Geschlechterverhältnisse (Reinhart Fuchs)

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Der vorliegende Artikel thematisiert die Geschlechterverhältnisse in Heinrichs des Glîchezære Tierepos Reinhart Fuchs. Hierfür werden im Anschluss die wichtigsten männlichen und weiblichen (Tier)Figuren hinsichtlich ihrer Beziehungen und Charakteristika dargestellt. Im Zuge dieses Artikels wird eine kennzeichnende Unterscheidung zwischen verheirateten und ledigen Charakteren vorgenommen, um die Verhältnisse zwischen den einzelnen Geschlechtern in Reinhart Fuchs adäquat zu untersuchen.


Die Bedeutung des Geschlechts und der Geschlechterverhältnisse in Reinhart Fuchs

Um die Geschlechterverhältnisse im Tierepos Reinhart Fuchs beleuchten zu können, muss zunächst der Begriff Geschlecht definiert werden. Generell ist zwischen Gender und Sex zu unterscheiden. Unter Sex versteht man das anatomische Geschlecht, mit Gender ist das sozial determinierte Geschlecht gemeint (vgl. [Sieber 2015: 117 f.]). "Stereotype körperliche Merkmale [...]" [Sieber 2015: 118] gehören zudem der Kategorie Gender an. In Reinhart Fuchs spielt das anatomische Geschlecht der Charaktere nahezu keine Rolle. Einzig hinsichtlich der Wölfin Hersant sollte das anatomische Geschlecht in Betracht gezogen werden. Diesem Aspekt widmet sich der Artikel an einer späteren Stelle. Abgesehen von dieser Ausnahme ist im Zuge dieses Artikels unter Geschlecht immer Gender zu verstehen.

In Reinhart Fuchs treten sowohl männliche als auch weibliche Charaktere auf. Für die Analyse ihrer Charakteristika und ihrer Handlungen ist es von Vorteil, wenn ihre Geschlechter berücksichtigt werden. Oftmals werden den (Tier)Figuren aufgrund von vorherrschenden Geschlechternormen bestimmte Attribute zugewiesen (vgl. [Sieber 2015: 121]). Auch werden gesellschaftliche Position und das Verhältnis zu den anderen (Tier)Figuren durch das Geschlecht des Wesens beeinflusst. An wechseln konkreten Stellen sich dieser Gedanke in dem Epos Reinhart Fuchs wieder findet, wird im weiteren Verlauf untersucht.

Unterteilung und Überleitung

Im Laufe des Epos treten (Tier)Figuren auf, die in unterschiedlichster Weise im Verhältnis zueinander stehen. Als bedeutender Unterscheidungspunkt ist das Verhältnis von Mann und Frau, die in einer ehelichen Beziehung zueinander stehen, von dem Verhältnis der ledigen Charaktere und ihrer Umwelt abzugrenzen.

Die Rolle von Mann und Frau im ehelichen Verhältnis

In diesem Abschnitt wird das eheliche Verhältnis von Mann und Frau dargestellt. In diesem Zusammenhang wird eine Unterteilung vorgenommen. Das eheliche Verhältnis von den Tieren ist von dem ehelichen Verhältnis der Menschen zu differenzieren.

Tiere

Der Fokus des Tierepos liegt auf der Beziehung der Tiere. Die am meisten thematisierten und somit die wichtigsten vorkommenden Ehepaare sind Hahn und Henne, sowie Wolf und Wölfin.

Hahn und Henne: Herr Scantecler und Frau Pinte

Der Hahn Scantecler ist, als einzige männliche Tierfigur im Stall, das Oberhaupt. Es gibt zwar viele weitere Hennen, jedoch ist die Henne Frau Pinte die "Musterhenne" [Ruh 1980: 17] des Hahns Scantecler. Verstärkend kommt hinzu, dass sie die einzig namentlich genannte Henne ist. Es ist folglich davon auszugehen, dass es sich bei Frau Pinte um die 'Haupthenne' handelt. Die Beziehung Scanteclers zu den anderen Hennen ist als Friedelehe zu verstehen. Neben der regulären Ehe ist für den Ehemann eine (oder mehrere) Beziehung mit einer anderen Frau durchaus normkonform. Allerdings liegt hier aus sexueller Sicht keine Abstufung der verschiedenen Hennen vor. Sie sind gleichgestellt, weshalb es keine Haupt- und Nebenehen gibt. Vielmehr handelt es sich bei dem Zusammenleben im Stall um Polygynie (vgl. [Mecklenburg 2017: 90]). An dieser Stelle ist ein fundamentaler Aspekt bezüglich der Geschlechterverhältnisse in Reinhart Fuchs auszumachen, der auch in den folgenden Abschnitten des vorliegenden Artikels seine Gültigkeit behält. Alle präsentierten Tierfiguren bilden die adlige Oberschicht der Gesellschaft ab (vgl. [Mecklenburg 2017: 90]). Die Normen denen sie unterliegen sind folglich die Normen des Adels zur mittelalterlichen Zeit. Aus adeliger Sicht ist Polygynie nicht normkonform. Jedoch muss an dieser Stelle eine scharfe Trennung von Tier und Mensch vorgenommen werden. Denn obwohl Hahn und Henne bis zu einem gewissen Grad menschliche Verhaltensweisen zugeschrieben werden, sind sie dennoch als das was sie letztlich sind zu betrachten: als Tiere. Einzig ihrer Animalität ist es zu verdanken, dass ihre Ehe trotz der zuvor dargestellten Gesichtspunkte als normkonform eingestuft werden kann. Weiter noch kann man die Beziehung zwischen dem Hahn Scantecler und der Henne Pinte als eine monogame Beziehung bezeichnen. Die Begründung für diese Annahmen liegt darin, dass es für Hahn und Henne nur allzu natürlich ist, dass der Hahn aus sexueller Sicht ein gleichrangiges Verhältnis mit mehreren Hühnern hat. Anderenfalls würden sie dem Menschen als Nutztiere, für die Eierproduktion, wenig nutzen. Verstärkt wird die Auffassung der monogamen Beziehung zwischen Scantecler und Pinte dadurch, dass in der folgenden Erzählung lediglich die Henne Pinte auftritt (vgl. hierfür den Primärtext Reinhart Fuchs, im Folgenden abgekürzt mit: [RF 2005: V.1458f. ; 1938-1943]). Das Verhältnis von Hahn und Henne ist durch eine klare Rollenverteilung gekennzeichnet. Wie zuvor erwähnt, ist Herr Scantecler das Oberhaupt und verfügt so über jegliche Entscheidungs- und Handlungsgewalt. Auch erzählerisch wird das Augenmerk auf den Hahn gelegt. Er wird zuerst (namentlich) genannt und die anderen Tierfiguren sind narrativ von ihm abhängig (vgl. [RF 2005: V.39]) (vgl. hierfür auch [Mecklenburg 2017: 89]). Dennoch nimmt Frau Pinte eine gewichtige Rolle im Geschehen ein. Um dies zu verdeutlichen, wird eine der frühen Textstellen aus Reinhart Fuchs herangezogen.

Der Fuchs Reinhart schleicht sich eines Morgens, auf der Suche nach Nahrung, in den Hühnerstall des Bauern Lanzelin, wo der Hahn Scantecler und seine Hennen zu Hause sind. Bereits zuvor haben die Stallbewohner mit Reinharts Absichten und Listen Bekanntschaft gemacht. Auch wird der Hahn Scantecler zuvor durch seinen Traum im Schlaf gewarnt. Als die Henne Frau Pinte den Fuchs Reinhart bemerkt, versetzt sie alle in Alarmbereitschaft. Ihr Mann Scantecler nimmt sie jedoch nicht ernst.


