Die Fingerepisode (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst): Unterschied zwischen den Versionen

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Das Abhacken eines Fingers ist einer der radikalsten Eingriffe in die [[Körperlichkeit (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)|Körperlichkeit]] "Ulrichs von Liechtenstein".<ref> Um die historische Person (= den Autor) Ulrich von Liechtenstein von der gleichnamigen innerliterarischen Person unterscheiden zu können, wird letztere in Anführungszeichen gesetzt.</ref> Dieser Artikel gibt zunächst einmal den Inhalt der Fingerepisode wieder, bevor verschiedene Interpretationsansätze vorgestellt werden.
Das Abhacken eines Fingers ist einer der radikalsten Eingriffe in die [[Körperlichkeit (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)|Körperlichkeit]] "Ulrichs von Liechtenstein".<ref> Um die historische Person (= den Autor) Ulrich von Liechtenstein von der gleichnamigen innerliterarischen Person unterscheiden zu können, wird letztere in Anführungszeichen gesetzt.</ref> Dieser Artikel gibt zunächst einmal den Inhalt der Fingerepisode wieder, bevor verschiedene Interpretationsansätze vorgestellt werden. Abschließend wird untersucht, inwiefern auch die Fingerepisode ein [[Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)|fiktionales Element]] innerhalb des ''Frauendiensts'' darstellt.


= Einordnung in den Textzusammenhang =
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Version vom 22. Juni 2013, 13:01 Uhr

Das Abhacken eines Fingers ist einer der radikalsten Eingriffe in die Körperlichkeit "Ulrichs von Liechtenstein".[1] Dieser Artikel gibt zunächst einmal den Inhalt der Fingerepisode wieder, bevor verschiedene Interpretationsansätze vorgestellt werden. Abschließend wird untersucht, inwiefern auch die Fingerepisode ein fiktionales Element innerhalb des Frauendiensts darstellt.

Einordnung in den Textzusammenhang

Die Fingerepisode beginnt bei Strophe 340. Gleich zu Beginn des Turniers von Brixen wird Ulrich ein Finger von Ulschalk von Bozen von der Hand gestochen. Zunächst hängt der Finger noch "an einer ader" (FD 345), nachdem der dortige Meister diesen aber nicht adäquat behandeln konnte und der Finger sich schwarz verfärbt (FD 347,5-8), zieht Ulrich nach Bozen, um den dort ansässigen Meister um Hilfe zu fragen. Dieser kann Ulrich versorgen, er muss jedoch sieben Tage ruhen. In dieser Zeit kommuniziert Ulrich über einen Boten mit der Dame und sendet ihr auch mehrere Lieder. Zwar ist der Schmerz für ihn kaum auszuhalten, der seelische Schmerz aber überwiegt, da er während dieser Zeit nicht im Namen seiner Herrin kämpfen kann. Er versichert ihr über den Boten, dass er den Finger in ihrem Dienst verloren habe und dass dies ein besonderes Zeichen der Stetigkeit seines Dienstes sei (vgl. FD 374ff.). Die Dame erfährt später jedoch, dass Ulrich seinen Finger gar nicht wirklich verloren hat, sondern dass dieser, wenn auch krumm, wieder an Ulrichs Hand angewachsen ist. Sie hält dies dann dem Boten vor:

Mittelhochdeutscher Text

Neuhochdeutsche Übersetzung

430 "Ir künnet bede losens vil,
eines ich dir doch sagen wil:
du sagtest mir (daz ist mir zorn),
daz er het einen finger vlorn
in minem dienst - des ist niht.
min munt von wahrheit des giht:
er hat in noch, ist mir geseit,
da von ist mir din mengen leit." [...]

"Ihr könnt nun schmeicheln wie ihr wollt,
das eine sage ich euch noch:
Du sagtest mir (ich hasse das),
dass er den Finger hat verlor'n
in meinem Dienst - das ist nicht wahr
ich sage dir die Wahrheit gleich:
Er hat ihn noch, wurd' mir gesagt,
du mischst dich ein, das tut mir leid."

432 "Ich gan im sines vingers wol,
wan daz man mir niht liegen sol.
er hat in noch, des hastu mir
ein teil gelogen; daz wize ich dir:[...]

"Ich gönn' ihm seinen Finger wohl,
doch liebe ich das Lügen nicht.
Er hat ihn noch, da hast du doch
zum Teil gelogen; das sag ich dir: [...]

