Der Prolog (Wolfram von Eschenbach, Parzival): Unterschied zwischen den Versionen

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Wolfram geht weiter auf das Elsterngleichnis ein, indem er behauptet, dass nicht jeder seine in Bilder eingekleidete Lehre verstehen könne und deshalb polemisiert er die ''tumben''. Das Vorausgehende aufnehmend wendet sich der Erzähler explizit den Rezipienten zu:  
Wolfram geht weiter auf das Elsterngleichnis ein, indem er behauptet, dass nicht jeder seine in Bilder eingekleidete Lehre verstehen könne und deshalb polemisiert er die ''tumben''. Das Vorausgehende aufnehmend wendet sich der Erzähler explizit den Rezipienten zu:  


 
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| diz vliegende bispel || Dieses flinke Beispiel
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| ist tumben liuten gar ze snel, || ist zu flink für dumme Menschen,
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| sine mugens niht erdenken: || sie bringen es nicht fertig, ihm nachzudenken:
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| wand ez kan vor in wenken || denn es kann vor ihnen haken schlagen
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| rehte alsam ein schellec hase. || gerade so wie ein verstörter Hase.
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| diz vliegende bispel<br />ist tumben liuten gar ze snel,<br />sine mugens niht erdenken:<br />wand ez kan vor in wenken<br />rehte alsam ein schellec hase.
| Dieses flinke Beispiel<br />ist zu flink für dumme Menschen,<br />sie bringen es nicht fertig, ihm nachzudenken:<br />denn es kann vor ihnen haken schlagen<br />gerade so wie ein verstörter Hase.
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Kein Rezipient wird sich freiwillig den ''tumben'' zuordnen lassen wollen, und so ist die Passage weniger als Ausschluss sondern vielmehr als Werbung zu verstehen. [Schirok 2002: S. 75] Für die "anderen" - also für alle - gilt:
Kein Rezipient wird sich freiwillig den ''tumben'' zuordnen lassen wollen, und so ist die Passage weniger als Ausschluss sondern vielmehr als Werbung zu verstehen. [Schirok 2002: S. 75] Für die "anderen" - also für alle - gilt:


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| zin anderhalp ame glase || Zinn, hinten am Glas,
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| zin anderhalp ame glase<br />geleichet, und des blinden truom.<br />die gebent antlützes ruom,<br />doch mac mit staete niht gesin<br />dirre trüebe lihte schin:<br /> er machet kurze fröude alwar.
| geleichet, und des blinden truom. || macht trügerisch tanzende Lichter und ebenso des Blinden Traum:
| Zinn, hinten am Glas,<br />macht trügerisch tanzende Lichter und ebenso des Blinden Traum:<br />Die geben einem die Haut, die oben drauf schwimmt auf den Bildern.<br />Doch kann dies stumpfe, leichte Scheinen<br />nicht die Festigkeit dauern:<br />es macht ein kurzes Glück, das ist wohl wahr.
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| die gebent antlützes ruom, || Die geben einem die Haut, die oben drauf schwimmt auf den Bildern.
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| er machet kurze fröude alwar. || es macht ein kurzes Glück, das ist wohl wahr.
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In höchst eigenartiger Weise charakterisiert Wolfram das Unverständnis der ''tumben''. Das [[Das Elsterngleichnis (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|Elstergleichnis]] (''bispel'') wird hier so eingesetzt, dass es die Intelligenz der Rezipienten provozieren soll. Das ist für die ''tumben'' eine Täuschung, weil sie meinen, dessen Sinn zu begreifen, obwohl ihnen die eigentliche Bedeutung entgeht. Wolfram deutet an, dass, weil die ''tumben'' das Elsterngleichnis nicht verstehen, sie das Werk nicht verstehen und ihm nicht gewachsen sein werden. Der Grund für das Missverständnis besteht nicht in einem Mangel an Aufklärungen des Elsterngleichnisses, sondern darin, dass die ''tumben'' die ''staete'' nicht kennen. Das Verständnis der Geschichte hängt angeblich von diesem Unterschied ab. Der Erzähler sagt, dass sie vom unechten Schein getäuscht werden, der einem Spiegelbild und dem Traum eines Blinden ähnelt. Dieser Schein verwirklicht nichts, denn er hat keine Dauer und verleiht nur eine kurze vergängliche Freude. Die ''tumben'' versuchen den Sinn schnell und leicht zu begreifen, aber suchen etwas, das eigentlich nichts ist, wie Haare am Handinneren: 
In höchst eigenartiger Weise charakterisiert Wolfram das Unverständnis der ''tumben''. Das [[Das Elsterngleichnis (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|Elstergleichnis]] (''bispel'') wird hier so eingesetzt, dass es die Intelligenz der Rezipienten provozieren soll. Das ist für die ''tumben'' eine Täuschung, weil sie meinen, dessen Sinn zu begreifen, obwohl ihnen die eigentliche Bedeutung entgeht. Wolfram deutet an, dass, weil die ''tumben'' das Elsterngleichnis nicht verstehen, sie das Werk nicht verstehen und ihm nicht gewachsen sein werden. Der Grund für das Missverständnis besteht nicht in einem Mangel an Aufklärungen des Elsterngleichnisses, sondern darin, dass die ''tumben'' die ''staete'' nicht kennen. Das Verständnis der Geschichte hängt angeblich von diesem Unterschied ab. Der Erzähler sagt, dass sie vom unechten Schein getäuscht werden, der einem Spiegelbild und dem Traum eines Blinden ähnelt. Dieser Schein verwirklicht nichts, denn er hat keine Dauer und verleiht nur eine kurze vergängliche Freude. Die ''tumben'' versuchen den Sinn schnell und leicht zu begreifen, aber suchen etwas, das eigentlich nichts ist, wie Haare am Handinneren: 