Mittelhochdeutsch Übersetzung [1] [V. 75-85, 89-90]
vrowe Pinte sprach: ,er vnde trvot, Frau Pinte sagte: "Herr und Vertrauter,
ich sach sich regen in ienem chruot: ich habe gesehen, wie sich etwas in dem Gestrüpp bewegte:
mich entrigen mine sinne: wenn mich meine Sinne nicht täuschen,
hi ist ich enweiz was vbeles inne. geht hier wer weiß was Übles vor sich.
der riebe got beschirme dich! Der liebe Gott beschütze dich!
mir gat vber erklich. mir geht es wirklich schlecht
mir grovwet so, ich vurchte, wir mir drängt sich ein Gedanke auf und ich befürchte,
ze noten komen, daz sag ich dir.' dass wir in Bedrängnis geraten, das sage ich dir."
Scantecler sprach: ,sam mir min lip, Scantecler sagte: "Bei meinem Leben,
mer verzaget ein wip, ein einziges Weib fürchtet sich mehr,
danne tvn viere man. als vier Männer zusammen.

(...)

vrowe Pinte sprach: ,lazet ewern zorn Frau Pinte sagte: "Hört auf euch aufzuregen
vnde vliget vf disen dorn.' und fliegt auf den Ast da."


Weiter appelliert Frau Pinte an ihren Mann, daran zu denken, dass ihre gemeinsamen Kinder noch sehr klein seien und wie es ihr ergehen würde, wenn er sie zur Witwe machte. Daraufhin fliegt Scantecler auf einen Ast (vgl. [RF 2005: V.91-99]).

Aus Scanteclers Sicht herrscht keine allzu große Gefahr. Er gibt sich gelassen und "[...] glaubt [...], die konkreten Warnungen Pintes eitel-souverän kommentieren zu dürfen [...]" [Ruh 1980: 17]. Als Reinhart seine List an dem Hahn anwendet, fällt dieser sogleich darauf rein. Schnell lässt er jede Vorsicht fallen, als er mit seinem Vater verglichen wird. Der Ehrbegriff und die Aufrechterhaltung des guten Rufs der Familie scheinen ihm mehr zu bedeuten als das Vorhandensein der Gefahr auf Leib und Leben. Reinhart lässt ganz bewusst den Begriff der Treue fallen. Er hofft, dass er den stolzen Hahn in seiner Ehre kränken kann und dass dieser sich dem widersetzt, indem er Mut beweist und zu ihm herab fliegt. Als genau dies eintritt, schnappt Reinhart sich den Hahn Scantecler. In diesem Moment fängt die Henne Pinte laut an zu schreien und ruft somit den Bauern herbei. So gelingt es dem Hahn mit dem Leben davon zu kommen (vgl. [RF 2005: V.104-151]). Der Hahn Scantecler verkörpert das stereotype Auftreten eines Mannes: scheinbar allen überlegen und von sich selbst überzeugt. Damit geht auch ein egoistisches Verhalten einher. Trotz seiner vorherigen Erfahrungen mit dem Fuchs, die Warnung in Form seines Traums und die Warnungen seiner Frau lässt er sich nicht in seiner vermeintlichen Männlichkeit beirren. Es wird deutlich, dass die genannte Attribute einen hohen Stellenwert für die Handlungsentscheidungen des Hahns haben. Egoistisch ist er, da er die Worte seiner Frau an sie und die Kinder zu denken sogleich vergisst, als es um sein eigenes Wohl geht. Ganz eindeutig fehlt es dem Hahn an Vernunft und Klugheit. Hätte er statt seines Egoismus und seiner grenzenlosen Selbstüberzeugung Vernunft und Verstand walten lassen, wäre die Begegnung mit Reinhart anders verlaufen. Die Henne Pinte nimmt wie bereits erwähnt trotz der fehlenden Entscheidungsmacht eine eintscheidnene Rolle ein. Sie scheint die Defizite ihres Mannes in gewisser Form auszugleichen. Sie nimmt die Gefahrensituation vollständig wahr. Auch fällt sie nicht auf Reinharts List herein. Trotz ihrer offensichtlichen Zuneigung zu ihrem Mann lässt sie nicht zu, dass dieser sie mit seinen sorglosen Worten in ihrem Bewusstsein trübt. Die weibliche Tierfigur der Pinte ist gekennzeichnet durch Intelligenz und Vernunft. Ein weiteres stereotypes Merkmal könnte ihre fehlende Besonnenheit sein - sie schreit und ängstigt sich. Jedoch kann man das Verhalten von der Henne Pinte in Anbetracht der Tatsache, dass ihnen einer ihrer schlimmsten Feinde entgegentritt, durchaus als moderat bezeichnen.

Einen wichtigen Gesichtspunkt gilt es noch zu beachten. Die Rezipent*innen bekommen durchaus den Eindruck, dass der Hahn Scantecler und die Henne Pinte sich gegenseitig achten. Sie kommunizieren in respektvoller Weise miteinander (vgl. hierfür auch [Mecklenburg 2017: 91]). Dennoch ist ein klares Machtverhältnis auszumachen. Ein bedeutungsvolles stereotypes Merkmal der Frau ist die fehlende Macht- und Gewaltfähigkeit (vgl. [Mecklenburg 2017: 94]). In Bezug auf das Ehepaar Hahn und Henne spielt die Gewalt zwar keine Rolle, sehr wohl aber das Machtverhältnis. Da die Henne Pinte ihrem Mann zwar zureden kann, ihn jedoch zu nichts zwingen kann, ist Scantecler in der Lage, sich ihren Bitten zu widersetzen. Der Hahn Scantecler ist sich seiner Position und auch seiner Macht bewusst. Diese Überlegenheit ist außerdem der Grund für den vorläufigen Rückzug Scanteclers auf einen Ast. Denn mit dem ehelichen Machtverhältnis geht auch eine Schutzpflicht von Scantecler für seine Ehefrau und seine Kinder einher. Diese Pflicht ermöglicht es dem Hahn, sich auf den Ast in Sicherheit zu begeben, ohne dass er darum zu fürchten braucht, feige zu wirken oder einem Kampf mit dem Feind aus dem Weg zu gehen (vgl. [Mecklenburg 2017: 91]).

Wolf und Wölfin: Herr Isengrin und Frau Hersant

Im Laufe der Geschichte trifft der Protagonist Reinhart auf die Wolfsfamilie. Zunächst wird er auf den Wolf Isengrin aufmerksam, dieser tritt narrativ zuerst auf. Erst im Anschluss daran wird die Wölfin Hersant erwähnt (vgl. hierfür auch [Mecklenburg 2017: 92]). Jedoch geschieht dies nicht namentlich, anders als beim Wolf, sondern sie wird als Frau des Wolfs Isengrin betitelt (vgl. [RF 2005: V.385-403]). Die primäre erzählerische Präsentation der Wolfsfamilie erweckt folgenden Eindruck: Der Wolf Isengrin erfüllt die stereotypen Charakteristika eines Mannes: er ist stark und als Oberhaupt seiner Herde verfügt er über die Entscheidungs- und Handlungsgewalt. Seinen Wunsch sich der Herde anzuschließen bringt Reinhart, der die vermeintliche Rollenverteilung der Herde instinktiv zu durchschauen scheint, beim Wolf Isengrin vor. In der folgenden Textstelle wird der Versuch Reinharts den Wolf von seinem Anliegen zu überzeugen aufgeführt:

