Figurencharakteristik (Reinhart Fuchs): Unterschied zwischen den Versionen
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=== Das Tier als Begleiter des Bösen === | === Das Tier als Begleiter des Bösen === | ||
Der Fuchs wurde in vielen Kulturen mit Tabuwörtern bezeichnet, da er wohl aufgrund des Aberglaubens nicht bei seinem Namen genannt werden solle. Bei einem morgendlichen Spaziergang einen Fuchs zu sehen, deute beispielsweise auf Glück oder Unglück hin, meistens aber sei das Tier ein Indiz für nahendes Unglück. Springe ein Fuchs über einen Kirchweg, kündige er so Leichen an und ein Traum von einem Fuchs offenbare eine bevorstehende Begegnung mit einem hinterlistigen Menschen. [Müllneritsch 2010: 296-298] All diese abergläubischen Beispiele beweisen, wie stark der Fuchs als Tier negativ behaftet ist, und dass sich dieses Bild bis hin zur Angst vor dem Fuchs steigert. | Der Fuchs wurde in vielen Kulturen mit Tabuwörtern bezeichnet, da er wohl aufgrund des Aberglaubens nicht bei seinem Namen genannt werden solle. Bei einem morgendlichen Spaziergang einen Fuchs zu sehen, deute beispielsweise auf Glück oder Unglück hin, meistens aber sei das Tier ein Indiz für nahendes Unglück. Springe ein Fuchs über einen Kirchweg, kündige er so Leichen an und ein Traum von einem Fuchs offenbare eine bevorstehende Begegnung mit einem hinterlistigen Menschen (vgl.[Müllneritsch 2010: 296-298]). All diese abergläubischen Beispiele beweisen, wie stark der Fuchs als Tier negativ behaftet ist, und dass sich dieses Bild bis hin zur Angst vor dem Fuchs steigert. | ||
=== Der Fuchs als Metapher === | === Der Fuchs als Metapher === |
Version vom 15. Februar 2021, 14:58 Uhr
Der folgende Beitrag thematisiert den Protagonisten Reinhart Fuchs und untersucht inwieweit der Fuchs aus dem gleichnamigen Tierepos von Heinrich der Glîchezâre tatsächlich einen Charakter entfaltet, beziehungsweise wie konstant die Zuschreibungen für seine Charakteristik und vor allem für seine "kündikeit" sind.
Dabei werden verschiedene Verse, die die Persönlichkeit des Fuchses beschreiben, und das Verhalten der Figur in den Episoden untersucht sowie auf Deutungen und Zitate zurückgegriffen.
Verse mit Wortbelegen „kündikeit“ und Belege zur Charakterisierung [1]
Zu Beginn werden die Figur des Tieres Reinhart Fuchs und dessen Charaktereigenschaften vorgestellt. (V.1-10 RF)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
---|---|
Vernemet vremde mere, | Hört her auf die fremdartigen Geschichten, |
die sint vil gewere, | die dennoch völlig zuverlässig sind, |
von eime tiere wilde, | von einem Wildtier, |
da man bi mag bilde | daran kann man sich |
nemen vmme manige dinch. | in vielerlei Hinsicht ein Beispiel nehmen. |
iz keret allen sinen gerinch | Es wendet sein ganzes Bestreben |
an trigen vnd an chvndikeit, | nach Betrug und Hinterlistigkeiten, |
des qvam iz dicke in arbeit. | weshalb es häufig in Bedrängnis geriet. |
Iz hate vil vnchvste erkant | Es hat sich auf vielerlei Bosheit verstanden |
vnd ist Reinhart Fuchs genant. | und ist Reinhart Fuchs genannt. |
Reinhart trifft auf die Meise und versucht sie zu überlisten. Diese aber hat schon viel über den Fuchs gehört und ist vorgewarnt. (V.189-191 RF)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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die meyse sprach: "Reinhart, | Die Meise sprach: "Reinhart, |
mir ist vil manic ubel [ ] art | man hat mir häufig genug von vielen deiner bösen Eigenschaften |
von dir gesagt dicke. […]" | berichtet. […]" |
Reinhart freut sich darauf, sie zu überlisten. Die Meise möchte Reinharts Vertrauen testen und ihm drei Küsse geben, während er die Augen schließen soll: Sie wirft Dreck von ihrem Ast herunter. Reinhart hat nur Böses im Sinn und versucht, danach zu schnappen. Der Fuchs hat den Vertrauenstest nicht bestanden und die Meise weiß nun, dass er versucht, sie zu fangen. (V.197-199 RF)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart wart vil gemeit | Reinhart war sehr vergnügt |