 
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| wer ruofet mich da nie kein har || Wer rupft mich da, wo mir kein Haar gewachsen ist,
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| wer ruofet mich da nie kein har<br />gewuohs, inne an miner hant?<br />der hat vil nahe griffe erkant.
| gewuohs, inne an miner hant? || innen an meiner Hand?
| Wer rupft mich da, wo mir kein Haar gewachsen ist,<br /> innen an meiner Hand?<br />Der kennt die Kunst der ganz besonders feinen Griffe.
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| der hat vil nahe griffe erkant. || Der kennt die Kunst der ganz besonders feinen Griffe.
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Nach dieser Behauptung ändert sich der Ton des Prologgesprächs. Die darauf folgenden Verse implizieren, dass die ''tumben'' sich Wolfram zugewendet hätten, um die Undeutlichkeit seines Werkes anzusprechen. Er rechnet damit, dass sie ihn deswegen angreifen und jetzt die Aufklärung des Elsterngleichnisses herausfordern. Jedenfalls versucht er mit seiner Reaktion solche Kritik aus Unverständnis ironisch zu unterlaufen und spottet nur weiter und indem er darauf antwortet: 
Nach dieser Behauptung ändert sich der Ton des Prologgesprächs. Die darauf folgenden Verse implizieren, dass die ''tumben'' sich Wolfram zugewendet hätten, um die Undeutlichkeit seines Werkes anzusprechen. Er rechnet damit, dass sie ihn deswegen angreifen und jetzt die Aufklärung des Elsterngleichnisses herausfordern. Jedenfalls versucht er mit seiner Reaktion solche Kritik aus Unverständnis ironisch zu unterlaufen und spottet nur weiter und indem er darauf antwortet: 


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| sprich ich gein den vorhten och, || Wenn ich vor solchen Nöten "aua" schreie-
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| daz glichet miner witze doch. || das sieht dem Geist, den ich begreife, ähnlich.
| 1,29-30
| sprich ich gein den vorhten och,<br />daz glichet miner witze doch.
| Wenn ich vor solchen Nöten "aua" schreie- <br /> das sieht dem Geist, den ich begreife, ähnlich.
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Die ''tumben'', die Wolfram an die Hand fassen, kommen ihm wirklich nahe, aber da sie aggressiv werden und an die Innenfläche der Hand greifen, können sie damit nichts weniger als sein Aggressionsbedürfnis befriedigen.
Die ''tumben'', die Wolfram an die Hand fassen, kommen ihm wirklich nahe, aber da sie aggressiv werden und an die Innenfläche der Hand greifen, können sie damit nichts weniger als sein Aggressionsbedürfnis befriedigen.