Der Bote kann die Dame nicht beschwichtigen und so teilt er Ulrich ihren Unmut postwendend mit. Daraufhin lässt sich Ulrich tatsächlich den Finger abhacken (vgl. FD 440) und nimmt sich vor, ihn ihr zu schicken. Er dichtet schließlich das zweite Büchlein , verpackt es prächtig und schickt ihr, den Finger darin eingearbeitet, das Büchlein zu (vgl. FD, 444ff.).
Als die Dame das Präsent vom Boten erhält, bezeichnet sie die Tat zunächst als "tumpheit" (FD 448). Als sie das Büchlein aber liest, wird sie traurig:

Mittelhochdeutscher Text

Neuhochdeutsche Übersetzung

450 [...]"mir tuot das vingers sterben we,
doch durch dins herren liebe niht,
wan daz din munt gein mir des giht,
er hab in von den schulden min
verlorn, des muoz ich truric sin."

[...] "Mir tut des Fingers Sterben weh,
nicht wegen deines Herren Liebe,
da mir dies doch dein Mund gesagt,
dass er ihn wegen mir verlor,
darüber muss ich traurig sein."

453 "Nu rite hin wieder und sage im daz,
er möhte den vrowen verre baz
gedienen ob er in hete noch,
den vinger sin; und sage im doch,
daz ich in welle hie behaben
in miner lade also begraben,
daz ich in sehe wol alle tage-
uf min warheit im daz sage."

"Nun reit hin und sag' ihm das,
er könnt' den Damen weiterhin
so dienen, wie wenn er ihn doch
noch hätte; sag' ihm dieses auch,
dass ich den Finger hier behalt'
und ihn in meiner Lade hab',
dass ich ihn sehe jeden Tag,
auf meine Wahrheit sag' ihm das.

Auf der einen Seite also weist sie die Zuneigung Ulrichs wieder ab, bezeichnet seine Tat als Dummheit und stellt klar, dass sie ihn nie erhören wird. (FD 454,6-8) Auf der anderen Seite jedoch behält sie den Finger als "Andenken".

Interpretationsansätze

Fragmentierung des Körpers

hier sollen folgende Fragen bearbeitet werden: was bedeutet das Abtrennen eines Fingers für ein Subjekt? Verändert ein fragmentierter Körper Subjektivität und Individualität? Nur ein kleiner Teil "Ulrichs" kann der Dame nahekommen. "Bestraft" sie mit Fingerverlust, kein ganzheitlicher Dienst mehr.

Der Finger als Botschaft

Neben dem Büchlein, dessen Inhalt hier nicht näher beleuchtet wird, ist in dieser Episode auch der Finger eine Botschaft von "Ulrich" an die Dame. Die Amputation des Fingers erfolgt als Reaktion auf die Aussage der Dame, "Ulrich" und der Bote hätten gelogen. Der Vorwurf der Lüge, also das Überbringen einer unwahren Botschaft, soll dadurch entkräftet werden, dass die Realität nachträglich der Botschaft angepasst wird. Um diesmal die Wahrhaftigkeit der übermittelten Nachricht zu untermauern, wird Schriftlichkeit (das Büchlein) und Materialität (der Finger) kombiniert.[Kellermann 2010: 228] Damit nicht wieder Zweifel an "Ulrichs" Dienst für die Dame aufkommen, braucht es diesen "körperlichen Beweis des Minnedienstes"[Kellermann 2010: 229]. Daraus folgt, dass der Grad der Materialität einer Botschaft in diesem Fall entscheidend ist für ihre Glaubwürdigkeit. "Ulrichs" übermittelten mündlichen oder schriftlichen Beteuerungen wird weniger Glauben geschenkt, als dem "Augenscheinbeweis"[Kellermann 2010: 228], obwohl die Dame auch hier keinen Anhaltspunkt dafür hat, dass der Finger tatsächlich von ihrem Minneritter stammt. Daher steht die Körperlichkeit in einem starken Kontrast "zur Rede, die lügen kann oder wenigstens stets der Lüge verdächtig ist".[Schmid 1988] "Ulrichs" Finger erhält dadurch eine "metaphorische Funktion als Text" [Kiening 1998:226], denn er unterstreicht die Wahrhaftigkeit des geschriebenen Textes und wird damit sozusagen zum "Hyper-Text".[Kiening 1998:226] Andererseits ist der Finger nicht nur eine Botschaft sondern zugleich auch ein Bote seiner selbst.[Kellermann 2010: 229] Paradoxerweise "spricht" die stumme Materialität des Fingers glaubwürdiger für sich, als eine Botschaft des leibhaftigen Boten das jemals tun könnte. Der Finger ist nicht auf die Vermittlung des menschlichen Boten angewiesen, weil er als ein Teil "Ulrichs" ausnahmsweise direkt mit der Dame nonverbal kommunizieren kann. Deshalb kann der Finger nicht nur metaphorisch als Text gesehen werden, sondern er erfüllt auch eine "metonymische Funktion als Körper".[Kiening 1998:226f.] Der Blick der Dame und ihre Zuwendung, die "Ulrich" ersehnt aber nicht erhält, wird nun stellvertretend wenigstens seinem Finger zuteil.[Kiening 1998:227]

Der Finger als "Reliquie"

