Träume und ihre Bedeutungen im Parzival (Wolfram von Eschenbach, Parzival)
Dieser Artikel beschäftigt sich mit Träumen in Wolfram von Eschenbachs Parzival. Ein kurzer Einblick in die Visions- und Traumtheorie des Mittelalters [Bumke 2001: Vgl. S. 50 - 54] soll die Basis bilden, auf der die Betrachtung verschiedener exemplarischer Traumszenen, wie beispielsweise Herzeloydes Traum (103, 25 - 104, 30) oder Parzivals Traum auf der Gralsburg (245, 1 - 30) ), aufbaut. Kontrastierend sollen hierbei die Unterschiede zwischen der literarischen Beschreibung von Träumen im Mittelalter und dem heutigen Schreiben über Träume aufgezeigt werden. Hinsichtlich der Deutung und Interpretation der Träume in Wolframs Parzival ist zu beachten, dass dies natürlich fiktive Träume in Literatur sind. Somit ist die Traumdeutung in diesem Falle eher eine Deutung der durch Träume vermittelten erzählerischen Effekte und der Ansichten über Träume, die im fiktiven Traum gespiegelt werden. [Manuwald 1994: Vgl. S. 38]
Träume im Mittelalter
Während Träume aus heutiger Sicht als ein sich im Unterbewusstsein abspielendes Phänomen betrachtet werden, werden sie im Mittelalter als "eine Erfahrung, die geistlich und sinnlich zugleich ist und Leib und Seele umfasst."[Langer 1994: S. 80] Der Träumende wird somit vollkommen vom Traum beeinflusst, sowohl psychisch, als auch körperlich, was den Traum einflussreicher darstellt - einerseits, da er allumfassend auf das Individuum wirkt und andererseits, da das mittelalterliche Wissen hinsichtlich des Entstehens von Träumen beschränkt ist.
Im Christentum sind Träume Bestandteil des Glaubens und befinden sich "auf einem schmalen Grat zwischen Heiligkeit und Dämonie, zwischen Glaube und Häresie. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man die Aufzeichnungen der Träume und die Dikussionen über sie verfolgt."[Busse 1994: S. 53] Die Kirche versucht hierbei als Kontrollinstanz zu wirken, welche entscheidet, welche Art von Traum (ob gottgesandt oder teuflischen Ursprungs) geträumt wurde: "Über Träume und ihre vorausdeutende Kraft Verbindliches auszusagen, ist allein Vorrecht der Klerikalen, ist Monopol der Kirche."[Busse 1994: S. 57] Im 12. Jahrhundert ändert sich dies mit Hereinbreichen des Wandels durch Humanismus und Entdeckung des Individuums[Busse 1994: Vgl. S. 57] und Träume werden als etwas verschleiertes, codiertes wahrgenommen, welches einer Deutung bedarf, die sich "von dem Stigma des Diabolischen emanzipiert."[Busse 1994: S. 59] Eine Unterscheidung zwischen Vision und Traum findet im Mittelalter kaum statt, was den zukunftsorientierten Charakter des Traumes unterstreicht. Stets wichtig ist die prophetische Rolle des Traums, welcher Zukünftiges vorhersagt. Auch im Parzival verwendet Wolfram Träume für diesen Zweck.
Herzeloydes prophetischer Traum vor Parzivals Geburt
(siehe auch: Herzeloydes Traum und Leid)
Kontext des Traumes
Im II. Buch des Romans träumt die schwangere Herzeloyde, seit Monaten sehnsuchtsvoll auf ihren Ehemann Gahmuret wartend, einen prophetischen Traum, in dem feurige Donnerstrahlen auf sie niederfahren. Ein Greif reißt an ihrer rechten Hand und das Bild verwandelt sich: Herzeloyde stillt einen Drachen, der ihr schließlich das Herz aus der Brust reißt und davonfliegt. Nach dem Erwachen wird Herzeloyde die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht, woraufhin sie in Ohnmacht fällt und vor Trauer beinahe stirbt.