Version vom 12. Juli 2015, 01:56 Uhr

Im folgenden Artikel soll der Prolog von Wolframs von Eschenbach "Parzival", also die Rede des Erzählers zum Publikum, untersucht werden.

Funktion des Prologs

Wenn man die Struktur und die Funktion eines mittelalterlichen Literaturprologs genauer betrachtet, wird deutlich, dass der Prolog nicht nur eine unwichtige Rolle als Einleitung in die Geschichte spielt. Vielmehr funktioniert er in einer sprachlich sehr spezifischen Weise, um die Empfänger zuerst in den Text einzuführen und dann als Hilfsmittel bei Verständnis- und Interpretationsproblemen zu dienen.

Strukturell werden bei Prologen der ritterlichen Dichtung des Mittelalters grundsätzlich zwei Hauptteile unterschieden: Dem ersten Teil fällt die Aufgabe zu, die Gunst des Publikums zu gewinnen. [Brinkmann 1964: S. 8] Als erster Schritt versucht der Prolog mit dem Publikum in Kontakt zu treten. Dafür muss er ein Gespräch eröffnen, und zwar durch den Erzähler, der sich an die Empfängerschaft wendet. Eine solche Eröffnung ist oft eine dem Dichter und dem Publikum bekannte Lebenswahrheit und wird sozusagen die Verständnisbasis, von der aus die weitere Argumentation einvernehmlich aufgebaut werden kann. Der zweite Teil ̧übernimmt die Aufgabe, das Publikum in das eigentliche Werk einzuführen. Hier vermittelt der Erzähler Einzelheiten und Lehren, die für Verständnis und Interpretation der Geschichte wichtig sind, und schließt Anliegen auf, die dem Publikum nahe gebracht werden sollen. Die Rede im nicht auf das Werk eingehenden ersten Teil hilft dem Erzähler, das Publikum durch Argumente zu überzeugen, damit es das, was er mitteilt, als richtig oder glaubwürdig anerkennt. [Dyer 2004: S. 2]

Der Prolog in Wolfram von Eschenbachs Parzival wurde von Joachim Bumke als zu den schwierigsten und dunkelsten Textpartien der Dichtung beschrieben, weil der Erzähler von komplizierten Einzelheiten und Lehren spricht, anstatt dem Publikum deutliche, hilfreiche Erklärungen zu vermitteln. [Bumke 1997: S. 133f] Fast jede Aussage ist kontrovers.

zwivel

Der Parzival-Prolog beginnt mit einem generellen Bild von der menschlichen Situation, das als knappes Zitat[1] gesetzt wird:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Dieter Kühn
1,1-2 Ist zwivel herzen nachgebuhr,
daz mouz der sele werden sur.
Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt,
das muss der Seele sauer werden.


In diesem einleitenden Satz werden die Gedanken über den Zustand des zwivel hervorgehoben. Dadurch steckt Wolfram schon am Anfang den Bereich des Verständnisses ab. Im Prolog fällt Wolfram die Aufgabe zu, diese Situation zu verdeutlichen und selbst als Entscheidungshilfe wirksam zu werden. Leider verfehlt er es, diesen Aufgaben nachzukommen, weil sein Eingangsvers mehrere mögliche Bedeutungen hat, die umstritten sind. Das mittelhochdeutsche Wort zwivel birgt nicht geringe Schwierigkeiten. Wohl an keiner anderen Stelle gibt es so deutlich verschiedene Übersetzungsvorschläge. Es könnte Verzweiflung, Unglaube oder ethische Unsicherheit meinen. [Schirok 2009: S. 74]

