Die Gralsbotin Cundrîe (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Cundrîe la suziere ist eine gelehrte Frau aus dem Land Tribalibot (Pz. 517, 29), die zusammen mit ihrem Bruder von der indischen Königin Secundille zur Gralsburg als Geschenk für König Anfortas geschickt wird. Dort wird sie zur Gralsbotin und dadurch Teil der Gralswelt. Einzigartig an ihrer Person ist das Nebeneinander ihrer äußerlichen Hässlichkeit, welche durch tierische Züge fast grotesk wirkt, und der inneren Schönheit, die sich in tiefer "triuwe", Mitleid und Gottesfürchtigkeit ausdrückt. Ihre Erscheinung kann demnach als Negativbild des wunderschönen Parzival betrachtet werden, der aufgrund mangelnder Bildung immer wieder innerliche Schwäche beweist und Moral nur durch seine Fehltritte erlernt. Cundrîe nimmt eine tragende Rolle im Erkenntnisprozess Parzivals ein. Sie klärt ihn nicht darüber auf, dass er Mitglied der Gralssippe ist und Feirefiz sein Halbbruder, vielmehr verflucht sie ihn für seine Taten. Auch wenn er wohl nie bewusst falsch gehandelt hat, so reißt sie ihn aus seiner verklärten Sicht über sein Leben und bringt ihn dazu, sein Handeln zu hinterfragen. Überdies versorgt sie Sigune , welche sich in eine Klause fernab der Gesellschaft in einsamer Trauer um ihren Geliebten Schionatulander zurückgezogen hat, mit Nahrung und bringt auch der alten Königin Arnive Salben und Medizin.

Die Verfluchungsepisode 312,2-319,20

Da es Parzival versäumte, Anfortas auf der Gralsburg Munsalvaesche die Erlösungsfrage zu stellen, verfluchte ihn seine Cousine Sigune für sein mangelndes Mitleid und seine fehlende Treue (Pz. 255, 2-20). [1] Nach einer Nacht im Wald erblickt Parzival einen Blutstropfen im Schnee, der ihn an seine Frau Condwiramurs erinnert. In Liebesgedanken versunken nähert er sich dem Artushof und wird von einem Knappe für einen Eindringling gehalten. Keie und Segremor treten daraufhin gegen den vermeintlichen Herausforderer an. Als Gawan Parzival erkennt, erlöst er ihn von seinem Minnebann und führt ihn auf die Burg, wo er in die Gemeinschaft der Artusrunde aufgenommen wird. Zu Ehren Parzivals veranstaltet Artus ein glanzvolles Fest auf Plimizoel, welches die Herrlichkeit der Artusgesellschaft widerspiegelt. Auch scheint zu diesem Zeitpunkt Parzivals Ruhm an seinem Höhepunkt zu sein. Doch durch das Erscheinen Cundrîes vor der Artusrunde wird die Scheinharmonie der Tafelrundenidylle gebrochen. [Pappas 2001]

Artûs her si brâhte pîn. Sie brachte Leid zu des Artûs Leuten.

(Pz. 312,18)


vil hôher freude se nider sluoc. Sie schlug alles Glück zu Boden, das über der Festversammlung lag.

(Pz. 312,30)


Anfangs stellt Wolfram sie nur als „ein magt“ (Pz. 312,4) und „diu juncfrouwe“ (Pz. 312,16) dar. Auch Cundrîe selbst stellt sich, die gesellschaftliche Form missachtend, der Artusrunde nicht vor. Wenig später jedoch erwähnt der Erzähler ihren Spottnamen "la suziere", die Hexe. Diese Verbindung zum mystisch Dämonischen trägt dazu bei, dass das Publikum sie mit einer zweifelnden Distanz betrachtet, da sich die Frage stellt, ob dieser Name Rückschlüsse auf Cundrîes Charakter ziehen lässt.[2]

