und dort beide von Otto u. a. die Informationen zur „Stadt der Frauen“ erhalten. Tadeusz Kowalski (1889-1948) erbrachte dann den Nachweis, dass es sich bei al-Ṭarṭūšī und Ibrāhīm b. Yaʿqūb um dieselbe Person handelt, als er in einer weiteren Handschrift al-Bakrīs den vollständig aufgeführten Namen der Person vorfand, nämlich Ibrāhīm b. Yaʿqūb al-Isrāʾīlī al-Ṭarṭūšī.<ref name="ftn16">Engels, Reisebericht, S. 416.</ref>
[§6] Georg Jacob (1862-1937) beschäftigte sich als erster mit den betreffenden Parallelstellen, nachdem er sowohl inhaltliche als auch wörtliche Übereinstimmungen zwischen einem Lemma aus ''Āṯār al-bilād ''und einer Passage aus dem Werk des al-Bakrī feststellte. Beide Passagen handeln von einer „Stadt der Frauen“ (''madīnat al-nisāʾ''), jedoch nennt der Artikel aus ''Āṯār al-bilād'' namentlich al-Ṭarṭūšī, die Passage von al-Bakrī einen gewissen Ibrāhīm b. Yaʿqūb als Quelle. Eine zweite Übereinstimmung der beiden Werke gab Jacob Grund zur Annahme, dass sich die jeweils zitierten Berichterstatter al-Ṭarṭūšī und Ibrāhīm b. Yaʿqūb auf eine gemeinsame Quelle stützen mussten. Beide erwähnen nämlich, dass ihnen ein gewisser Hūtuh, König der Römer (''malik al-Rūm''), von der „Stadt der Frauen“ erzählte.<ref name="ftn11">Al-Bakrī, ''Kitāb al-Masālik wa-l-mamālik'', ed. Adrian P. van Leeuwen, André Ferré, Tunis: al-Dār al-ʿarabiyya li-l-kitāb, 1992, § 550, S. 334; al-Qazwīnī, ''Aṯār'', ed. Wüstenfeld, S. 373.</ref> Dieser Hūtuh wurde von Jacob und anderen unstrittig mit Otto I. dem Großen (regn. 936-973 als Herzog der Sachsen und König der Franken, 962-973 als römisch-deutscher Kaiser) identifiziert.<ref name="ftn12">König, ''Arabic-Islamic Views'', S. 107, 279-288.</ref> In einem weiteren Lemma aus ''Āṯār al-bilād ''erwähnt al-Ṭarṭūšī nochmals den römischen König (''malik al-Rūm''), diesmal unter Vermittlung des al-ʿUḏrī.<ref name="ftn13">Siehe das Lemma „Lorca“, in al-Qazwīnī, ''Aṯār'', ed. Wüstenfeld, S. 373; Jacob, ''Arabische Berichte'', S. 33.</ref> Deshalb, so Jacob, sei es unklar, „ob Qazwīnī at-Ṭarṭūšī [auch in allen anderen Artikeln] nur über ʿUd̲h̲ri oder auch unmittelbar zitiert (…).“<ref name="ftn14">Engels, Reisebericht, S. 414.</ref> In einer weiteren Stelle bei al-Bakrī berichtet Ibrāhīm b. Yaʿqūb außerdem, dass er beobachtet habe, wie bulgarische Gesandte von König Hūtuh an dessen Hof in ''Māḏī burġ'' (Magdeburg oder Merseburg) empfangen worden seien.<ref name="ftn15">Engels, Reisebericht, S. 415; al-Bakrī, ''Kitāb al-Masālik'', ed. van Leeuwen and Ferré, § 552, S. 334-335.