Wenn zwivel im Bezug auf Parzival verstanden werden soll, könnte es eine religiöse Bedeutung annehmen. Die mittelalterlichen Bibelkommentare verwenden das Wort zwivel zur Bezeichnung von verschiedenen Stadien des religiösen Zweifels. Von dieser Deutung aus wird das Bild des wankelmütigen Mannes und dessen Unbeständigkeit besonders wichtig, denn der Protagonist des Werkes “Parzival" ist eine gemischte Figur, die sich vom Sünder zum Auserwählten wandelt. Er ist demnach eine uneinheitliche Gestalt, die sich von einer schuldhaften Unsicherheit und Desorientierung (zwivel) zur Einsicht in die Allmacht Gottes, mithin zum wahren Glauben (triuwe) und schließlich zur Gnade der Auserwähltheit entwickelt. Parzival wird einerseits als ein Auserwählter dargestellt; andererseits wird er von anderen Figuren des Werkes, wie Trevrizent, Cundrie und Sigune einer Schuldhaftigkeit bezichtigt, hauptsächlich deswegen, weil er beim Gral die Frage zu stellen versäumte. Beispielsweise sagt Cundrie:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Dieter Kühn
316,7-9 gein der helle ir sit benannt
ze hiemele vor der hohsten hant.
Vor dem Höchsten im Himmel
ist Euer Name zur Hölle verflucht.


Da er als Sünder erscheint, wird das Publikum mit zwei unterschiedlichen Charakterisierungen Parzivals konfrontiert.

Das Elsterngleichnis

In den Versen 1,3-14 illustriert Wolfram diesen wankelmütigen Typ als einen Menschen, der sowohl schwarz als auch weiß ist, wie die Elster. Er hebt diesen elsternfarbenen Typ von dem bloß schwarzen und bloß weißen ab:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Dieter Kühn
1,3-14 gesmaehet unde gezieret
ist, swa sich parrieret
unverzaget mannes muot,
als agelstern varwe tuot.
der mac dennoch wesen geil:
wand an im sint beidiu teil,
des himels und der helle.
der unstaete geselle
hat die swarzen varwe gar,
und wirt och nach der vinster var:
so habet sich an die blanken
der mir staeten gedanken.
Schande und Schmuck sind beieinander,
wo sich eines
Mannes unverzagter Mut konfus
gemustert geben will wie Elsternfarben.
Trotzdem, der kann doch noch glücklich sein,
denn an ihm ist etwas von beiden:
vom Himmel und von der Hölle.
Wer sich mit der Treulosigkeit zusammen tut,
der hat die schwarze Farbe ganz
und muss auch nach der Finsternis geraten.
Und so hält der, der fest ist und treu,
es mit den Weißen.


Mit der Typologie der drei Menschen grenzt Wolfram sich offenbar gegenüber solchen literarischen (und theologischen) Darstellungen ab, die nur den ganz guten und den ganz bösen Menschen, den weißen und den schwarzen, kennen, wobei den Guten der Himmel offen steht und die Bösen in die Hölle kommen. Wolfram führt eine Menschendarstellung im "Parzival" ein, die im scheinbaren Widerspruch zum Wort zwivel steht. Mit dem elsternfarbenen Menschentyp, der sowohl böse als auch gut ist, kreiert Wolfram etwas Neues, Unerhörtes, das sowohl die Existenz des Erzählers als auch die Existenz des Publikums betrifft. [Dallapiazza 2009: S. 132] Dadurch regt Wolfram das Publikum an, sich nicht nur mit der herrschenden theologischen Tradition von Rettung oder Verdammung zu identifizieren, sondern auch mit der Unentschiedenheit, den zweideutigen, widersprüchlichen, schwarz-weißen Menschen. Diesem Menschentyp entspricht das Symbol der Elster.

Im mittelalterlichen Zusammenhang erscheint die Elster als eine Allegorie des Unmöglichen, als Vereinigung von unvereinbaren Gegensätzen: Schwarz und Weiß, Gut und Böse, und vor allem zwei in Opposition zueinander stehenden Gottesvorstellungen: die heidnischen und die christlichen. Die Nebeneinandersetzung des Eingangsvers mit dem elsternfarbenen Menschentyp hat zu den unterschiedlichsten Interpretationen des Wortes zwivel beziehungsweise des Elsterngleichnisses geführt. Dadurch stellt der Erzähler sich gegen die einfache Klassifizierung nach Geretteten und Verdammten, denn es ist auch mit solchen Menschen zu rechnen, die noch zu keiner klaren Entscheidung gekommen sind, den Elsterfarbenen, die aber doch Hoffnung auf Rettung haben.