Wolfram beschreibt Cundrîes Gestalt als hässlich und wenig anmutig. Schon ihr Beiname, die Hexe, zeigt ihre Hässlichkeit.[3] Ihrem Äußeren verleiht er terimorphe Züge, welche ihre Erscheinung grotesk wirken lassen. So beschreibt Wolfram beispielsweise ihre Nase als Hundeschnauze ("si was genaste als ein hunt:" [Pz. 313, 21]), ihre Bärenohren ("Cundrî truoc ôren als ein ber," [Pz. 313, 29]) oder auch ihren Zopf, welcher an die Rückenborsten eines Schweins erinnert ("ein zopf...der was sô..linde als eins swînes rückehâr." [Pz. 313, 17-29]). Zu ihrer hässlichen Gestalt trägt Cundrîe auffallend noble Kleidung.

ein brûtlachen von Gent, Genter Brauttuch
noch plâwer denne ein lâsûr, blauer als Lapislazuli,
het an geleit der freuden schûr: trug dieser Hagelschlag des Glücks:
daz was ein kappe wol gesniten ein elegantes Cape
al nâch der Franzoyser siten: nach französischem Schnitt;
drunde an ir lîb was pfelle guot. darunter trug sie feine Seide am Leib.

(Pz. 313,4-9)

Wolfram erwähnt überdies Cundrîes hohe Bildung, welche Respekt und Bewunderung hervorruft. Sie spricht Latein, Französisch und Heidnisch und ist in der Dialektik, Astronomie und Geometrie bewandert. Während sie äußerlich eher abstoßend und wenig anmutig wirkt, so stellt sie Eleganz bezüglich ihres Wissens unter Beweis:

der meide ir kunst des verjach, Das Mädchen war in vielerlei Künsten wohl unterrichtet,
alle sprâche si wol sprâch, alle Sprachen sprach sie geläufig:
latîn, heidensch, franzoys. Lateinisch, Heidnisch und Französisch.
si was der witze kurtoys, Eleganz entfaltete sie auf dem Gebiet der Wissenschaften.

(Pz. 312,19-22)


Der Kontrast zwischen Cundrîes hässlichem Äußeren und ihrer Herkunft, sowie der hohen Bildung, welche sich auch in ihrer edlen Gesinnung widerspiegelt, machen sie zu einem einzigartigen Charakter innerhalb des Parzival-Romans. Die Bedeutung Cundrîes Hässlichkeit wird im dritten Abschnitt untersucht. Immer wieder unterbricht Wolfram die detaillierte Beschreibung Cundrîes durch Vorausdeutungen ihrer unheilvollen Botschaft:

wê waz solt ir komen dar? Wehe, was hat ihr Kommen zu bedeuten?

(Pz. 312,16)

Cundrîes Botschaft wird Parzivals Ruhm zugleich zerbrechen lassen. Wie bereits Sigune verflucht nun auch Cundrîe Parzival für das Unterlassen der Erlösungsfrage (315, 20ff), sie beschuldigt ihn Anfortas gegenüber kein Mitleid gezeigt zu haben (316, 3) und wirft ihm mangelnde "triuwe" und Erbarmen vor. Sein Versagen bezeichnet Cundrîe als Versagen vor Gott. Sein Schweigen machte ihn zum Sünder und nun sei diser für die Hölle bestimmt. Auch wertet sie Parzivals Verhalten bezüglich seines Rittertums und verkündet Artus, dass durch die Aufnahme Parzivals in die Artusrunde sein Ruhm nun sinke (315, 1-10). Cundrîes Fluch richtet sich auch gegen Parzivals Schönheit und Stärke, die seine innerliche Hässlichkeit, die er beispielsweise durch das mangelnde Mitleid gegenüber dem Fischer bewies, immer wieder überdecken. Ihre eigene Hässlichkeit gewinnt durch die auffällige Schönheit Parzivals, die bisher als Zeichen seiner göttlichen Erwählung gedeutet wurde, tiefere Bedeutung. Gleichzeitig verdeutlicht ihre Hässlichkeit die Schlechtigkeit der Nachricht, deren Überbringerin sie ist. Nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Verkündungen sind "hässlich". Cundrie begibt sich immer mehr in Rage und drückt immer deutlicher ihre Verachtung gegenüber Parzival aus:

ir heiles pan, ir saelden fluoch, Allem Heil seid Ihr Fluch und allem Glück die Pest;
des ganzen prîses reht unruoch! allem, was Ehre hat, seid ihr so recht ein Wurm, ein Nichts.