</ref> Dies und der Umstand, dass Otto der Große im Jahr 973 tatsächlich vom 27. April bis zum 1. Mai in Merseburg verweilte und kurz zuvor in Quedlinburg eine bulgarische Gesandtschaft empfangen hatte, verleiteten Jacob zu dem Schluss, Ibrāhīm b. Yaʿqūb und al-Ṭarṭūšī hätten sich zu dieser Zeit an dessen Hof getroffen und dort beide von Otto u. a. die Informationen zur „Stadt der Frauen“ erhalten. Tadeusz Kowalski (1889-1948) erbrachte dann den Nachweis, dass es sich bei al-Ṭarṭūšī und Ibrāhīm b. Yaʿqūb um dieselbe Person handelt, als er in einer weiteren Handschrift al-Bakrīs den vollständig aufgeführten Namen der Person vorfand, nämlich Ibrāhīm b. Yaʿqūb al-Isrāʾīlī al-Ṭarṭūšī.<ref name="ftn16">Engels, Reisebericht, S. 416.</ref>


[§7] Bis jetzt ist die Forschung noch zu keinem Konsens hinsichtlich des Reisezeitpunktes und der Reisedauer al-Ṭarṭūšīs gekommen: Jacob hatte die Reise in das Jahr 973 gelegt. Kowalski argumentierte dagegen, dass es einen mächtigen bulgarischen König, den al-Ṭarṭūšī im Kontext der bulgarischen Gesandtschaft an Ottos Hof erwähnte, 973 nicht mehr gegeben habe, da dieser seit 971 in byzantinischer Gefangenschaft saß. Die Bezeichnung Ottos als „König der Römer“ (''malik al-Rūm'') zeige außerdem, dass die Begegnung mit Otto frühestens nach seiner Kaiserkrönung am 2. Februar 962 habe stattfinden können. Aufgrund mehrerer Überlegungen, die hier nicht im Einzelnen angeführt werden können, kam er zu dem Schluss, dass al-Ṭarṭūšī seine Reise am 28.12.965 antrat, die bis zum 16.12.966 angedauert haben soll.<ref name="ftn17">Engels, Reisebericht, S. 416-417.</ref> André Miquel legte die Reise in das Jahr 965.<ref name="ftn18">Miquel, L‘Europe occidentale, S. 1049.</ref> Alternativ schlug Abdurrahman Ali El-Hajji vor, al-Ṭarṭūšī sei 961 nicht Otto, sondern Papst Johannes XII. (sed. 955-963) begegnet und habe Otto erst 965 getroffen. Damit veranschlagte er sechs Jahre für eine von 961 bis 967 andauernde Reise.<ref name="ftn19">El-Hajji, Ibrāhīm Ibn Yaʿqūb, S. 31-32, 39.</ref> Peter Engels schließlich lässt die Reise al-Ṭarṭūšīs im Jahr 960/61 beginnen und nach dem Februar 962 enden, argumentiert also für eine grob anderthalbjährige Reise.<ref name="ftn20">Engels, Reisebericht, S. 416.</ref> Jean-Charles Ducène wiederum datiert die Reise auf den Zeitraum zwischen 960 und 965.<ref name="ftn21">Ducène, ''L’Europe et les géographes arabes'', S. 163-165.</ref>
[§7] Bis jetzt ist die Forschung noch zu keinem Konsens hinsichtlich des Reisezeitpunktes und der Reisedauer al-Ṭarṭūšīs gekommen: Jacob hatte die Reise in das Jahr 973 gelegt. Kowalski argumentierte dagegen, dass es einen mächtigen bulgarischen König, den al-Ṭarṭūšī im Kontext der bulgarischen Gesandtschaft an Ottos Hof erwähnte, 973 nicht mehr gegeben habe, da dieser seit 971 in byzantinischer Gefangenschaft saß. Die Bezeichnung Ottos als „König der Römer“ (''malik al-Rūm'') zeige außerdem, dass die Begegnung mit Otto frühestens nach seiner Kaiserkrönung am 2. Februar 962 habe stattfinden können. Aufgrund mehrerer Überlegungen, die hier nicht im Einzelnen angeführt werden können, kam er zu dem Schluss, dass al-Ṭarṭūšī seine Reise am 28.12.965 antrat, die bis zum 16.12.966 angedauert haben soll.