Diese neue Klassifizierung bei Wolfram erscheint jedoch nicht ohne Schwierigkeiten. Das Problem besteht darin, dass Wolfram diesen Widerspruch als selbstverständlich hinstellt, aber er bemüht sich nicht darum zu erklären, wie dieser Widerspruch verstanden werden soll, oder wie er möglich ist. Hierdurch vermittelt Wolfram dem aufgeschlossenen Publikum, dass seine Erzählung sich nicht auf einer oberflächlichen Ebene bewegt, sondern eine tiefere Theorie entwickelt, die durch das Elsterngleichnis die vorherrschende theologische Tradition in Frage stellt.

Da die Thematik der Unbeständigkeit von zwivel und der Zweideutigkeit der Elster so eine komplexe Rolle im Werk spielt, scheint ein zureichendes Verständnis dieser Verse deshalb einen Schlüssel zur Interpretation des Werkes zu enthalten. Das Elsterngleichnis deutet an, dass es in der Erzählung um den Menschen zwischen Gut und Böse geht und daher unausgesprochen auf den wankelmütigen Parzival hindeutet. Er ist ein Auserwählter, dessen Seele im Elsternfarbenen besteht. Parzival lebt gleichzeitig in Sündhaftigkeit und Auserwähltheit. Wenn das Elsterngleichnis von vornherein auf die Parzivalfigur anspielt, erscheint die Problematik dieser Figur als ein wichtiges Thema des Werkes.

Problematisierung der tumpheit

Wolfram geht weiter auf das Elsterngleichnis ein, indem er behauptet, dass nicht jeder seine in Bilder eingekleidete Lehre verstehen könne und deshalb polemisiert er die tumben. Das Vorausgehende aufnehmend wendet sich der Erzähler explizit den Rezipienten zu:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Dieter Kühn
1,15-19 diz vliegende bispel
ist tumben liuten gar ze snel,
sine mugens niht erdenken:
wand ez kan vor in wenken
rehte alsam ein schellec hase.
Dieses flinke Beispiel
ist zu flink für dumme Menschen,
sie bringen es nicht fertig, ihm nachzudenken:
denn es kann vor ihnen haken schlagen
gerade so wie ein verstörter Hase.

Kein Rezipient wird sich freiwillig den tumben zuordnen lassen wollen, und so ist die Passage weniger als Ausschluss sondern vielmehr als Werbung zu verstehen. [Schirok 2002: S. 75] Für die "anderen" - also für alle - gilt:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Dieter Kühn
1,20-25 zin anderhalp ame glase
geleichet, und des blinden truom.
die gebent antlützes ruom,
doch mac mit staete niht gesin
dirre trüebe lihte schin:
er machet kurze fröude alwar.
Zinn, hinten am Glas,
macht trügerisch tanzende Lichter und ebenso des Blinden Traum:
Die geben einem die Haut, die oben drauf schwimmt auf den Bildern.
Doch kann dies stumpfe, leichte Scheinen
nicht die Festigkeit dauern:
es macht ein kurzes Glück, das ist wohl wahr.


Diese komplizierte Metaphorik zusammengefasster Bilder lässt Wolfram über die tumben liute spotten und dadurch mitteilen, dass solche Leute den Sinn der Geschichte nicht begreifen werden, obwohl er selbst die Bilder nicht erklärt. Die tumben werden folglich von der Erzählung verfremdet. Von Anfang an wird klargemacht, dass das Werk, beziehungsweise Wolfram, Erwartungen an das Publikum stellt und, dass es keine einfältige Erzählung ist. Dadurch wird seinem Publikum das Niveau der Erzählung gezeigt.