(Pz. 316,11f)


Eine für Parzival entscheidende Rolle spielt die Begegnung mit Cundrîe auch deshalb, weil er erst durch die Gralsbotin die Namen seiner Eltern Gahmuret und Herzeloyde erfährt. Entscheidend allerdings ist, dass er darüber aufgeklärt wird, dass er als Sohn Gahmurets der Enkel des Gralskönigs Anfortas und somit ein Mitgleid des Gralsgeschlechts ist. Auch erfährt er von seinem Halbbruder Feirefiz . Cundrîe stellt diesen im Gegensatz zu Parzival als einen der reichsten Männer des Orients dar, welcher sich durch sein vorbildliches Rittertum auszeichnet. Bedauernd stellt sie fest, dass, während Feirefiz seine Ehre immer weiter anhäuft, Parzival mehr und mehr Schuld auf sich lädt und sich immer mehr ins Unheil begibt. Am Ende ihrer Rede erwähnt Cundrîe das Schastel marveile und berichtet über die Gefangenschaft der drei Königinnen dort. Sie hofft auf Hilfe aus dem Kreise der Tafelrunde und tatsächlich bricht Gawan kurz darauf zur "aventiure" auf, mit dem Ziel die Königinnen zu befreien.


Markant ist überdies die Darstellung Cundrîes Leid.

Cundrî was selbe sorgens pfant. Cundrî selber war da ganz in der Gewalt des Kummers.
al weinde si die hende want, Sie weinte nur noch und rang die Hände.
daz manec zaher den andern sluoc: Über viele Tränen rollten Tränenwogen hin,
grôz jâmer se ûz ir ougen truoc. großen Jammer ließ sie aus den Augen fließen.
die maget lêrt ir triuwe Treue lehrte dieses Mädchen, das Leid, das es im Herzen trug,
wol klagen ir herzen riuwe. so recht hinauszuklagen.

(Pz.318,5-10)

Sie leidet nicht unter persönlichem Kummer, sondern empfindet solch tiefes Mitleid, dass es sich zu persönlich empfundenem Leid entwickelt. Cundrîe erscheint als äußerst selbstlose Person und beweist ihre edle Gesinnung, denn ihre Klage gilt Parzivals unglücklicher Entwicklung, welche ihrer Meinung nach in die Hölle führt. Außerdem bedauert sie zutiefst, dass sie Botin dieser schlimmen Kunde ist, welche auch den Ruhm Parzivals Mutter Herzeloyde befleckt.

ôwê daz ie wart vernomn Wehe, daß man das aus meinem Mund hören muß,
von mir, daz Herzeloyden barn daß der Herzeloyde Kind
an prîse hât sus missevarn! sich so vergangen hat an seiner Ehre!

(Pz. 318,2-4)

Die Berufungsepisode 778,13-786,30

Nachdem Parzival gegen Feirefiz gekämpft hat, unwissend darüber, dass der Fremde sein Halbbruder ist, gibt sich dieser zu erkennen. Parzival erfährt, dass Feirefiz ein mächtiger Heidenkönig ist und über 25 Länder gebietet. Als Parzival seinen Halbbruder in das Lager von Joflanze zurückführt, wird dieser von Gawan und König Artus feierlich begrüßt. Zu Ehren Feirfiz´ veranstaltet Artus ein Fest und nimmt ihn in die Tafelrunde auf. Als das Fest gerade im Gange ist, erscheint Cundrîe das zweite Mal. Während das erste Erscheinen Cundrîes vor der Tafelrunde nichts Gutes verhieß und durch mehrfache Erzählerkommentare als unheilbringend deklariert wurde, so preist der Erzähler bereits einleitend den zweiten zentralen Auftritt Cundrîes vor der Tafelrunde. Auch deutet er dieses Mal die kommende frohe Botschaft voraus:

wol dem künfteclîchen tage! Gesegnet sei der Tag, der nun seinen Lauf nimmt!
gêrt sî ir süezen maere sage, Ehre sei der süßen Botschaft, die sie sagte
als von ir munde wart vernomn! und die man aus ihrem Mund vernahm!