Literarische Traumdeutung
Diu frouwe umb einen mitten tac | Eines Mittags schlief die Dame einen |
eins angestlîchen slâfes pflac. | Schlaf, der war voll Angst. Es kam ihr ein |
ir kom ein forhtlîcher schric. | Erschrecken, das sie zusammenzucken |
ließ. |
(103, 25 - 27)
Hier zeigen sich bereits Differenzen in der Darstellung und Bedeutung von Träumen im Mittelalter und der Darstellung und Bedeutung von Träumen heute. Während wir uns heute oftmals an der Freudschen Traumdeutung [2] orientieren, bei der durch codierte Träume Unterbewusstes verarbeitet wird. Basal gesprochen sind Träume damit eine Kommunikation mit sich selbst, die entschlüsselt werden muss. Herzeloydes Traum hingegen ist eher als eine Prophezeiung zu verstehen, die nicht aus ihr selbst kommt, sondern transzendent ist. Dafür spricht auch, dass sie zwar schläft, jedoch noch eher bewusst reagiert, sogar erschrickt und zusammenzuckt. Damit vollzieht sich eine Trennung zwischen ihrer Person und dem quälenden Traum.
si dûhte wie ein sternen blic | Ihr war, wie wenn der Blitz von |
si gein den lüften fuorte, | einem Stern sie fortführte hinaus in die |
dâ si mit kreften ruorte | Himmel, da schlugen |
manc fiurîn donerstrâle. | sie feurige Donnerstrahlen mit Macht. |
die flugen al zemâle | Die schossen alle auf einmal auf sie hin: |
gein ir: dô sungelt unde sanc | Von knisternden, sengenden Funken san- |
von gänstern ir zöphe lanc. | gen ihre langen Zöpfe. Mit Krachen gab |
mit krache gap der doner duz: | der Donner seinen Schall, und er vergoß |
brinnde zäher was sîn guz. | sich in brennenden Tränen. |
(103, 28 - 104, 6)
Herzeloydes Traum zeigt sehr traditionelle, in der Traumdeutung bekannte Symbole, deren Entschlüsselung dadurch relativ einfach ist.
Wolfram kreiert eine beinahe apokalyptische Traumwelt, in der Donner und Blitz auf Herzeloyde niederprasseln. Sie ist hierbei das Zentrum, welches konzentriert den Qualen und dem Chaos ausgesetzt ist.
Die sinnbildliche Bedeutung dieser Naturgewalten ist eine greifbarere Repräsentation Gottes. Seit jeher wurden die Elementargewalten Blitz, Feuer und Donner nach christlicher Auffassung als Gegenwart Gottes verstanden. Diese göttliche Präsenz geht jedoch auch immer mit dem letzten Gericht einher, womit Herzeloyde Gottes letztem Urteil ausgesetzt ist. [Roßkopf 1972: Vgl. S. 55 - 61] Dafür spricht auch die Tatsache, dass ihr Traum in einem transzendentalen Rahmen stattfindet: Sie befindet sich in der Luft, also in Himmelsnähe.
Auch der zu Beginn auftretende, erlöschende Stern steht für ein bevorstehendes Ende. Herzeloydes Traum macht insofern nicht nur Aussagen über Parzival und dessen Lebensweg, sondern zeichnet auch das Ende ihres eigenen auf.
Der Verlust oder die Verletzung der rechten Hand repräsentiert typischerweise den Verlust eines nahen Verwandten, in diesem Falle Gahmurets.[Kratz 1973: Vgl. S. 205]
Anschließend tritt Parzival in Form eines Drachen in die Traumhandlung. Herzeloyde wird aber nicht als dessen Mutter, sondern Amme bezeichnet, die ihn stillt.[Roßkopf 1972: Vgl. S. 78] Dies erzeugt eine parasitäre Konnotation, bei der Herzeloyde "ausgesaugt" wird. Wolfram prophezeit Parzivals Mutter hier eine grausame, schmerzhafte Zukunft, die damit endet, dass das Kind, das sie gesäugt hat, sie zurücklässt. Der Drache wird einerseits als das gestaltgewordene Böse verstanden, andererseits kündigt sein Erscheinen im Traum einer Schwangeren laut Bumke die Geburt eines großen Herrschers an.[Bumke 2004: Vgl. S. 52] Herzeloydes Traum steht also im Zeichen der Doppelstruktur des Romans: In ihm ist einerseits ihr eigener Untergang, aber andererseits auch Parzivals Aufstieg angelegt.
Parzivals Alpträume auf der Gralsburg
Kontext des Traumes
Im V. Buch erreicht Parzival Munsalvaesche, wo Trauer über das Leiden des Gralskönigs Anfortas herrscht. Parzival sieht hier zum ersten Mal den Gral, der in einer prunkvollen, für Parzival verwirrenden Zeremonie in den Saal der Gralsburg getragen wird. Parzival, von Gurnemanz' Mahnungen beeinflusst, wagt es nicht, Fragen zu stellen und lädt damit Schuld auf sich. In der Nacht folgen auf sein Versagen Alpträume, die ähnlich prophetisch wie Herzeloydes Alpträume sein werden.