In höchst eigenartiger Weise charakterisiert Wolfram das Unverständnis der tumben. Das Elstergleichnis (bispel) wird hier so eingesetzt, dass es die Intelligenz der Rezipienten provozieren soll. Das ist für die tumben eine Täuschung, weil sie meinen, dessen Sinn zu begreifen, obwohl ihnen die eigentliche Bedeutung entgeht. Wolfram deutet an, dass, weil die tumben das Elsterngleichnis nicht verstehen, sie das Werk nicht verstehen und ihm nicht gewachsen sein werden. Der Grund für das Missverständnis besteht nicht in einem Mangel an Aufklärungen des Elsterngleichnisses, sondern darin, dass die tumben die staete nicht kennen. Das Verständnis der Geschichte hängt angeblich von diesem Unterschied ab. Der Erzähler sagt, dass sie vom unechten Schein getäuscht werden, der einem Spiegelbild und dem Traum eines Blinden ähnelt. Dieser Schein verwirklicht nichts, denn er hat keine Dauer und verleiht nur eine kurze vergängliche Freude. Die tumben versuchen den Sinn schnell und leicht zu begreifen, aber suchen etwas, das eigentlich nichts ist, wie Haare am Handinneren:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Dieter Kühn
1,26-28 wer ruofet mich da nie kein har
gewuohs, inne an miner hant?
der hat vil nahe griffe erkant.
Wer rupft mich da, wo mir kein Haar gewachsen ist,
innen an meiner Hand?
Der kennt die Kunst der ganz besonders feinen Griffe.


Nach dieser Behauptung ändert sich der Ton des Prologgesprächs. Die darauf folgenden Verse implizieren, dass die tumben sich Wolfram zugewendet hätten, um die Undeutlichkeit seines Werkes anzusprechen. Er rechnet damit, dass sie ihn deswegen angreifen und jetzt die Aufklärung des Elsterngleichnisses herausfordern. Jedenfalls versucht er mit seiner Reaktion solche Kritik aus Unverständnis ironisch zu unterlaufen und spottet nur weiter und indem er darauf antwortet:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Dieter Kühn
1,29-30 sprich ich gein den vorhten och,
daz glichet miner witze doch.
Wenn ich vor solchen Nöten "aua" schreie-
das sieht dem Geist, den ich begreife, ähnlich.


Die tumben, die Wolfram an die Hand fassen, kommen ihm wirklich nahe, aber da sie aggressiv werden und an die Innenfläche der Hand greifen, können sie damit nichts weniger als sein Aggressionsbedürfnis befriedigen. Wolfram lässt sich nicht zwingen; er ist ebenso wenig zu fassen, wie für die falsch Zugreifenden das Elsterngleichnis zu fassen und zu enträtseln ist. [Dyer 2004: S. 19.]

triuwe

Wolfram macht sich den menschlichen Stolz und das menschliche Selbstbewusstsein, nicht als tumb gehalten werden zu wollen, zu Nutze, um sein Publikum mittelbar dazu zu zwingen, seine Theorie (das Elsterngleichnis) zu akzeptieren und nicht an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Infolgedessen schenken die tumben Wolfram ihr Einverständnis oder im Wolframschen Zusammenhang ihre staeteliche triuwe. Aus dieser Sicht scheint das Verständnis des Elsterngleichnisses beziehungsweise des Werkes eigentlich nicht von der Intelligenz im traditionellen Sinne abzuhängen, sondern von triuwe. Wolfram ist der Ansicht, dass von Menschen solcher Art (den tumben) nichts zu erwarten sei(kein Verständnis), denn ihre triuwe habe so wenig Bestand wie Feuer im Wasser und Tau vor der Sonne:

wil ich triwe vinden Will ich denn dort die treue Gewissheit finden,
alda si kan verswinden, wo sie gekonnt verschwinden
als viur in dem brunnen wie Feuer in brandendem Wasser,
unt daz tou von der sunnen? wie Tau von der Sonne?

(2, 1-4)


Wolfram leitet den Begriff triuwe durch diese Metaphernreihe ein. Um dem Publikum mitzuteilen, dass es triuwe ist, was den tumben fehlt, schildert Wolfram durch Negativa seine Bedeutung von triuwe, die sich vom orthodoxen theologischen Sprachgebrauch abgrenzt, nämlich Beständigkeit (staete) als Gegenteil von zwivel. Deswegen macht es Wolfram zu Folge keinen Sinn, sich auf die tumben zu verlassen, weil sie nur an der Oberfläche seiner Gleichnisse bleiben und keine triuwe bewahren, wie die Flamme im Quell oder das Tau in der Sonne verschwindet. Hierdurch wird der Begriff triuwe zum zentralen Thema der Erzählung.