Mittelhochdeutsch Übersetzung [*V.385-401]
Do Reinhart die not vberwant, Als Reinhart aus der Notlage entkommen war,
vil schire er den wolf Ysengrin vant. traf er bald darauf auf den Wolf Isengrin.
do er in von erst ane sach, Weil er ihn zuerst erblickte,
nv vernemet, wie er do sprach: nun hört euch an, was er sprach:
,got gebe evch, herre, gvten tac. „Gott schenke Euch einen guten Tag, mein Herr.
swaz ir gebietet vnde ich mac Ich kann tun was auch immer Ihr verlangt und
evch gedinen vnde der vrowen min, Euch und meiner Herrin dienen,
des svlt ir beide gewis sin. dessen sollt ihr euch beide sicher sein.
ich bin dvrch warnen her zv ev kvmen, Ich bin zu euch gekommen, weil ich euch warnen will,
wan ich han wol vernumen, denn ich habe mit Sicherheit gehört,
daz evch hazzet manic man. dass Euch manch einer hasst.
wolt ir mich zv gesellen han? Wollt ihr mich zum Diener haben?
ich bin listic, starc sit ir, Ich bin listig, Ihr seid stark,
ir mochtet gvten trost han zv mir. Ihr könntet guten Schutz durch mich haben.
vor ewere kraft vnde von minen listen Vor eurer Stärke und von meinen Gerissenheit
konde sich niht gevristen, könnte man sich nicht schützen,
ich konde eine bvrc wol zebrechen.' ich könnte selbst eine Burg zerstören.“

Fortführend wird den Rezipient*innen Reinharts wirkliche Absicht, die Minne an der Wölfin Hersant, mitgeteilt (vgl. [RF 2005: V.407-408]). Dies mag außerdem der Grund sein, weshalb er explizit auch die Wölfin in seine Rede mit einbezieht. Des Weiteren wird bei dem Wolfsehepaar, im Unterscheid zu dem Ehepaar Hahn und Henne, das Bild des männlichen alleinigen Oberhauptes verworfen, als Isengrin sich an seine Frau und seine Söhne wendet, um Reinharts Angebot zu beraten (vgl. [RF 2005: V.402-403]). Neben dem Wolf Isengrin hat auch die Wölfin Hersant ein Mitbestimmungsrecht. Die Entscheidung Reinharts Bündisangebot anzunehmen wird "[...] gemeinschaftlich und einstimmig [...]" getroffen (vgl. [Mecklenburg 2017: 93]). An dieser Stelle ist festzuhalten, dass das Machtverhältnis von Mann und Frau in dieser Konstellation atypisch ist. Der Wolf Isengrin scheint nicht die alleinige Entscheidungsmacht zu haben. Zur genaueren Differenzierung ist es ratsam, das Außenverhältnis und das Innenverhältnis des Ehepaares voneinander zu trennen. Im Hinblick auf das Außenverhältnis scheint es so zu sein, dass dem Wolf Isengrin und die Wölfin "[...] eine geschlechtsindifferente Herrschaftsfähigkeit [...]" [Mecklenburg 2017: 93] zugeschrieben werden kann. Bezüglich des Innenverhältnisses gilt weiterhin die Norm, dass der Wolf Isengrin alleiniger Besetzer der Machtposition ist. Dies wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass der Wolf Isengrin dem Fuchs Reinhart für die Dauer seiner Abwesenheit die Verfügungsgewalt und Schutzpflicht gegenüber der Wölfin Hersant überträgt. (vgl. [Mecklenburg 2017: 93 f.] ; [RF 2005: V.416-18]). Demnach muss er im Innenverhältnis über mehr Macht als seine Frau verfügen. Wäre diese autonom, läge die Verantwortungen für sie bei ihr selbst und würde nicht über ihren Kopf hinweg von Mann zu Mann übertragen werden.

Die beiden Figuren lassen sich nicht nur als Ehepaar analysieren. Auch Mann und Frau für sich weisen ihre besonderen Merkmale auf. So wendet Reinhart seine Listen am Wolf Isengrin auf dieselbe Weise an, wie er es bereits beim Hahn getan hat. Er schmiert dem Wolf den sprichwörtlichen Honig ums Maul, indem er geschickt das männliche Ego des Wolfes manipuliert. Reinhart sagt zu dem Wolf, dass dieser stark sei und dass Reinhart von dieser Stärke profitieren würde (vgl. [RF 2005: V.397-401]). Der Wolf Isengrin lässt sich von diesen Worten und der Verlockung von Reinhart profitieren zu können becircen. Abermals lässt der Verstand der männlichen Tierfigur zu wünschen übrig, in diesem Fall in zweierlei Hinsicht: Zum einen sollte das, was Reinhart anmerkt auch für den Wolf nur allzu gut ersichtlich sein. Dass der Wolf dem Fuchs körperlich überlegen ist, ist eine Gegebenheit, die nicht erst durch Reinharts Anmerkung ihren Wahrheitsgehalt erlangt. Zum anderen - und dies hängt unweigerlich mit dem ersten Argument zusammen - hätte der Wolf Isengrin bemerken müssen, dass Reinhart mit dieser Bemerkung etwas bezwecken möchte. Dies tut er aber nicht und so überhört der Wolf das, was für ihn hätte eine Art versteckte Warnung sein können, hinter Reinharts Rede, nämlich dass dieser listig und gerissen ist. Ein weiteres Attribut, das dem Wolf zuzuschreiben ist, ist der Egoismus. Der Wolf ist in vielerlei Hinsicht sehr ich-bezogen und zielt des Öfteren auf das Mitleid anderer ab. Dies wird spätestens offensichtlich, als seine Frau Hersant vergewaltigt wird und Isengrin alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, indem er bitterlich anfängt zu weinen und sein Leid beklagt. Mit keinem Wort wendet er sich direkt an seine Frau. Den Rezipient*innen wird der Zustand und die Gefühlslage der Hersant gänzlich vorenthalten (vgl. [RF 2005: V.1193-1200]).

Als weitere Besonderheit ist herauszustellen, dass bezüglich der Konstellation Isengrin-Hersant nicht - wie bei Hahn und Henne - von einem Schwächeausgleich gesprochen werden kann. Die Wölfin Hersant ist ihrem Ehemann geistig nicht überlegen. Auch sie stimmt dem Bündnis zu und so wird Reinhart als Vetter in der Familie begrüßt (vgl. [RF 2005: V.404 f.]). Hersant tritt zudem im Kontrast zur Henne Pinte nicht als fürsorgliche, devote Ehefrau auf. Sie repräsentiert vielmehr in einigen Aspekten das Negativbeispiel einer Ehefrau. So lässt sie, wie in dem Artikel zum Minne-Diskurs erläutert, durchblicken, dass ihre Abweisung Reinharts nicht auf der Treue zu ihrem Ehemann basiert, sondern eher darauf, dass Reinhart ihr zu "swach" [RF 2005: V.433], d.h. zu erbärmlich und schwach ist.
Generell kann das Wolfsehepaar nicht derart konsequent in die stereotypen Felder der einzelnen Geschlechter unterteilt werden, wie es noch bei Huhn und Henne der Fall war (vgl. [Mecklenburg 2017: 93]). Hier ist die Begriffsklärung zu Beginn des Artikels zu berücksichtigen. Wenn man die Komponente Sex berücksichtigt, muss festgestellt werden, dass sich Wolf und Wölfin vom Körperbau nicht so stark unterscheiden, wie das andere Tier-Ehepaar. In Bezug auf die Größe und Stärke von Isengrin und Hersant, scheinen sie für den Leser geradezu indifferent. Zieht man die Komponente Gender hinzu, so ist die Unterscheidung eindeutiger vorzunehmen. Durch die erläuterten Merkmale wird deutlich, dass das gesellschaftliche Geschlecht der Wölfin Hersant ganz eindeutig weiblich ist und das des Wolfes Isengrin männlich.