(Pz. 778,13-15)


Wiederum beschreibt Wolfram präzise Cundrîes edle Kleidung. Indem er zusätzlich über ihre Hässlichkeit schweigt, erscheint Cundrîe in einem völlig anderen und positiveren Licht. Aber auch ihr Verhalten gegenüber Artus und seinen Rittern ist sehr viel höflicher als bei der ersten Begegnung. Diesmal reitet sie nicht direkt in den Ring hinein, sondern erst nachdem ihr die Erlaubnis dazu erteilt wurde. Auch grüßt sie höflich König Artus und bittet ihn sogar um Vergebung:

si warp daz ein râche sie sprach, man möge alten Haß und Feindschaft
ûf si verkorn waere gegen sie vergessen
unt daz man hôrt ir maere. und ihre Botschaft anhören.

(Pz. 779,12-14)


Während sie vorher nicht einmal vom Pferd stieg, so fällt sie nun demütig Parzival zu Füßen und fleht ihn weinend an, seinen Zorn auf sie fallen zu lassen (Pz. 779, 22-26). Erst nachdem ihr Parzival verzeiht, gibt sie sich zu erkennen und lässt die Schleier fallen, welche bisher ihr Gesicht verhüllten. Wolfram beschreibt wiederum ihr Äußeres und weist sogar darauf hin, dass es dem Leser bereits bekannt ist. Es folgt ähnlich wie bei der ersten Begegnung eine detaillierte Beschreibung Cundries Hässlichkeit. Jedoch verwendet Wolfram dieses Mal Metaphern aus dem Bereich der Schönheitsbeschreibung, lässt ihre vermeintlich terimorphen Züge unerwähnt und trägt somit dazu bei, dass Cundriês Hässlichkeit nicht mehr abstoßend wirkt, sondern vielmehr Zuneigung und Wohlwollen hervorrufen könnte.

ir antlütze ir habt vernomn: Ihr Gesicht ist euch bereits geschildert worden,
ir ougen stuonden dennoch sus, darin standen immer noch die gleichen Augen,
gel als ein thopazîus, gelb wie ein Topas,
ir zene lanc: ir munt gap schîn und lange Zähne.
als ein vîol weitîn. Veilchenblau wie Färberwaid war der Schimmer ihrer Lippen.

(Pz.780,18-22)


Feierlich richtet sie sich an Parzival und verkündet, dass er zum Herrn des Grals berufen sei.

daz epitafjum ist gelesen: Das Epitafium ist gelesen:
du solt des grâles hêrre wesen. du sollst der Herr des Grâls sein.

(Pz. 781, 15-16)

Bei ihrer ersten Begegnung sagte sie noch, dass die Erlösungsfrage ihre Kraft verliere, sollte sie nicht am ersten Abend gestellt werden. Dies revidiert sie nun. Um zu verdeutlichen, dass die Zeit des Neubeginns und des Glücks für Parzival bevorsteht, zählt sie die Planeten auf, welche nun in ihr Haus zurückgekehrt sind und ein Planetenjahr abschließen. Sie nennt den Namen jedes einzelnen Planeten mit deren heidnischen Namen, die allein Feirefiz versteht (Pz. 782, 1-21). Erstaunlich ist, dass Parzival, welcher sich bisher tölpelhaft und uneinsichtig gab, nachdem er Cundriês Botschaft erfahren hat, sich als reif und einsichtig beweist. Indem er seine Fehler nicht leugnet, sondern sich ehrlich zu diesen bekennt, erkennt er Cundrîes anfänglichen Hass gegenüber seiner Person als begründet an. Dass sie nun um seine Vergebung buhlt, ist für ihn Zeichen Cundrîes "triuwe". Neben dieser Treue erweist sich die Gralsbotin auch als selbstlose Person. Als König Artus Cundrîe auffordert, sich nun Ruhe zu gönnen und zu äußern was zu ihrem Wohlbefinden beitragen würde, gilt ihr erster Gedanke Arnive und den anderen Frauen, um deren Zustand nach der Gefangenschaft sie sich sorgt.