<ref name="ftn17">Engels, Reisebericht, S. 416-417.</ref> André Miquel legte die Reise in das Jahr 965.<ref name="ftn18">Miquel, L‘Europe occidentale, S. 1049.</ref> Alternativ schlug Abdurrahman Ali El-Hajji vor, al-Ṭarṭūšī sei 961 nicht Otto, sondern Papst Johannes XII. (sed. 955-963) begegnet und habe Otto erst 965 getroffen. Damit veranschlagte er sechs Jahre für eine von 961 bis 967 andauernde Reise.<ref name="ftn19">El-Hajji, Ibrāhīm Ibn Yaʿqūb, S. 31-32, 39.</ref> Peter Engels schließlich lässt die Reise al-Ṭarṭūšīs im Jahr 960/61 beginnen und nach dem Februar 962 enden, argumentiert also für eine grob anderthalbjährige Reise.<ref name="ftn20">Engels, Reisebericht, S. 416.</ref> Jean-Charles Ducène wiederum datiert die Reise auf den Zeitraum zwischen 960 und 965.<ref name="ftn21">Ducène, ''L’Europe et les géographes arabes'', S. 163-165.</ref>
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[§27] Zu dieser Quellenproblematik kommt hinzu, dass hinter der arabischen Bezeichnung „Anbeter des Sirius“ (''ʿabdat al-šiʿrā'') ein muslimisch-exegetischer Topos angenommen werden kann: Im Qurʾān (Q 53:49) wird Gott als „der Herr des Sirius“ (''rabbu l-šiʿrā'') bezeichnet. Mittelalterliche muslimische Koranexegeten wie al-Qurṭubī (gest. 671/1272) erklärten diese Bezeichnung Gottes damit, dass die vorislamischen Araber den Sirius angebetet oder zumindest geglaubt hätten, dass er Einfluss auf die Geschicke der Welt nehme.<ref name="ftn75">Al-Qurṭubī (gest. 671/1272), ''al-Ǧāmiʿ li-aḥkām al-Qurʾān'', ed. ʿAbd Allāh b. ʿAbd al-Muḥsin al-Turkī, Beirut: Muʾassasat al-Risāla, 1427/2006, Bd. 20, S. 62. Ich danke Mohamed Qassiti für diesen Hinweis. </ref> Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass al-Ṭarṭūšī bzw. al-Qazwīnī eine in ihrer heimischen religiös-kulturellen Prägung verankerte koranische und koran-exegetische Bezeichnung benutzten, um heidnisch-nordische Kultpraktiken einzuordnen.<ref name="ftn76">Für einen vergleichbaren Fall, siehe König, ''Arabic-Islamic Views,'' S. 107-108.</ref>
[§27] Zu dieser Quellenproblematik kommt hinzu, dass hinter der arabischen Bezeichnung „Anbeter des Sirius“ (''ʿabdat al-šiʿrā'') ein muslimisch-exegetischer Topos angenommen werden kann: Im Qurʾān (Q 53:49) wird Gott als „der Herr des Sirius“ (''rabbu l-šiʿrā'') bezeichnet. Mittelalterliche muslimische Koranexegeten wie al-Qurṭubī (gest. 671/1272) erklärten diese Bezeichnung Gottes damit, dass die vorislamischen Araber den Sirius angebetet oder zumindest geglaubt hätten, dass er Einfluss auf die Geschicke der Welt nehme.<ref name="ftn75">Al-Qurṭubī (gest. 671/1272), ''al-Ǧāmiʿ li-aḥkām al-Qurʾān'', ed. ʿAbd Allāh b. ʿAbd al-Muḥsin al-Turkī, Beirut: Muʾassasat al-Risāla, 1427/2006, Bd. 20, S. 62. Ich danke Mohamed Qassiti für diesen Hinweis. </ref> Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass al-Ṭarṭūšī bzw. al-Qazwīnī eine in ihrer heimischen religiös-kulturellen Prägung verankerte koranische und koran-exegetische Bezeichnung benutzten, um heidnisch-nordische Kultpraktiken einzuordnen.<ref name="ftn76">Für einen vergleichbaren Fall, siehe König, ''Arabic-Islamic Views,'' S. 107-108.</ref>