Menschen

Wenn auch in der Unterzahl, gibt es menschliche Figuren in Reinhart Fuchs. Es handelt sich um zwei Ehepaare. Diese bestehen zum einen der Bauer Lanzelin und seine Frau und zum anderen der Priester und seine Frau. In diesem Kapitel wird die Differenz zu dem ehelichen Geschlechterverhältnis im Tierreich aufgezeigt.

Der Bauer und seine Frau

Der Bauer Lanzelin und seine Frau Ruozela werden zu Beginn der Erzählung eingeführt. Zuerst wird der Bauer Lanzelin namentlich genannt und erst im Anschluss - von ihm erzählerisch abgeleitet - seine Frau (vgl. [RF 2005: V.19 f.]) (vgl. hierfür auch [Mecklenburg 2017: 87]). Die folgende Textstelle soll einen detaillierten Einblick in das eheliche Verhältnis der beiden Figuren geben.


Mittelhochdeutsch Übersetzung [*V. 28-36]
babe Rvnzela zv im sprach: Das (alte) Mütterchen Ruozela sagte zu ihm:
,alder govch Lanzelin "Alter Narr Lanzelin
nv han ich der hvener min nun habe ich zehn von meinen Hühnern
von Reinharte zehen verlorn an Reinhart verloren.
daz mvet mich vnde ist mir zorn.' das ärgert mich und macht mich wütend."
meister Lanzelin was bescholten, Meister Lanzelin war zutiefst gedemütigt worden,
daz ist noch vnvergolten; und das ist noch immer ungebüßt.
doch er des niht enliez, Aber er zögerte nicht zu tun,
er tete, als in babe Rvnzela hiez. was ihm das Mütterchen Ruozela befohlen hatte.

Auffällig ist, dass die Konstruktion des Machtverhältnisses zwischen diesen beiden Eheleuten nicht den mittelalterlichen gesellschaftlichen Normen entspricht. Dies wird auch durch eine Bemerkung des Erzählers im Text deutlich (vgl. [RF 2005: V.34 f.]). Der verbale Umgang zwischen Mann und Frau ist keineswegs respektvoll. Es ist aber nicht der Mann, der seine Macht missbraucht, sondern die Frau die "[...] ihrem Ehemann gegenüber verbal aggressiv ist [...]" [Mecklenburg 2017: 87]. Dieser ordnet sich demütig unter und tut, was ihm seine Frau befiehlt. Durch diese devote Handlungsart fällt er unweigerlich aus dem stereotypen, Macht innehabenden Verhaltensmuster des Mannes heraus, was die zum jetzigen Zeitpunkt atypisch wirkende Konstellation des Geschlechterverhältnisses zwischen den beiden Figuren unterstreicht.

Der Priester und seine Frau

Als zweites menschliches Ehepaar treten der Pfarrer und seine Frau in das Geschehen ein. Erneut wird der Mann erzählerisch als erstes eingeführt und die Frau wird ihm zugehörig als seine Frau genannt (vgl. [RF 2005: V.34 f.]) (vgl. hierfür auch [Mecklenburg 2017: 87]). Ihr Verhältnis ist ebenfalls gekennzeichnet durch eine normwidrige Konstellation. Auch hier ist es die Frau, die die Machtposition einnimmt. Die Szene, in der sich die Situation zuspitzt, wird abermals durch eine von Reinharts Listen eingeleitet. Reinhart stellt dem Kater Diepreht eine Falle und lockt ihn in das Haus der Pfarrer-Eheleute. Die Frau bemerkt einen Eindringling, hält diesen für den Fuchs Reinhart und alarmiert ihren Mann. Dieser soll den vermeintlichen Reinhart erwischen. Als es ihm misslingt, bekommt er den Zorn seiner Frau zu spüren. Diese schlägt erst mit der Hand, dann mit einem Holzscheit auf ihn ein. Nur das Eingreifen der Kammerfrau verhindert, dass sie ihn zu Tode prügelt. (vgl. [RF 2005: V.1687-1723]) Wesentlich ist, dass die Grenzüberschreitung von Macht und Gewalt ein solches Ausmaß annimmt, dass das Ehepaar selbst nicht in der Lage ist, die Situation unter Kontrolle zu bringen (vgl. [Mecklenburg 2017: 88]). Die Position, die der Mann in diesem Geschlechterverhältnis einnimmt, wird noch dadurch akzentuiert, dass es kein Mann ist, der als Drittes dazwischentritt, sondern eine Frau (vgl. [Mecklenburg 2017: 88]). Weiter wird das bizarre Bild des Verhältnisses zwischen diesen beiden Eheleuten dadurch gezeichnet, dass der Pfarrer nach dem körperlichen Übergriff durch seine Frau, um Verzeihung bittet.

Zwischenfazit

Im ersten Schritt der Analyse der Geschlechterverhältnisse in Reinhart Fuchs wurden die Figuren in ehelichen Verhältnissen näher beleuchtet. Aus den einzelnen Betrachtungen ergibt sich ein Gesamtbild, das sich wie folgt zeichnen lässt:
Es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen den Tier-Ehepaaren und den Menschen-Ehepaaren. Dieser Unterschied lässt sich unter Berücksichtigung der außertextlichen mittelalterlichen Normen festmachen. Die ehelichen Beziehungen der Tiere sind summa-summarum normkonform, wohingegen die ehelichen Beziehungen der Menschen teilweise mit den zeitgenössischen Konventionen brechen.

Für die Frauen in den Ehebeziehungen der Tiere gilt (und dies könnte man für die Ehebeziehungen als Ganzes sagen), dass die Henne Pinte eine vorbildliche Ehefrau ist. Sie entspricht dem stereotypen Frauenbild des Mittelalters. Sie tritt in damenhafter Zurückhaltung auf und fügt sich somit in das Machtgefüge ein. Außerdem ist sie vernünftig und klug. Die Wölfin Hersant wird diesen Merkmalen in Teilen auch gerecht. Auch sie kennt ihre Grenzen im Machtgefüge und besetzt die normgeschaffene Rolle der Dame (vgl. [Mecklenburg 2017: 95]). Im Unterschied zur Henne Pinte zeichnet sie keine außerordentliche Klugheit und Vernunft im Vergleich zu ihrem Mann aus. Für die Männer in den Ehebeziehungen der Tiere lassen sich einheitlichere Angaben machen. Sowohl der Hahn Scantecler, als auch der Wolf Isengrin sind durch die stereotypen Attribute des Mannes gekennzeichnet: Egoismus, übersteigerte Selbstwahrnehmung und ein Mangel an Intelligent und Vernunft zeichnen sie aus. Außerdem stereotypisch ist, dass beide die Machtposition in dem Konstrukt 'Familie' innehaben.

In den Ehebeziehungen der Menschen liegt eine umgekehrte Rollenverteilung vor. Die Frauen sind jähzornig und überschreiten die normative Machtgrenze. Dadurch drehen sie das normkonforme Gewalt- und Machtverhältnis um. Die Männer sind devot und scheinen sich ihrer gesellschaftlichen Position nicht bewusst zu sein. Sie weisen in ihren jeweiligen Partnerbeziehungen das typische Attribut eines Mannes, Stärke und Macht zu demonstrieren, nicht auf. Die Geschlechterverhältnisse scheinen in den Ehebeziehungen der Menschen vertauscht zu sein. Dass die Rezipient*innen diesen Eindruck gewinnen macht deutlich, dass "[...] die Geschlechterdifferenz mit [einer] Positionierung in strukturellen Macht- und Gewaltverhältnissen verbunden ist und insofern auch Handlungen normiert und konstruiert [...]" [Mecklenburg 2017: 87].