Cundries Bruder Malcreatiure

In den beiden oben beschriebenen Szenen spielt Cundrie eine große Rolle und beeinflusst Parzivals Entwicklung zum Gralskönig. Doch auch an anderer Stelle wird sie erwähnt. Die indische Königin Secundille schickte sie und ihren Bruder als "Kostbarkeiten" zur Gralsburg, um ihr Interesse am Gral deutlich zu machen: "zwei mennesch wunderlîch gevar, Cundrîen unde ir bruoder clâr" ("zwei menschliche Wunderwesen, Cundrîe und ihren Bruder, den Lichten" [Pz. 519, 22f]). Malcreatiure wird von Anfortas an Orgeluse weitergegeben.
Malcreatiure ist ebenso hässlich wie seine Schwester. Mit ironischem Unterton beschreibt ihn der Erzähler:

Malcrêatiure Malcrêatiure,
hiez der knappe fiere: so hieß der rasant schöne Knappe.
Cundrîe la sueziere Cundrîe la sueziere,
was sîn schwester wol getân: die Hübsche, war seine Schwester,
er muose ur antlütze hân und er sah genauso aus wie sie,
gar, wan daz er was ein man. nur, dass er eben ein Mann war.

(Pz. 517, 16-21.)

Auch er ist mit tierischen Attributen ausgestattet, die Zähne stehen ihm wild im Gesicht, seine Haare sind kürzer als die seiner Schwester, gleichen aber den Borsten eines Igels. (Vgl. Pz. 517, 22-27) Außerdem liefert der Erzähler eine Begründung für die Hässlichkeit der Geschwister. Es wird die Entstehung eines Stamms von Missgestalten beschrieben: Obwohl Adam seinen Töchtern, sobald sie schwanger waren, immer geraten hatte von einigen Früchten nicht zu essen, packte manche der Frauen doch die Gier und sie handelten wie ihr "brœder lîp" ("ihr schwaches Fleisch" [Pz. 518, 26]) es ihnen befahl. "sus wart verkêrt diu mennischheit" ("so entstanden monströse Menschenwesen" [Pz. 518, 29]), zu deren Vertretern Cundire und ihr Bruder gehören. Mit dieser Passage beschreibt der Erzähler eine Art Sündenfall, dessen Strafe die Nachkommen der Sünderinnen büßen müssen. Obwohl diese Erklärung mit der mittelalterlichen Vorstellung von Hässlichkeit als Kennzeichen für fehlenden Glauben übereinstimmt, steht die Passage dennoch im Widerspruch zu Cundries gutem Charakter.

Die Hässlichkeit Cundrîes

Wolfram von Eschenbach stellt mit Cundrîe eine Figur dar, welche den Leser wohl häufig irritieren wird. Ihre äußerliche Hässlichkeit, welche durch die Beschreibung terimorpher Züge abstoßend und grotesk wirkt, steht in Kontrast zu der inneren Schönheit, die sie durch ihr moralisch-ethisches Verhalten und ihre Großherzigkeit beweist. Die Gleichzeitigkeit von schönen und hässlichen Attributen ist in der Darstellung einer literarischen Figur unüblich und da man instinktiv schön mit gut, sowie hässlich mit böse assoziiert, wirft das die Frage auf, was Wolfram mit diesem Widerspruch bewirken wollte oder ob er mit Cundrîe vielleicht sogar einen Scheinwiderspruch, von dem bereits im Prolog des Parzival die Rede ist, darstellt. Die Beschäftigung mit Cundrîe und ihrer Hässlichkeit, sowie deren Funktion machen eine Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Verständnis von Schönheit und Hässlichkeit und ihrer Funktionalisierung in der höfischen Dichtung nötig. Nach Jauß war äußerliche Schönheit für den mittelalterlichen Adel ein Argument zur Durchsetzung von Rangansprüchen, da nach mittelalterlichem Verständnis äußerliche Schönheit der inneren Werthaftigkeit entsprach. Somit galt Schönheit als Kennzeichen von Herrschaft und Abgrenzung von niederen Ständen. Cundrîes vernichtende Tirade gegen den schönen Parzival zielte ins Herz einer alteuropäischen Tradition, nach der die Schönheit das adäquate Gefäß des Guten ist, Schönheit und Gutsein also wechselseitig füreinander bürgen. In den Worten des Thomas von Aquin: "Das Schöne ist mit dem Guten austauschbar." [Herkommer 2004] Das in den Personenbeschreibungen der höfischen Autoren beherzigte ästhetische-ethische Prinzip, nach dem die idealen Männer- und Frauengestalten gerade deshalb schön sind, weil sie gut sind und gerade deshalb gut, weil sie schön sind (vgl.: 316, 11-20), hatte im Augenblick der Begegnung zwischen der hässlichen Cundrîe und dem schönen Parzival seine Gültigkeit verloren. Der angehimmelte Schöne wird als verabscheuungswürdiger Bösewicht dargestellt. Während in der deutschen höfischen Dichtung keine vorgegebenen Muster zur Beschreibung von Personen typisch waren, so ist der Einsatz von Hässlichkeit als Attribut des Bösen in der französischen Dichtung üblich. [Jauß 1968: S. 148] Des Öfteren treten äußerlich abstoßend wirkende und hässlich dargestellte Feinde, Heiden und Bösewichte in der chanson de geste zur Verkörperung des Bösen auf. Dadurch wurde Hässlichkeit immer in Verbindung mit dem Bösen gebracht.