[§28] Dies schließt allerdings nicht aus, dass al-Ṭarṭūšī in seinem Reisebericht tatsächlich kultische Praktiken beschrieb: Die (heidnischen) Stadtbewohner, so al-Ṭarṭūšī, kämen zu einem Fest zusammen, um das Verehrte zu verherrlichen (''li-taʿẓīm al-maʿbūd''), Trank und Speise zu sich zu nehmen, sowie einen Teil des Opferfleisches an der eigenen Haustür zur Schau zu stellen. Solche Opferfeste sind für das wikingerzeitliche Skandinavien vergleichsweise gut belegt. Sowohl christliche Autoren wie Adam von Bremen und Snorri Sturluson als auch Verbote entsprechender heidnischer Praktiken in christlichen Gesetzestexten liefern belastbare Nachweise für die Existenz solcher Opferfeste.<ref name="ftn77">Hultgård, Religion, S. 215-216.</ref> Einige Praktiken wurden überdies unter ihrer Bezeichnung überliefert. Hierzu zählen z.B. ''blótveizlur<ref name="ftn78">''Zusammensetzung aus altnordisch blótan = opfern und veizla = Festmahl. Blótveizlur = „sacrificial banquet“. Siehe Zoëga, Concise Dictionary of Old Icelandic, S. 60, 61, 96, 480 (Lemmata „blótan“, „blót-veizla“, „drykkia“, „blótan“). Zu blótveizlur schreibt Hultgård, Altskandinavische Opferrituale, S. 238: „Die Kultteilnehmer versammeln sich an einem Kultplatz, bringen Opfertiere, Speise und Trank mit. Die Tiere werden geschlachtet, die dazu bestimmten Opferelemente werden der Gottheit übergeben, und ein rituelles Mahl wird gehalten.“''</ref> und ''blótdrykkjur<ref name="ftn79">''Zusammensetzung aus altnordisch blótan = opfern und drykkia = trinken. Siehe Zoëga, Concise Dictionary, S. 60, 96. ''</ref>, Opferriten, die oft Bestandteil der großen saisonalen Festlichkeiten darstellten und, so Hultgård, eine Vielzahl von Menschen angezogen hätten.<ref name="ftn80">Hultgård, Religion, S. 215.</ref> Wenn – wie al-Ṭarṭūšī berichtet – das Hauptnahrungsmittel der Menschen in der Stadt Fisch sei und diejenigen, die an solchen Opferfesten teilnahmen, ihre Opfer prestigeträchtig am eigenen Haus zur Schau stellten, so stellt sich die Frage, ob hier auch ein Wohlstandsgefälle innerhalb der Stadt zu Tage tritt. Der Besitz oder der Erwerb von Kühen, Ziegen und Schweinen für ein Opferzeremoniell dürfte für einen Bevölkerungsteil, dem al-Ṭarṭūšī zuschreibt, aus finanzieller Not die eigenen Neugeborenen zu ertränken, außerhalb des Erschwinglichen gelegen haben. Weiter könnte gefragt werden, ob ein solches Opferfest von der gesamten nicht-christlichen Stadtbevölkerung, oder lediglich von der lokalen Stadtelite zelebriert wurde.