Wie bereits angemerkt, repräsentieren die Tiere im Tierepos den Adel der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Die Menschen scheinen diesbezüglich weniger zu versagen, als dass sie das Kontrastbild zeichnen. Richtig ist, dass es sich für ein adeliges Ehepaar nicht schicken würde, sich so zu verhalten, wie es die dargestellten Menschen tun. Hinsichtlich des Ehepaars Bauer und Frau ist jedoch einzuwenden, dass es sich, der Berufsbezeichnung des Ehemanns entsprechend nicht um Repräsentanten des Adels, sondern des bäuerlichen Standes handelt. In diesen weniger kultivierten Gesellschaftskreisen sind solche Beziehungskonstellationen, wie sie Bauer und Frau führen, durchaus denkbar. Selbige Betrachtung ist auch bei dem Ehepaar Priester und Frau vorzunehmen. Als Priester und somit Geistlicher gehört er dem Stand des Klerus an und ist somit Teil des höchsten Standes. Folglich ist bei dem Priester-Ehepaar die Kritik der normwidrigen Partnerkonstellation durchaus berechtigt.

Stellt man beide Ehekonzepte einander gegenüber, wird die These der vertauschten Geschlechterverhältnisse im Hinblick auf die signifikanten Unterschiede der Männer verstärkt. Dennoch finden sich Gemeinsamkeiten der Frauen. Sie alle haben das stereotype Merkmal der fehlenden emotionalen Kontrolle. Bei der Henne Pinte ist dies eine Charakterschwäche, bei den Frauen der Menschen ist diese extreme Schwäche der Katalysator für ihre Gewaltausbrüche. Handelt es sich bei den Emotionsausbrüchen der Frau des Bauern Lanzelin noch um verbale Gewalt, so wird dies durch das Verhalten der Pfarrersfrau weiter in Form von physischer Gewalt gesteigert (vgl. [Mecklenburg 2017: 88]).

Die Rolle alleinstehender Geschlechter

Im vorliegenden Abschnitt werden die Geschlechterverhältnisse in Reinhart Fuchs hinsichtlich derjenigen Tierfiguren betrachtet, die in keinem ehelichen Verhältnis zu einer anderen Tierfigur stehen. Im Laufe der Erzählung trifft der Protagonist Reinhart auf eine Vielzahl solcher Tierfiguren. Dennoch werden anschließend lediglich einzelne Tierfiguren mit Beispielscharakter genauer betrachtet. Der Grund dafür liegt in der narrativen Darstellung dieser Kategorie von Tieren in Reinhart Fuchs.

Der Mann: Der Löwe Vrevel

Neben dem Wolf Isengrin und dem Fuchs Reinhart repräsentiert unter anderem der Löwe Vrevel das männliche Ensemble. Für eine detaillierte Charakterisierung des Löwen sei auf den zugehörigen Artikel verwiesen. Nachfolgend werden die Charakteristika der männlichen Tierfigur betrachtet. Als König des Tiervolkes verfügt der Löwe Vrevel auf eklatante Weise über die Machtposition schlechthin. Schnell wird klar, dass auch der König, gerade aufgrund seiner Funktion, die gleichen stereotyp männlichen Attribute wie den anderen männliche Tierfiguren zugesprochen werden. Er tritt als ein "[...] schwacher, willkürlicher und skrupelloser König [...]" [Neudeck 2016: 16] auf. Seine Schwäche bezieht sich nicht auf seine Anatomie - das stereotype Merkmal der körperlichen Überlegenheit besitzt er alle Mal -, sondern auf seinen Verstand. Seine Handlungen sind durchgängig gekennzeichnet von Willensschwäche. Wobei seine Willensschwäche darin liegt, dass er seinen egoistischen Wünschen nachgibt, statt den, seiner Machtposition innewohnenden, Pflichten nachzukommen. Dies zeigt sich besonders gut an der Stelle des Geschehens, bei der "[...] sich der König zunächst als Gerichtsherr [erweist], der das Verfahren gegen den Fuchs ordnungsgemäß leitet [...] Er droht ihm auch [...] rechtskonform mit Verbannung und Tod. Doch sobald [Reinhart] [...] Heilung [des Königs] verspricht, bricht sich der Egoismus des kranken Herrschers Bahn [...]" [Neudeck 2016: 22]. Dem Löwen Vrevel fehlt es an essentiellen Eigenschaften eines Königs. Er ist sich weder seiner Verantwortung bewusst, noch handelt er nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne des Tiervolks, sondern lediglich in seinem eigenen Interesse.

Die Frau

Zum Zwecke der Analyse der alleinstehenden Frau werden anschließend die zwei einzigen Figuren, die in diesem Spektrum liegen, näher beleuchtet.

Das Kamel

Das Kamel aus Thuschalan ist das einzige Tier des Hoftag-Geschehens, das eindeutig als weiblich markierte wird. Dies ist mit dem grammatischen Geschlecht zu belegen. "olbente" [RF 2005: V.1438] bezeichnet das weiblich Kamel, wohingegen "olbent" die Bezeichnung gewesen wäre, hätte es sich um ein männliches Kamel gehandelt [Mecklenburg 2017: 86]. Ferner wird dies deutlich, als Reinhart das Kamel belohnen möchte und sie vermeintlich zur Äbtissin macht. An dieser Stelle spricht er sie unmissverständlich als weibliche Tierfigur an (vgl. [RF 2005: 2122 ff.]). Fraglich ist bei der Tierfigur des Kamels, welche Eigenschaften ihr innewohnen und inwiefern diese mit denen des Huhns Pinte und der Wölfin Hersant korrespondieren. Das Kamel wird als eine alte, fromme und weise Dame charakterisiert (vgl. [RF 2005: V.1439 f.]). Dieses Bild wird weiter durch ihren Einwand gezeichnet, sich gesetzteskonform verhalten zu müssen. Ihre Objektivität mag teilweise darauf zurückzuführen sein, dass sie als eines der wenigen Tiere, die am Hoftag teilnehmen, nicht persönlich unter Reinharts Listen leiden musste. Dennoch ist positiv hervorzuheben, dass sie diese Objektivität besitzt, denn beispielsweise der Löwe Vrevel tut dies trotz selbiger Bedingung nicht. Ihre Rolle im Gerichtsgeschehen nimmt sie nicht aufgrund, sondern trotz der Tatsache ein, dass sie eine Frau ist. Denn als Frau ist sie in der geltenden (aus der mittelalterlichen abgeleiteten) Gesellschaftsordnung kein eigenständiges Rechtssubjekt (vgl. [Mecklenburg 2017: 86]). Auch ihr Verstand und ihre Besonnenheit sind in ihrem Fall - anders als noch bei der Henne Pinte - keine Attribute, die sie ihrer Weiblichkeit zu verdanken hat. Sie sind eher auf ihr Alter und ihre damit verbundene Weisheit zurückzuführen. Es stellt sich somit zunehmend die Frage, welche Funktion das weibliche Geschlecht des Kamels hat. Anders als die weiblichen Tierfiguren, die sich in einer ehelichen Beziehung befinden, wird das Kamel weder durch ihre Emotionalität, noch durch ihre Arroganz gekennzeichnet. Dem Grund für die Weiblichkeit des Kamels liegt nicht ein etwaiges (Geschlechter)Verhältnis oder die Repräsentation von stereotypen Merkmalen zugrunde, sondern eine erzählstrukturelle Funktion. Diese hängt mit der zuvor bereits erwähnten Übertragung des Äbtissinnen-Amtes zusammen (vgl. [Mecklenburg 2017: 86f.]. Die Stellung kann notwendigerweise nur eine Frau innehaben.