In der christlich-theologischen Dichtung begegnet man rein körperlicher Schönheit mit Skepsis. Man geht von einer Dichotomie von Hülle und Kern für alle Erscheinungen der sichtbaren Welt aus. Somit müssten nach Katharine Pappas alle Phänomene auf deren verborgenen geistigen Hintergrund untersucht werden, da Hässliches und Schönes in gleicher Weise Zeichen des Guten sein können. [Pappas 2001: S. 160] Jauß spricht hier von der "deformitas Christi", welche für Christen kein substantieller Verlust Christi sei, da das spezielle Bild Christi noch immer an die Idealität des Schönen gebunden bleibe. Die Realität des Hässlichen und Grauenvollen sei somit nur „unvollendetes Gegenbild zur Transzendenz des vollendet Schönen“. [Jauß 1968: S.157-158] Das Niedrige und Böse ist somit gänzlich vom Hässlichen abgelöst. Diese Erkenntnis wirft unter den Theologen die Frage auf, in welcher Erscheinungsform das Wirken Gottes deutlicher zum Ausdruck kommt. Viele Stimmen sprechen dafür, dass Hässlichkeit im Vergleich zum Schönen deutlicher macht, dass alles Irdische, Sichtbare nur Zeichen für ein Höheres Sein ist. [Pappas 2001: S. 160]

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Wolfram mit der Hässlichkeit Cundrîes eben keine Abneigung der Leser hervorrufen wollte, sondern vielmehr ihre Vorbildlichkeit und innere Schönheit, welche er durch die ausführliche Beschreibung ihrer moralisch-ethischen Qualitäten bereits eindeutig hervorhebt.

Michael Dallapiazza untersuchte bei der Frage nach der Funktion Cundrîes Hässlichkeit die Wirkung, welche die Beschreibung ihres Äußeren bei der Darstellung ihrer Person auf den Leser macht. Er kam zu dem Schluss, dass Wolfram, weil er die Hässlichkeitsbeschreibung gegenüber der Vorlage Chrestiens von 81 auf 19 Verse kürzte, ihre Hässlichkeit nicht als abstoßend wirken lassen wollte. Vielmehr betone Wolfram bei der Darstellung Cundrîes ihre moralischen und sozialen Qualitäten. Er stelle sie als besonders mitleidsfähiges Wesen dar. [Dallapiazza 1985: S: 403ff] Mitleid drückt sich bei Cundrîe als persönlich empfundenes Leid aus. So weint sie bittere Tränen um Parzivals und Anfortas Unglück:

Cundrî was selbe sorgen pfant. Cundrî selber war da ganz in der Gewalt des Kummers.
al weinde si die hende want, Sie weinte nur noch und rang die Hände.
daz manec zaher den andern sluoc: Über viele Tränen tollten Tränenwogen hin,
grôz jâmer se ûz ir ougen trouc. großen Jammer ließ sie aus den Augen fließen.

(Pz. 318,5-8)


Von Anfang an komponiert Wolfram Cundrîe gegen die Klischees der höfischen Gesellschaft, der die rein äußerliche Schönheit als Merkmal eines idealen Menschen genügte. Michael Dallapiazza verweist hierzu auf den Prolog, in welchem er offensichtlich gegen eine solche Sichtweise Stellung nehme:

manec wîbes schoene an lobe ist breit: Die Schönheit vieler Frauen wird weit und breit gelobt.
ist da daz herze conterfeit, Wenn da aber das Herz bloß nachgemacht ist,
die lob ich als ich solde dann lobe ich sie so,
daz safer ime golde. wie ich ein Stückchen Glasfluß in Gold gefasst, zu loben schuldig wäre.