[§28] Dies schließt allerdings nicht aus, dass al-Ṭarṭūšī in seinem Reisebericht tatsächlich kultische Praktiken beschrieb: Die (heidnischen) Stadtbewohner, so al-Ṭarṭūšī, kämen zu einem Fest zusammen, um das Verehrte zu verherrlichen (''li-taʿẓīm al-maʿbūd''), Trank und Speise zu sich zu nehmen, sowie einen Teil des Opferfleisches an der eigenen Haustür zur Schau zu stellen. Solche Opferfeste sind für das wikingerzeitliche Skandinavien vergleichsweise gut belegt. Sowohl christliche Autoren wie Adam von Bremen und Snorri Sturluson als auch Verbote entsprechender heidnischer Praktiken in christlichen Gesetzestexten liefern belastbare Nachweise für die Existenz solcher Opferfeste.<ref name="ftn77">Hultgård, Religion, S. 215-216.</ref> Einige Praktiken wurden überdies unter ihrer Bezeichnung überliefert. Hierzu zählen z.B. ''blótveizlur''<ref name="ftn78">Zusammensetzung aus altnordisch ''blótan'' = opfern und ''veizla'' = Festmahl. ''Blótveizlur'' = „sacrificial banquet“. Siehe Zoëga, Concise Dictionary of Old Icelandic, S. 60, 61, 96, 480 (Lemmata „blótan“, „blót-veizla“, „drykkia“, „blótan“). Zu ''blótveizlur'' schreibt Hultgård, Altskandinavische Opferrituale, S. 238: „Die Kultteilnehmer versammeln sich an einem Kultplatz, bringen Opfertiere, Speise und Trank mit. Die Tiere werden geschlachtet, die dazu bestimmten Opferelemente werden der Gottheit übergeben, und ein rituelles Mahl wird gehalten.“</ref> und ''blótdrykkjur''<ref name="ftn79">Zusammensetzung aus altnordisch ''blótan'' = opfern und ''drykkia'' = trinken. Siehe Zoëga, Concise Dictionary, S. 60, 96. ''</ref>, Opferriten, die oft Bestandteil der großen saisonalen Festlichkeiten darstellten und, so Hultgård, eine Vielzahl von Menschen angezogen hätten.<ref name="ftn80">Hultgård, Religion, S. 215.</ref> Wenn – wie al-Ṭarṭūšī berichtet – das Hauptnahrungsmittel der Menschen in der Stadt Fisch sei und diejenigen, die an solchen Opferfesten teilnahmen, ihre Opfer prestigeträchtig am eigenen Haus zur Schau stellten, so stellt sich die Frage, ob hier auch ein Wohlstandsgefälle innerhalb der Stadt zu Tage tritt. Der Besitz oder der Erwerb von Kühen, Ziegen und Schweinen für ein Opferzeremoniell dürfte für einen Bevölkerungsteil, dem al-Ṭarṭūšī zuschreibt, aus finanzieller Not die eigenen Neugeborenen zu ertränken, außerhalb des Erschwinglichen gelegen haben. Weiter könnte gefragt werden, ob ein solches Opferfest von der gesamten nicht-christlichen Stadtbevölkerung, oder lediglich von der lokalen Stadtelite zelebriert wurde.


[§29] Von der christlichen Minderheit berichtet al-Ṭarṭūšī, sie habe eine eigene Kirche innerhalb der Stadt besessen. Schon im Jahre 780, inmitten der Sachsenkriege Karls des Großen (regn. 768-814), rückte das Christentum durch die Einteilung der eroberten sächsischen Gebiete in Missionsbezirke näher an Haithabu/Schleswig heran. Im Jahre 787 wurde in Bremen ein fester Bischofssitz eingerichtet, bis 814 wurden in Münster, Osnabrück, Minden, Paderborn, Hildesheim und Verden weitere Diözesen gegründet. Die erste missionarische Tätigkeit jenseits der Eider begann durch Erzbischof Ebo von Reims (sed. 845-851), der unter dem Schutz Ludwigs des Frommen (regn. 814-840) im Jahre 823 bei den Dänen weilte. Nach dessen Rückkehr ergriff der Missionsbischof Ansgar von Bremen (sed. 826/831-865) in innerdänischen Machtkämpfen Partei für Harald Klak (regn. 812-814 und 819-827). Als Dank für die fränkische Unterstützung ließ sich Harald in Anwesenheit des Kaisers und seiner Familie 826 taufen, konnte sich als Herrscher der Dänen jedoch nicht durchsetzen. So scheiterten vorerst die missionarischen Bemühungen Ansgars nördlich der Eider.