Die Meise

Die Meise ist, neben dem Kamel, das einzig andere Tier, das als weiblich deklariert wird. Vor allem wird das daran festgemacht, dass Reinhart von der Meise einen Kuss fordert (vgl. [RF 2005: V.179f.]). Innerhalb der Stände übergreifenden mittelalterlichen Normen ist es undenkbar, dass Reinhart homosexuelle Intentionen hat, weshalb es sich um eine weibliche Meise handeln muss. Gegen diese These könnte die Anrede sprechen, die Reinhart für die Meise wählt - er nennt sie "gevater" [RF 2005: V178]. Wie in dem oben verlinkten Artikel bereits festgestellt, ist dieses Gegenargument jedoch leider zu entkräften. Denn der Ausdruck gevater kann sowohl Gevatter als auch Gevatterin heißen (vgl. [Henning 2014: 122]). Auch kann der Kuss familiärer Natur sein. Insgesamt ist zu konstatieren, dass der gewünschte Kuss wenig über die Geschlechtlichkeit der Meise aussagt (vgl. [Mecklenburg 2017: 86]). Als Ganzes zeichnet sich auch hier wieder das Bild, dass aus der (etwaigen) Weiblichkeit der Meise keine besonderen Auswirkungen auf das Geschehen resultieren und demnach durch diese Tierfigur kein Geschlechterverhältnis zum Ausdruckt kommt.

Zwischenfazit

Nach eingehender Untersuchung der alleinstehenden weiblichen und männlichen Tierfiguren eröffnet sich, dass die Geschlechtlichkeit der Tierfiguren, die sich nicht in einer ehelichen Beziehung befinden, vermindert nachzuweisen ist. Zwar verfügen sowohl das Kamel, als auch der Löwe Vrevel über einige stereotype Attribute ihres Geschlechts, jedoch trifft dies nicht auf Sexualität und Liebe zu. Die Rezipient*innen gewinnen den Eindruck, dass die betroffenen Tiere ein asexuelles Verhalten aufweisen.

Eine Zwischenposition: Der Fuchs Reinhart

Nicht nur als Protagonist der Handlung, auch als Untersuchungsgegenstand dieses Artikels nimmt der Fuchs Reinhart eine Sonderposition ein. Er lässt sich weder der Gruppe der verehelichten Tiere zuordnen, noch der Gruppe der alleinstehenden Tiere. Aus diesem Grund hat er eine ambivalente Position inne. Der Hauptaugenmerk des folgenden Abschnitts wird auf den Geschlechterverhältnissen zwischen Reinhart und den Wölfen Isengrin und Hersant liegen.

Die Problematik der Einordnung der Tierfigur

Im gesamten Handlungsgeschehen tritt zu keinem Zeitpunkt eine mögliche Ehefrau Reinharts auf. Als Rezipient*in gewinnt man diesen Eindruck unter anderem auch, weil Reinhart durchweg autonom handelt und in seinem Handeln lediglich sich selbst berücksichtigt. Er hat zwar ein zu Hause, in dieses kehrt er jedoch nur unregelmäßig zurück. Und wenn er es tut, dann treten weder Frau noch Kinder auf (siehe hierfür auch [Mecklenburg 2017: 96]). Es gibt dennoch zwei Anhaltspunkte, an denen festzumachen ist, dass Reinhart eine Frau und Kinder hat. Zuerst wird dies durch die Brunnen-Episode deutlich. Als Reinhart an einem Brunnen vorbeikommt, erblickt er an dessen Grund seine Frau. Aus Zuneigung zu ihr begibt er sich selbst an den Grund des Brunnens, um dort festzustellen, dass es sich nur um eine Einbildung handelte (vgl. [RF 2005: V.839-850]). Die zweite Episode trägt sich am Hoftag zu. Dort fordert der Eber, Reinharts Frau zur Witwe zu machen und seine Kinder zu Waisen (vgl. [RF 2005: V.1754f.]). Diesbezüglich könnte unklar sein, ob der Eber diese Forderung spezifisch auf Reinhart zugeschnitten stellt. Es wäre möglich, dass es sich um eine nebulöse Forderung handelt, die allgemein zum Ausdruck bringen soll, dass der Tod des Angeklagten gefordert wird. Diese Auffassung erweist sich jedoch als haltlos, da es sich bei dem Eber um ein Mitglied des Hoftags handelt und es in der Episode um den zentralen Fall des Reinharts geht.

Man könnte an diesem Punkt annehmen, dass Reinhart mit Frau und Kind in die Kategorie der Ehepaare eingeordnet werden könnte. Dies ist allerdings nicht der Fall. Denn anders als bei den anderen Ehepaaren, wird die Paarbeziehung zwischen Fuchs und Füchsin erzählerisch nicht durch zwei Tierfiguren vermittelt, sondern in die Tierfigur des Reinharts selbst verlegt. Die Verwechslung der Brunnen-Episode lässt sich erklären, indem man sich die zu Beginn getroffene Unterscheidung Sex und Gender in Erinnerung ruft. Denn das anatomische Geschlecht Sex betreffend, ähneln sich der Fuchs und die Füchsin sehr. Deshalb konnte Reinhart sein eigenes Spiegelbild für seine Frau halten. Auch dem Wolf geht es kurze Zeit später so. Die körperliche Indifferenz zwischen Wolf und Wölfin wurde bereits an früherer Stelle thematisiert. (vgl. [Mecklenburg 2017: 97f.]). Demzufolge tritt auch in dieser Episode die Ehefrau des Fuchses Reinhart nicht auf. Aufgrund dieser fehlenden Präsenz ist es nicht möglich, diese in einer Person vereinte Ehebeziehung so zu analysieren, wie es bei den anderen Ehepaaren geschehen ist.

Der Fuchs Reinhart und die Wölfe

Für eine ausführliche und detaillierte Betrachtung der Gesamtbeziehung zwischen Reinhart und den Wölfen, sei auf diesen Artikel verwiesen. Wie bereits angekündigt, wird sich dieser Abschnitt auf das geschlechtsabhängige Verhältnis zwischen Reinhart und dem Ehepaar konzentrieren. An obiger Stelle, die sich mit dem Verhältnis zwischen Wolf Isengrin und Wölfin Hersant befasst hat, wurde bereits angeführt, dass sich die Wolfsfamilie dazu entschließt, Reinharts Anliegen zu akzeptieren. Sowohl Hersant als auch Isengrin begehen damit einen großen Fehler. Denn sie gehen über das, was Reinharts eigentliches Anliegen ist, hinaus. Dieser bittet um ein Kriegsbündnis zwischen dem Fuchs und den Wölfen. Die Wölfe aber machen ihn zu ihrem Vetter. Daraus entsteht aus der Doppelbedeutung des Begriffs zum einen eine Freundschaftsbeziehung zwischen Reinhart und Isengrin und zum anderen eine Patenschaft Reinharts in Bezug auf die Wolfssöhne (vgl. [Mecklenburg 2017: 93]). Diese Nähebeziehung nutzt Reinhart aus, indem er der Wölfin Hersant Avancen macht. (Genauer nachzulesen ist dies hier.)