An die wisen

Wolfram geht mit diesem Verwirrspiel einen Schritt weiter, wenn er nach Verabschiedung der tumben nun die wisen im Gegensatz zu den tumben in den Vordergrund stellt. Seiner Meinung nach erlaubt ihm der Ausfall der tumben, auf die Klugen zu bauen:


ouch erkannte ich nie so wisen man, Immerhin, ich kenne niemand, mag er noch so klug sein,
ern möhte gerne künde han, der nicht gern erführe,
wellher stiure disiu maere gernt was diese Geschichte von den ihren fordert
und waz si guoter lere wernt. und was an guter Lehre sie geben will.
darr an si nimmer des verzagent, Was das betrifft, ist sie ganz unbekümmert:
beidiu si vliehent unde jagent, Mal flieht sie, mal stürmt sie nach vorn
si entwichent unde kerent, sie zieht sich zurücke, sie kehrt sich um;
si lasternt unde erent. die einen stürt sie in Schande, die anderen hebt sie empor.
swer mit disen schanzen allen kan, Wer dan noch mithalten kann, mit sämtlichen Kadenzen,
an dem hat witze wol getan, den hat die Weisheit lieb -
der sich niht versitzet noch verget das ist der, der sich nicht verhockt und nicht verrennt,
und sich anders wol verstet. er macht was anderes: Er versteht sich drauf.

(2, 5-16)


Die wisen sind das Gegenteil von den tumben und in diesem Kontext müssen sie diejenigen sein, die staetliche triuwe haben. Der Bedarf der triuwe wird anders bei den wisen als bei den tumben dargestellt. Während Wolfram die tumben nur verspottet, antwortet er den wisen auf die Frage, welche Beisteuer diese Dichtung verlangt und welche guten Lehren sie vermittelt. Wolfram sagt, die Erzählung flieht und jagt, sie weicht und greift an, sie nimmt Ehre und preist. Eine direkte Lehrhaftigkeit der Erzählung ist nicht zu erwarten, denn der Sinn erschließt sich nur dem, der sich auf alle Wechselfälle versteht und bereit ist, der sprunghaften Erzählweise Wolframs zu folgen. Hier wird von den Klugen verlangt, dass sie sich mit dem Unfassbaren in der Erzählung abfinden. [Dyer 2004: S. 23]


Es geht um eine Erzählung, die nicht in eine Lehre zu fassen ist, für die kein Deutungsrezept angegeben werden kann, sondern um eine, mit der das Publikum mit sehr viel Entschlossenheit und festem Willen, beziehungsweise triuwe, mitgehen muss. Die Erzählung fordert die wisen, das nachzuvollziehen, was dem Helden widerfährt, um schließlich den Sinn des Werkes zu verstehen.

An die Frauen

Wenn die bisherigen Differenzierungen nicht allein für die Männer Gültigkeit haben, dann haben sie auch Gültigkeit für die Frauen, denen sich der Erzähler nun speziell zuwendet, wobei umgekehrt zu gelten scheint, dass das Folgende, die Geschichte, nicht allein für Frauen Gültigkeit hat, sondern auch für Männer. [Schirok 2002: S. 76]


dise manger slahte underbint Wenn ich hier mancherlei Dinge auseinanderklaube,
jedoch nich gar von manne sint. so spreche ich nicht allein von Männern.
für diu wip stoze ich disiu zil. Auch den Frauen stecke ich die Bahn ab.

(2, 23-25)

Der wohl etwas zu eng als "Frauenabschnitt" bezeichnete Teil des Prologs hat zunächst die Funktion, die Frauen als Gruppe innerhalb der Rezipienten überhaupt erst einmal anzusprechen, was spätere spezielle Rückgriffe auf die Rezipientinnen in den folgenden Büchern des Werks vorbereitet. [Schirok 2002: S. 77]