<ref name="ftn81">Schieffer, ''Christianisierung'', S. 49-52.</ref>Seiner zwischen 865 und 876 verfassten frühen Vita zufolge erreichte es Ansgar allerdings, mit der Erlaubnis des dänischen Königs Horich (regn. 813-854), in ''Sliaswic'' eine Kirche zu errichten.<ref name="ftn82">In Rimbert, ''Vita Anskarii'', ed. Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 55), Hannover: Hahn, 1884, cap. 24, S. 52, wird ''Sliaswic'' und nicht ''Hediba''/Haithabu als Ort genannt, in dem Ansgar seine Kirche errichten durfte.</ref> Archäologisch ist bis auf eine Kirchenglocke, die wohl ins achte oder neunte Jahrhundert datiert und im Hafenbecken von Haithabu gefunden wurde, bislang kein Kirchenbau in der Wallanlage nachgewiesen.<ref name="ftn83">Rösch, The Schleswig Waterfront, S. 162.</ref> Christliche Bemühungen zur Missionierung nördlich der Eider fanden mit dem Tode König Horichs im Jahre 854 ein vorläufiges Ende.<ref name="ftn84">Schieffer, ''Christianisierung'', S. 53.</ref>
[§29] Von der christlichen Minderheit berichtet al-Ṭarṭūšī, sie habe eine eigene Kirche innerhalb der Stadt besessen. Schon im Jahre 780, inmitten der Sachsenkriege Karls des Großen (regn. 768-814), rückte das Christentum durch die Einteilung der eroberten sächsischen Gebiete in Missionsbezirke näher an Haithabu/Schleswig heran. Im Jahre 787 wurde in Bremen ein fester Bischofssitz eingerichtet, bis 814 wurden in Münster, Osnabrück, Minden, Paderborn, Hildesheim und Verden weitere Diözesen gegründet. Die erste missionarische Tätigkeit jenseits der Eider begann durch Erzbischof Ebo von Reims (sed. 845-851), der unter dem Schutz Ludwigs des Frommen (regn. 814-840) im Jahre 823 bei den Dänen weilte. Nach dessen Rückkehr ergriff der Missionsbischof Ansgar von Bremen (sed. 826/831-865) in innerdänischen Machtkämpfen Partei für Harald Klak (regn. 812-814 und 819-827). Als Dank für die fränkische Unterstützung ließ sich Harald in Anwesenheit des Kaisers und seiner Familie 826 taufen, konnte sich als Herrscher der Dänen jedoch nicht durchsetzen. So scheiterten vorerst die missionarischen Bemühungen Ansgars nördlich der Eider.<ref name="ftn81">Schieffer, ''Christianisierung'', S. 49-52.</ref>Seiner zwischen 865 und 876 verfassten frühen Vita zufolge erreichte es Ansgar allerdings, mit der Erlaubnis des dänischen Königs Horich (regn. 813-854), in ''Sliaswic'' eine Kirche zu errichten.<ref name="ftn82">In Rimbert, ''Vita Anskarii'', ed. Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 55), Hannover: Hahn, 1884, cap. 24, S. 52, wird ''Sliaswic'' und nicht ''Hediba''/Haithabu als Ort genannt, in dem Ansgar seine Kirche errichten durfte.</ref> Archäologisch ist bis auf eine Kirchenglocke, die wohl ins achte oder neunte Jahrhundert datiert und im Hafenbecken von Haithabu gefunden wurde, bislang kein Kirchenbau in der Wallanlage nachgewiesen.<ref name="ftn83">Rösch, The Schleswig Waterfront, S. 162.</ref> Christliche Bemühungen zur Missionierung nördlich der Eider fanden mit dem Tode König Horichs im Jahre 854 ein vorläufiges Ende.<ref name="ftn84">Schieffer, ''Christianisierung'', S. 53.</ref>
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