Mittelhochdeutsch Übersetzung [*V.423-433]
Reinhart sprach zv der vrowen: Reinhart sagte zu der edlen Dame:
'gevatere, mochtet ir beschowen "Gevatterin, könnt ihr mich von meinem
grozen kvmmer, den ich trage: großen Kummer erlösen, den ich ertrage:
von eweren minnen, daz ist min clage, durch eure glühenden Blicke/schönes Antlitz, das ist meine Klage,
bin ich harte sere wunt.' das ist meine Klage."
'Tv zv, Reinhart, dinen mvnt!' "Halt deinen Mund, Reinhart!"
sprach er Ysengrinis wip, sagte Isengrins Frau,
'min herre hat so schonen lip, "Mein Mann hat einen so schönen Körper,
daz ich wol frvndes schal enpern. dass ich glücklicherweise auf einen Geliebten verzichten kann.
wold aber ich deheines gern, Wenn ich aber doch einen wollte,
so werest dv mir doch zv schwach.' so wärst du mir ohnehin zu schwach."

Die obige Textstelle belegt die zeitgenössische gesellschaftliche Konvention der Minne. Der Umworbenen, hier die Wölfin Hersant, steht es frei, das Angebot zurückzuweisen. Dies tut die Wölfin Hersant auch. Im Artikel zum Minne-Diskurs zwischen Reinhart und Hersant ist diese Thematik ausführlich nachzulesen, an dieser Stelle sei nur erwähnt, dass sie die Minne nicht abweist, weil die zeitgenössische Norm dies aufgrund ihres Status als verheiratete Frau von ihr verlangt und sie anderenfalls ihre gesellschaftliche Anerkennung verlieren könnte. Sie weist Reinhart ab, weil sie eine klare sexuelle Präferenz hat und Reinhart dieser nicht entspricht. Die Wölfin Hersant macht deutlich, dass sie den stereotypen starken Mann, der "[...] durch am Körper sichtbare Gewaltfähigkeit gekennzeichnet ist [...]" [Mecklenburg 2017:94] bevorzugt. Direkt auf den Abschluss dieses Gesprächs folgt die Wiederkehr Isengrins. Er war auf Jagd gegangen, kommt jedoch erfolglos zurück. Er beklagt bei seiner Frau, wie schwer sei es Nahrung zu finden, da so viele Hirten mit ihren Hunden unterwegs seien (vgl. [RF 2005: V.445-48]). Damit gesteht er sich und auch seiner Frau, die ihn eben noch für seine Gewaltfähigkeit gelobt hatte, ein, dass er über eben diese Gewaltfähigkeit nicht zu genüge verfügt. Sie genügt nicht, um gegen die Hunde der Hirten anzukommen. Der dem Wolf körperlich unterlegene Reinhart jedoch ist in der Lage, Nahrung für das Rudel zu besorgen. Dabei setzt er nicht auf die Gewaltfähigkeit, die ihm Hersant ohnehin in Abrede gestellt hat. Er setzt auf das gegenteilige Extrem - die Schwäche (vgl. [RF 2005: V.457-73]). Es mag sich kaum ein Charakterzug finden, der so negativ konnotiert ist, wie die Schwäche eines Mannes. Dennoch macht er sie sich zu Nutze und wendet eine seiner Listen an. Den daraus gewonnen Schinken fressen der Wolf Isengrin und die Wölfin Hersant allein komplett auf - ohne Rücksicht auf Reinhart. Dadurch ist das Treueverhältnis für Reinhart zwischen ihm und den Wölfen stark geschädigt. (vgl. [Mecklenburg 2017: 94 f.]) Die Zurückweisung Reinharts durch Hersant und der Schinken-Vorfall sind maßgebliches Motiv für die spätere Vergewaltigung Hersants. Der genaue Tatablauf und eine vertiefte Analyse sind im Artikel Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs nachzulesen.

Maßgeblich für diesen Artikel ist die Betrachtungsweise, dass der Schauplatz der Interaktion zwischen der Wölfin Hersant und Reinhart eigentlich der Interaktion zwischen dem Wolf Isengrin und Reinhart dienen könnte. Wie an früherer Stelle des Artikels erwähnt, gelten Frauen nicht als Rechtssubjekte - was auch der Grund dafür ist, dass der Mann, Wolf Isengrin, vor Gericht die Vergewaltigung seiner Frau Hersant zu Anklage bringen muss (vgl. [Mecklenburg 2017: 86] ; [RF 2005: V.1847-50]). Man könnte diesen Gedanken weiterführen, indem man sagt, dass die Frau nicht nur in rechtlicher Hinsicht das Objekt ihres Mannes ist, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Diesen These würde auch durch die Begriffsunterscheidung zu Beginn des Artikels gestützt werden. Denn im Fokus des Akts der Vergewaltigung steht weniger die körperliche sexuelle Misshandlung. Hersants anatomisches Geschlecht spielt eine untergeordnete Rolle. Wesentlich ist ihr sozial determiniertes Geschlecht und folglich ihre gesellschaftliche Stellung als Isengrins Frau. Da sie als Frau aus gesellschaftlicher Sicht (zu) Isengrin gehört, geht es bei der Vergewaltigung der Wölfin Hersant im entscheidenden Maß um Isengrin selbst. Diese These wird auch erzählerisch bestärkt, indem nahezu in der gesamten Vergewaltigungsszene das narrative Augenmerk auf der mentalen und emotionalen Verfassung des Wolfes Isengrin liegt (dies wurde im obigen Abschnitt bereits erwähnt, als es um Isengrins Egoismus ging) (vgl. [RF 2005: V.1185-1201]). Die Leiden der Wölfin, die eigentlich Geschädigte und zu Bedauernde, werden dem/der Rezipient*in weitgehend vorenthalten. Auf diese Weise wird beinahe demonstrativ suggeriert, dass der Fokus in dieser Szene nicht auf den Belangen der Wölfin Hersant liegt. Verhärtet wird diese Annahme außerdem dadurch, dass die Vergewaltigung von Hersant Reinharts Rache dafür sein könnte, dass Isengrin versuchte, Reinhart zu töten. Denn Reinhart begehrt die Wölfin zunächst zwar tatsächlich, nach dem Tötungsversuch jedoch schlägt dieses sexuelle Begehren, das auf Hersant gerichtet ist, in das Begehren nach öffentlicher Rache um, das wiederum auf Isengrin gerichtet ist (vgl. [Hübner 2016: 92]). Als Beleg dafür dienen Reinharts provokante und hämische Worte nach der Tat, die er ausschließlich an den Wolf Isengrin richtet (vgl. [RF 2005: 1232-38]).

In Betracht kann außerdem die Auffassung gezogen werden, dass die zu Beginn erteilte "[...] Einladung zur Aufnahme einer Nähebeziehung zu [Isengrins] Frau [...] von Isengrin selbst aus[geht] [...]" [Mecklenburg 2017: 93]. Diese Aussage scheint sehr gewagt. Denn Isengrin hat zu keinem Zeitpunkt suggeriert, dass er eine sexuelle Beziehung zwischen Reinhart und seiner Frau gestatten würde, von der Vergewaltigung seiner Frau ganz zu schweigen. Eine Schuldzuweisung von Reinharts Taten an die Wölfe, ist keine tragbare These. Wie dem Artikel Der Fuchs und die Wölfe (Reinhart Fuchs) zu entnehmen ist, ist wie bei jeder Tat davon auszugehen, dass der Täter der Schuldige ist und nicht das Opfer.