(Pz. 3,11-14)

ist si inrehalp der brust bewart, Wenn nur das innen in der Brust sich sehen lassen kann,
so ist werder prîs dâ niht verschart. so wird ihr Wert und ihre Ehre ohne Scharte bleiben.

(Pz. 3,23f)


Wolfram charakterisiert Cundrîe als hoch gebildete Frau, welche sich durch ihr Äußeres von all den anderen Damen, die durch äußere Schönheit in der höfischen Gesellschaft wertgeschätzt werden, unterscheidet. Jedoch erhält man durch Wolframs Worte nicht den Eindruck, er wolle Cundriês Hässlichkeit als ein Manko ihrer Person verstanden sehen:

Diu maget witze rîche Die junge Dame, die so gelehrt war,
was gevar den unglîche sah ganz anders aus
die man dâ heizet bêâ schent. als sonst die schönen Feinen.

(Pz. 313,1-3)


Offenbar blickt Wolfram kritisch auf die Oberflächlichkeit menschlicher Beziehungen und möchte anhand Cundrîes diese entleerte Form innerhalb der ritterlichen Konventionen darstellen. Nach Dallapiazza erwähnt Wolfram, dass Ritter selten um Cundrîes Liebe kämpften, nicht um ihre Minderwertigkeit zur Schau zu stellen, sondern um diese Oberflächlichkeit in der höfischen Gesellschaft deutlich zu machen. Da Wolfram Cundrîe in ihrer gesamten Persönlichkeit darstellen wolle, sei, so Dallapiazza, ihre unschöne Gestalt nur ein Teil eben dieser und somit als neutraler Aspekt ihrer Person zu sehen. [Dallapiazza 1985: S.414] Wolfram bezeichnet die Gralsbotin als „diu unsüeze und doch diu fiere“. Ob diese Charakterisierung negativ oder positiv zu deuten ist, untersucht Michael Dallapiazza indem er die Übersetzungstendenzen der Adjektive "süez" und "fier" betrachtet. Dabei stellt er fest, dass "süez" bei Wolfram als äußerliche Schönheit und höfisches Erscheinen auftaucht, und "fier" als stattlich, stolz zu verstehen ist und somit als Attribut eines Mannes oder Ritters gebraucht wird. Michael Dallapiazza schließt, dass Wolfram durch den Gebrauch dieses Wortes unterstreichen wollte, dass Cundrîes Hässlichkeit weder Abscheu noch Erschrecken hervorruft. Die Gesamtheit ihrer Person sei bestimmt durch ihren Stolz, ihre Würde und ihre Leidensfähigkeit, nicht minder aber auch ihre Hässlichkeit, welche sie nur unverkennbar mache, ihr positives Bild allerdings nicht verkehre. [Dallapiazza 1985: S. 414ff] Hässlichkeit erscheint bei Wolfram nicht mehr als ausgrenzender Faktor und ruft in Cundrîes Fall sogar Achtung seitens der Artusgesellschaft hervor. Dadurch wird das Hässliche als positives Element in die poetische Darstellung aufgenommen.


Vergleich der Darstellungen von Cundrîes Hässlichkeit

Wolfram gestaltet die Darstellung Cundries Hässlichkeit in den beiden für sie zentralen Szenen auf unterschiedliche Weise. So betont er in der Berufungsszene zwar noch immer, dass Cundrîe hässlich wie einst war, jedoch passt er die Beschreibung ihres Äußeren der freudigen Stimmung dieser Szene an. Die Gralsgesellschaft ist Cundrie, da sie als Botin der erlösenden Botschaft Freude und Heil verkündete, wohlgesinnt. Wolfram verwendet nun Metaphern aus dem Bereich der Schönheitsbeschreibung, um Cundries Gestalt zu beschreiben: das Gelb der Augen vergleicht er mit Topasen, das blau ihres Mundes mit Veilchen (780,19-22). Katharine Pappas erkennt darin das Ziel Wolframs der positiven Haltung der Gralsgesellschaft, welche sich nun gegenüber Cundrie eingestellt hat und ihrer angenehmen Wirkung Ausdruck verleiht.[Pappas 2001: S. 170] Michael Dallapiazza stellt dagegen die These auf, dass die Beschreibung weniger drastisch ausfällt, da ihre Erscheinung in der ersten Szene noch einen Kontrast zu den höfischen Konventionen darstellen sollte, in der zweiten Szene allerdings stünde die Gralsgesellschaft bereits „vor der Pforte in eine neue Welt, in welcher allein das Innere des Menschen" zähle. Somit sei eine Beschreibung des Äußeren unnötig. [Dallapiazza 1985: S. 42]