Literarische Traumdeutung
Parzivâl niht eine lac: | Parzivâl lag nicht alleine; mit ihm in |
geselleclîche unz an den tac | seinem Bett war bis zum Morgen die böse |
was bî im strengiu arbeit. | Qual. Sie schickte ihre Leute zu ihm in |
ir bote künftigiu leit | den Schlaf und ließ ihm künftige Leiden |
sanden im in slâfe dar, | bringen. So wurde an dem jungen Schö- |
sô daz der junge wol gevar | nen der Traum in seiner ganzen Schwere |
sîner muoter troum gar widerwac, | aufgewogen, den seine Mutter nach |
des si nâch Gahmurete pflac. | Gahmuret träumte. |
(245, 1 - 8)[3]
Interessant ist bei dieser Beschreibung, dass Alpträume als eine beinahe greifbare Qual dargestellt werden, die anwesend und materialisiert den Träumenden beeinflusst. Die Qual des Alptraums wird hierbei personifiziert und ist eine aktive Kraft. Dies wird erneut unterstrichen, indem sein Traum als Ausgleich für den quälenden Traum seiner Mutter bezeichnet wird, wie eine Art Sühne, die Parzival ertragen muss.
Die Verletzlichkeit des Schlafenden [Wittmer-Butsch 1990: Vgl. S. 81] macht den Alptraum noch fürchterlicher. Im wachen Zustand wären die Qualen zu ertragen (daz heter wachende ê gedolt (245, 15)), aber im Traume liegt der Träumende angreifbar vor ihnen.
Die prophetische Funktion seines Traumes wird in Parzivals Traum sogar direkt angesprochen. Wolfram schreibt hier von "künftigiu leit" (245, 4), die der Alptraum ihm bringt. Der Traum erhält somit einmal mehr eine sühnende Ebene: Nicht nur die Qualen von Herzeloydes Alptraum muss Parzival ausgleichen, sondern auch für sein Versagen gegenüber der Gralsgesellschaft muss er in Zukunft büßen.
Fazit
Der prophetische Charakter von Träumen im Mittelalter wird anhand Wolframs Verwendung von Träumen sehr deutlich. Beide herausstechenden Traumbeschreibungen dienen als Omen für den Träumenden, welches den weiteren Lebensweg bestimmt. Dass dieses Omen beide Male negativ und Qualen beinhaltend ist, entspricht der zu Wolframs Zeit vorherrschenden christlich beeinflussten Skepsis gegenüber Träumen[Wittmer-Butsch 1990: Vgl. S. 145 - 149], die nicht selten mit dem Teufel in Verbindung gebracht wurden. Beide Male positioniert Wolfram den Traum an Wendepunkten, die Parzivals Zukunft entscheidend prägen und ihn zudem als einen Helden zeigen, der ganz im Sinne des Elsterngleichnisses sowohl Himmel, als auch Hölle in sich trägt und erst eine Entwicklung durchlaufen muss.
Literaturnachweise
<HarvardReferences />
[*Bumke 2001] Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001.
[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart / Weimar 2004.
[*Busse 1994] Busse, Wilhelm G.: Träume sind Schäume. In: Hiestand, Rudolf (Hg.): Traum und Träumen. Inhalt - Darstellung - Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1994, S. 43 - 65.
[*Kratz 1973] Kratz, Henry: Wolfram von Eschenbach's Parzival. An Attempt at a Total Evaluation. Bern 1973.
[*Langer 1994] Langer, Otto: Vision und Traumvision der spätmittelalterlichen dominikanischen Frauenmystik. In: Hiestand, Rudolf (Hg.): Traum und Träumen. Inhalt - Darstellung - Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1994, S. 67 - 84.
[*Manuwald 1994] Manuwald, Bernd: Traum und Traumdeutung in der griechischen Antike. In: Hiestand, Rudolf (Hg.): Traum und Träumen. Inhalt - Darstellung - Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1994, S. 15 - 42.
[*Roßkopf 1972] Roßkopf, Rudolf: Der Traum Herzeloydes und der Rote Ritter. Erwägungen über die Bedeutung des staufisch-welfischen Thronstreites für Wolframs "Parzival". Göppingen 1972.
[*Wittmer-Butsch 1990] Wittmer-Butsch, Maria Elisabeth: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter. Krems 1990.
Anmerkungen
- ↑ Für eine chronologische Entwicklung der Traumtheorie siehe auch: Wittmer-Butsch, Maria Elisabeth: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter. Krems 1990.
- ↑ Freud, Sigmund: Über den Traum. Die Traumdeutung. Inauguriert 1899. Frankfurt am Main 1991.
- ↑ Alle folgenden Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.