Reinharts Charakterzüge werden durch die Interaktion mit den Wölfen klar herausgestellt. Neben seiner Listigkeit zeichnen ihn auch die stereotypen Eigenschaften der überzogenen Selbstüberzeugung und des Egoismus aus. Das Verlangen nach Rache entwickelt er nicht zuletzt aufgrund seines gekränkten männlichen Stolzes. Dies belegt auch der offensichtlich auf Isengrin gerichtete Racheakt der Genitalverstümmelung. Nachdem die Wölfin Hersant ihn aufgrund seiner körperlichen Unterlegenheit abgewiesen hat, trägt die Amputation des Schwanzes (metaphorisch ist davon auszugehen, dass es sich um das Genital handelt) dazu bei, die körperliche Überlegenheit Isengrins zu Reinhart aufzuheben. Eine Eigenschaft die Reinhart sowohl auszeichnet, als auch von den anderen männlichen Tierfiguren der Erzählung abhebt, ist der Gebrauch seines Verstandes. Auf diese Weise ist es ihm möglich, seine körperliche Unterlegenheit mit seiner geistigen Überlegenheit zu kompensieren.

Zwischenfazit

Der Fuchs Reinhart ist, wie zuvor ausgeführt, zwar in einer ehelichen Beziehung, da diese aber erzählerisch nicht dargestellt wird, handelt er weitgehend autonom. Die einzige Stelle, an der sein eheliches Verhältnis die Handlung beeinflusst, ist die Brunnen-Episode. Ansonsten sind Reinhart hinsichtlich Raum und Zeit keine Grenzen gesetzt. Es steht ihm als männlichen Protagonisten frei, "[...] den architektonisch und geographischen Raum unbegrenzt erfahren zu können [...]" [Sieber 2015: 124]. Auch sexuell ist er autonom genug, um sich eine Geliebte zu suchen.

Für die Dreierkonstellation Reinhart-Hersant-Isengrin ist durchaus eine Teilintuition Reinharts, sich an der Wölfin Hersant zu rächen einzugestehen. Entscheidend ist dennoch die auf der Metaebene stattfindende Rache an Isengrin. Als Protagonist der Handlung erfüllt Reinhart, wenn auch teils über Umwege, die stereotypen Merkmale eines Mannes. Er ist egoistisch und hat partiell eine überhöhte Selbsteinschätzung, die sich gerade in seinen Misserfolgen zu Beginn der Erzählung abzeichnet, bis zu dem Moment, als er auf die Wolfsfamilie trifft (vgl. [RF 2005: bis zu V.376] ; "[...] doch ist hevte niht sin tac [...]" [RF 2005: V.218]). Seinen Mangel des männlichen Attributs der körperlichen Stärke gleicht er durch seinen Verstand aus. Ein Paradebeispiel dafür ist die Schinken-Episode.

Fazit

Zu Beginn dieses Artikels wurde die Hypothese aufgestellt, dass aufgrund von Geschlechternormen den einzelnen Persönlichkeiten ganz bestimmte Attribute zukommen und dass sie, durch ihr Geschlecht beeinflusst, spezifische gesellschaftliche Stellungen einnehmen und ein spezielles Verhältnis zu den anderen (Tier)Figuren haben. Im Zuge der Untersuchung wurden Unterteilungen vorgenommen. Für alle auftretenden Tierwesen gilt, dass sie dem gesellschaftlichen Stand des Adels angehören. In Abgrenzung dazu wurden die menschlichen Figuren kategorisiert.

Als Resultat dieser Artikelarbeit ist festzuhalten, dass einvernehmliche romantische Beziehungen lediglich im Rahmen der Partnerbeziehungen stattfinden. Auch geschlechterspezifische Charakteristika sind weitgehend den verheirateten Tieren vorbehalten. In Teilen sind geschlechterstereotype Attribute - wie bei dem Löwen Vrevel - vorzufinden, jedoch wurde an gegebener Stelle angemerkt, dass es ihnen gänzlich an sexuellen und romantischen Eigenschaften mangelt. Diese Beobachtung legitimiert die Schlussfolgerung, dass das Geschlecht der ledigen Tierwesen kaum von handlungsleitender Relevanz für die Erzählung ist. Dadurch wird deutlich, dass das Vorhandensein eines Geschlechterverhältnisses die Voraussetzung dafür ist, dass das Geschlecht und die Geschlechtlichkeit eines (Tier)Wesens bedeutsam wird. Die sich in einer offenbar ambivalenten Position befindende Tierfigur Reinhart ist zwar keiner der Kategorien zuzuordnen, dennoch bestärkt er die These durch sein Wesen. Auch er kann nur sexuelles Verlangen empfinden, weil er sich in einer ehelichen Beziehung befindet. Diese Fuchs-Ehebeziehung ist zwar in großen Teilen unsichtbar, dennoch existiert sie und stellt somit unter Berücksichtigung der vorgenommenen Unterteilung die Daseinsberechtigung für sein sexuelles Verlangen dar.

Die Geschlechtlichkeit, wo immer sie im Tierepos Reinhart Fuchs auftritt, ist stets von Stereotypen begleitet. Wie der vorliegende Artikel zeigt, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die stereotypen Attribute den (Tier)Figuren auf direkte Weise zugeschrieben werden. Es findet in mancherlei Hinsicht ein Spiel mit den geschlechtertypischen Normen statt. Rollen werden vertauscht - wie es in der Beziehung vom Bauern und seiner Frau der Fall ist - und einzelne Charaktere werden dank ihres Verhältnisses und der geschlechtsspezifischen Stellung des Partners instrumentalisiert - so ergeht es der Wölfin Hersant in Bezug auf Reinharts Rache am Wolf Isengrin. Trotz dieser Flexibilität bezüglich der Repräsentation der weiblichen und männlichen Geschlechter, spielen die Geschlechterverhältnisse derjenigen (Tier)Figuren, die Geschlechtlichkeit aufweisen, eine fundamentale Rolle für ihre Verhaltensweisen und Handlungsentscheidungen.

Schließlich bleibt noch die Intention des Autors für die Geschlechter-Darstellung zu hinterfragen. Hierbei ist zu konstatieren, dass die Darstellung der Geschlechterverhältnisse in Reinhart Fuchs dazu dient, den Rezipent*innen aufzuzeigen, worin die Stärken und Schwächen der zeitgenössischen Geschlechternormen des Adels liegen. Den adeligen Rezipient*innen hält diese Darstellung einen Spiegel vor. Eine bedeutungsvolle Rolle spielt dabei die Darstellung durch Tierfiguren: wenig rationale Handlungen werden aufgrund der distanzierten Darstellung demonstriert und die Idealwelt wird auf diese Weise demaskiert (vgl. [Ruh 1980: 32]). Dieses Mittel eignet sich dazu "[...] die gültige gesellschaftliche [...] Welt in Frage zu stellen - nicht, um sie zu zerschlagen, sondern [um sie] zu bewahren" [Ruh 1980: 33].

Literaturverzeichnis

  • [*Sieber 2015] Sieber, Andrea: Gender Studies, Berlin/München/Boston 2015, S. 117 - 121.
  • [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs. Eine antihöfische Kontrafaktur, in: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1980, S. 17.
  • [*RF 2005] Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und erläutert von Karl-Heinz Göttert, bibliographisch ergänzte Ausg., Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek 9819)
  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Göttingen 2017 (Aventiuren 12), S. 73-98.
  • [*Neudeck 2016] Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik. Reflexionen des Politischen in europäischer Tierepik, Berlin / Boston 2016, S. 10–26.
  • [*Henning 2014] Henning, Beate: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch, Berlin/Boston 2014
  • [*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 77-96.
  1. [1], Alle Originaltexte, die im Zuge einer Übersetzung Gegenstand dieses Artikels sind, stammen, falls nicht anders gekennzeichnet, aus: Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und erläutert von Karl-Heinz Göttert, bibliographisch ergänzte Ausg., Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek 9819)