Die Dichotomie von Schale und Kern

Katharine Pappas spricht bei der Charaktersierung Cundrîes von einer Nichtentsprechung von Schale und Kern. Cundrîes äußere Hässlichkeit stehe in Disharmonie zu ihrer inneren Schönheit, welche sich vor allem in ihrer triuwe, der hohen Bildung und ihrer Mitleidsfähigkeit offenbart. Besonders bei der Begegnung mit Parzival sei es eindeutig, dass dem hässlichen Äußeren und vorbildlichem Inneren der Gralsbotin Parzivals „Sündenbeladenheit bei größter körperlicher Schönheit“ [Pappas 2001: S.164] zum Zeitpunkt der Verfluchung entspricht. Sie bringt Cundrîes Gestalt in Verbindung mit der bereits im Prolog entwickelten Diskussion um Sein und Schein. Nach Katharine Pappas möchte Wolfram zeigen, dass die Welt nicht in Eindeutigkeit sich zueinander gegensätzlicher Pole aufgeht. Der Mensch hat an „beidiu teil, des himels und der helle" (Pz.1,8f), er hat Teil am Himmel und der Hölle, und lebe somit im Spannungsverhältnis zwischen Heil und Verderben. Cundrîe ist Verkörperung ihrer eigenen Überzeugung, denn sie klagt Parzival an, dass er zwar äußerlich schön sei, aber von den Tugenden weit entfernt. Durch Parzival sinke der Ruhm des König Artûs und über die Gralsgesellschaft bringe er Schande:

tevalrunder prîses kraft Der Tafelrunde Kraft, die aus der Ehre kam,
hât erlemt ein gesellschaft ist jetzt gelähmt
die drüber gap hêr Parzivâl, denn Ihr habt den Herrn Parzivâl zu Eurem Genossen gemacht -
der ouch dort treit diu rîters mâl. ich meine den da, der die äußeren Zeichen eines Ritters trägt.

(Pz. 315,7-10)

Anmerkungen

  1. Alle folgenden Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. An dieser Stelle sei auf den Artikel Schönheit und Hässlichkeit (Wolfram von Eschenbach, Parzival) verwiesen. Dieser analysiert unter anderem die Verbindung von äußerer und innerer Schönheit.
  3. Im Mittelalter wurde das Hässliche mit der Hexerei und dem Widernatürlichen verbunden. "Die Beschreibung des Häßlichen deutet im christlichen Epos des Mittelalters oft ausdrücklich auf das Widergöttliche und Diabolische als den latenten Ursprung der Häßlichkeit zurück." [Jauß 1968: S. 152.] Eine genauere Betrachtung und Erwähnung der Hexerei in Verbindung mit Hässlichkeit findet sich bei [Eco 2007: vgl.: S. 204-214.].


Forschungsliteratur

[*Dallapiazza 1985] Dallapiazza, Michael: Hässlichkeit und Individualität, Ansätze zur Überwindung der Idealität des Schönen in Wolframs von Eschenbach Parzival, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1985, S. 400-421.

[*Eco 2007] Eco, Umberto (Hrsg): Die Geschichte der Hässlichkeit, München 2007.

[*Jauß 1968] Jauß, Hans Robert: Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in der mittelalterlichen Literatur, Die nicht mehr schönen Künste, in: Poetik und Hermeneutik, München 1968.

[*Pappas 2001] Pappas, Katharine: Die häßliche Gralsbotin Cundry, in: Verführer Schurken Magier St.Gallen 2001.