Das ambivalente Verhältnis zwischen "Ulrich" und der Dame

Die Fingerepisode ist beispielhaft für den Aufopferungswillen und die Unterwerfung "Ulrichs“. Als Minnediener erträgt er Leid und Schmerz, die er durch die Abweisung der Herrin erfährt. Das Ertragen des Leides und des Schmerzes ist ein üblicher Bestandteil des Minnedienstes und wird als Beweis für die Aufrichtigkeit und Beständigkeit der Liebe gesehen. „Ulrichs“ Leid und Schmerz, sowie seine Bereitschaft diese zu ertragen, werden durch die Fingerepisode jedoch auf ein anderes Niveau gehoben. Das ursprünglich rein psychische Leiden wird durch das Abschneiden des Fingers auch zu einem physischen Leiden. Der Minnedienst erweitert sich um ein körperliches Leidenskonzept. Das vorangestellte Zitat aus der Fingerepisode zeigt das bestehende ambivalente Verhältnis zwischen "Ulrich", dem Minnediener, und seiner Herrin. "Ulrich" stößt den Frauendienst über immer wieder auf Abweisung, die sich vor allem in den Aufforderungen zum Abbruch des Minnedienstes zeigt, sowie aber auch auf Ermutigung, zum Beispiel in Form von Melodien zu denen er ein Lied schreiben soll oder auch in Form eines einfachen Lobes. Dadurch wird ein ambivalentes Verhältnis verursacht, das „Ulrich“ immer in einer unklaren Position lässt. Er befindet sich in einer Art Schwebezustand, in einem Zwischenraum von Zuneigung und Abneigung. Er wird abgelehnt, aber erhält immer genauso viel Ermunterung, dass er nie seine Hoffnung auf einen Minnelohn verliert. Diese Situation hält den Minnedienst sozusagen im Gange und macht die Konstruktion eines Frauendienstes auf der Ebene der hohen Minne über viele Jahre hinweg erst möglich. Die Herrin äußert im aufgeführten Zitat ihre Traurigkeit über "Ulrichs" Fingerverlust, für den sie sich verantwortlich fühlt. Sie behält den Finger bei sich, sodass sie ihn jeden Tag sehen kann. Gleichzeitig weist sie jedoch wörtlich seine Liebe zurück. Dies veranschaulicht genau dieses widersprüchliche Verhalten der Herrin, das in sich nicht stimmig ist und vielleicht damit zu erklären ist, dass die Herrin "Ulrich" nicht ganz abgeneigt ist, sondern lediglich nicht die gesellschaftlichen Normen verletzten möchte, was mit dem Gewähren eines Minnelohnes geschehen würde. Dass die Herrin die gesellschaftlichen Normen nicht übertreten möchte, zeigt sich zum Beispiel auch im Anschluss an die Urinepisode. Dort begründet die Herrin die Verweigerung des Minnelohnes vor allem mit ihrer „ere“. (FD 1210-1211)

Fiktionalität

Primärtext

  • Spechtler, Franz Viktor (Hg.): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen 1987. (Mittelhochdeutscher Text)
  • Liechtenstein, Ulrich von: Frauendienst, übers. v. Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec 2000.

Textnachweise

  1. Um die historische Person (= den Autor) Ulrich von Liechtenstein von der gleichnamigen innerliterarischen Person unterscheiden zu können, wird letztere in Anführungszeichen gesetzt.

<HarvardReferences />

  • [*Ackermann 2009]Ackermann, Christiane: Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im Parzival Wolframs von Eschenbach und im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, Köln/Weimar/Wien 2009.
  • [*Ackermann o. J.]Ackermann, Christiane: "min lip reht als ein stumbe sweic"- Ich ≠ Subjekt ≠ Körper. Zu Ulrich von Liechtensteins Frauendienst, in: Ridder, Klaus/Langer, Otto (Hgg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 18. bis 20. März 1999, Berlin o. A., S. 139-156.
  • [*Haferlach 1991] Haferlach, Torsten: Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten, Heidelberg 1991.
  • [*Kellermann 2010]Kellermann, Karina: Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst als mediales Labor, in: Linden, Sandra/Young, Christopher (Hgg.): Ulrich von Liechtenstein. Leben - Zeit - Werk - Forschung, Berlin/New York 2010, S. 207-260.
  • [*Kiening 1998]Kiening, Christian: Der Autor als "Leibeigener der Dame - oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im "Frauendienst" Ulrichs von Liechtenstein, in: Andersen, Elizabeth u. a. (Hgg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, S. 211-238.
  • [*Schmid 1988] Schmid, Elisabeth: Verstellung und Entstellung im "Frauendienst" Ulrichs von Liechtenstein, in: Ebenbauer, Alfred (Hg.): Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Akten des internationalen Symposiums, Schloss Segau bei Leipzig 1984, Bern u. a. 1988, S. 181-198.