Dieser Abschnitt steht nur insofern in lockerem Zusammenhang mit den vorhergehenden Passagen, als dass die Abscheulichkeit der Untreue ein weiteres Mal hervorgehoben wird. Hier benennt Wolfram tugendhaft-vorbildliches Frauenverhalten, das die Frauen zu verwirklichen versuchen sollten:


swelhiu min raten merken wil, Die aufpassen will, wenn ich ihr rate,
diu sol wizzen war si kere wird dann wissen, wohin sie zielen soll
ir pris und ir ere, mit ihrem Glanz und ihrer Ehre,
und wem si da nach si berei und auch, für wen sie nachher
minne und ir wedekeit, ihre Liebe und ihren Adel bereit halten soll,
si daz si niht geriuwe so dass ihre
ir kiusche und ir triuwe. Keischheit, ihre Treue sie nicht reut.
vor gote ich guoten wibe bite, Vor Gott bitte ich darum, dass die guten Frauen
daz in rehtiu maze volge mite. Modestia in ihr Gefolge nehmen möchten.
scham ist ein sloz ob allen siten: Schamgefühl schließt alle guten Sitten in sich ein:
ich endarf in niht mer heiles biten. Es ist nicht nötig, ihnen noch mehr und andern Segen zu erbitten.
diu valsche erwibet valschen pris. Eine Verräterin erwirbt sich verräterischen Ruhm.
wie staete ist ein dünnez is, Wie treu ist denn dünnes Eis
daz ougestheize sunnen hat? in der augustheißen Sonne?

(2, 26-3,9)

Wolfram sagt, die Frauen sollten genau überlegen, wem sie Ehre zeigen, wen sie loben und lieben und wem sie ihr Ansehen hingeben, damit sie später ihre Keuschheit und Treue nicht bereuen. Wolfram warnt sie dann vor Falschheit und unterscheidet zwischen innerem und äußerem Wert:

manec wibes schoene an lobe ist breit: Die Schönheit vieler Frauen wird weit und breit gefeiert.
ist da daz herze conterfeit, Wenn da aber das Herz bloß nachgemacht ist,
die lob ich als ich solde dann lobe ich sie so, wie ein Stückchen Glasfluss,
daz safer ime golde. in Gold gefasst, zu loben schuldig wäre.

(3, 11-14)


Da Wolfram sich speziell an die Frauen wendet, zeigt sich, dass er die Frauen schon am Anfang als eine ihm wichtige Gruppe herausgreift und dass er auch von ihnen besondere Qualitäten erwartet.

Fazit

Mit dem Prolog sind die Grundzüge des literaturtheoretischen Konzepts entworfen. Vieles davon wird in späteren Partien, großen und kleinen, wieder aufgenommen, manches wird weiter ausgeführt, ergänzt, modifiziert, spezifiziert, mit oder ohne Kommentar umgesetzt. [Schirok 2002: S. 78]

Der Prolog hat einen klaren Gedankengang, aber er entwickelt und entfaltet ihn über eine nicht leicht zu überschauende Vielzahl von Vorstellungen, Möglichkeiten, Typen, Bildern und Gegenbildern: Der Elsternfarbige, der Schwarze und der Weiße, die tumben liute, denen das vliegende bispel wie ein schellec hase vorkommt und die am Spiegelbild und Blindentraum ihren Gefallen haben, der wise man, der erfährt, dass diu maere vliehent und jagent, entwichent und kerent. Dann die Frauen: die guoten und die valschen, die vielgepriesenen Schönen, deren äußere Schönheit den Erzähler zu näherem Hinsehen veranlasst. Und natürlich der Erzähler selbst, der auch im weiteren Verlauf eine eigene wichtige Rolle des Vermittlers und Kommentators spielen wird. Damit sind die Pole der literarischen Kommunikation im "Parzival" benannt und charakterisiert, die literarischen Gegenstände und Sachverhalte (Elsterngleichnis, wise liute) und der Erzähler.

Anmerkungen

  1. Angaben im Folgenden nach Parzival.

Literatur

Textausgabe

  • [*Parzival]Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übers. von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2006.

Sekundärliteratur

<HarvardReferences />

  • [*Brinkmann 1964]Brinkmann, Hennig: Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung: Bau und Aussage, in: Wirkendes Wort 14 (1964), S. 1-21
  • [*Bumke 1997]Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 7., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart/Weimar 1997.
  • [*Dyer 2004]Dyer, Melissa: Der Parzival-Prolog als literarische Ausnahme, Georgia 2004.
  • [*Schirok 2002]Schirok, Bernd: Von "zusammengereihten Sprüchen" zum "literarische[n] Konzept". Wolframs Programm im Parzival: die späte Entdeckung, die Umsetzung und die Konsequenzen für die Interpretation, in: Wolfram-Studien 17, Berlin 2002, S. 63-94.