von der cleinen leckerheit, | über die kleine Hinterlist, |
er vrevte sich vaste. | er freute sich sehr. |
Die Meise entkommt Reinharts Hinterlist, der nun traurig über sein Scheitern ist. Doch er hat schon eine neue List in Aussicht am Raben Diezelin. (V.213-219 RF)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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des wart er trvric vnde vnvro, | Deshalb war er traurig und betrübt |
er sprach: 'herre, wie kvmt ditz so, | und sprach: 'Herr, wie kommt es, |
daz mich ein voglin hat betrogen? | dass mich ein Vogel betrügen konnte? |
das mvet mich, daz ist vngelogen.' | Das ärgert mich, das ist nicht gelogen.' |
REinhart kvndikeite pflac, | Reinhart pflegte seine Listigkeit, |
doch ist hevte niht sin tac, | doch ist heute nicht sein Tag, |
daz iz im nach heile mvege ergan. | denn nach dem Glück geht es den Sorgen entgegen. |
Während Reinharts Verbündeter, der Wolf Isengrin, und seine Söhne auf Beutejagd sind, wittert Reinhart die Gelegenheit und umwirbt Isengrins Frau Hersant. Später vergewaltigt Reinhart sie sogar. (V.416-421 RF)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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sin wip nam er bi der hant | Er nahm seine Frau bei der Hand |
vnde bevalch si Reinharte sere | und empfahl sie inständig an Reinharts |
an sine trewe vnde an sine ere. | Treue und an seine Ehre. |
Reinhart warb vmb di gevatern sin. | Aber Reinhart warb um seine Gevatterin. |
do hat aber er Ysengrin einen vbelen kamerere. | Da hatte Isengrin aber einen üblen Kämmerer, |
hi hebent sich vremde mere. | Denn von jetzt an begeben sich schändliche Geschichten. |
Reinhart beginnt Hersant schamlos zu verführen und vergewaltigt sie anschließend vor den Augen ihres Mannes. Die Wölfin will ihren Liebhaber Reinhart zum Beweis ihrer Unschuld totbeißen, wird von ihm aber provoziert. (V.1162-1163 RF)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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siner amien warf er dvrch den mvnt | Hinterlistig wedelte er seiner Geliebten |
sinen zagel dvrch kvndikeit. | den Schwanz durch ihren Mund. |
Isengrin wird nach einer von Reinharts Listen von einem Ritter versehentlich gerettet: Dieser will ihn eigentlich töten, schneidet dem Wolf aber lediglich den Schwanz mit seinem Schwert ab, woraufhin dieser fliehen kann. Reinhart ist schon längst geflüchtet und macht sich auf den Weg ins Kloster, von dem er weiß, dass dort viele Hühner gehalten werden. (V.823-826 RF)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart, der uil hat gelogin, | Reinhart, der selbst schon viel gelogen hat, |
der wirt noh hute betrogin. | wird heute noch selbst betrogen. |
doch gehalf ime sin kundicheit von notlichir arbeit. | Doch half ihm seine listige Art aus feindlicher Bedrängnis. |
Der Fuchs Reinhart gibt sich als Pilger und Arzt aus und verspricht, den kranken König durch einen Trank zu heilen, jedoch braut Reinhart ihm seinen Tod: Der Trank ist vergiftet. So entkommt Reinhart dem Gerichtstag und damit seinem Urteil. (V.2172-2175 RF)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart was vbele vnde rot, | Reinhart war böse und rot, |
daz tet er da vil wol schin: | das machte er nun vollends deutlich: |
er vergab dem herren sin. | er vergiftet seinen Herrn. |
Der Protagonist und seine Charaktereigenschaften
Die Stellung des Fuchses
Bereits zu Beginn des Tierepos wird Reinhart Fuchs als außergewöhnliches Tier bezeichnet, das sein ganzes Trachten und seine Sinne auf Betrug und schlaue Winkelzüge richte und sich auf vielerlei Bosheit wohl verstanden habe (vgl.V.1-10 RF). Schon im Prolog wird regelrecht vor dem Fuchs gewarnt: Iz hate vil vnchvste erkant vnd ist Reinhart genant || Er trug viel Bosheit mit sich und wurde Reinhart genannt (V.9-10 RF) [Heinrich der Glîchezâre 1995]. Dabei wird von einem Wildtier gesprochen, das aber nicht schlicht der Gattung des Fuchses angehöre, sondern bei dem es sich um das spezielle Tier "Reinhart Fuchs" handele. Das Verhalten dieses besonderen Fuchses sei von Hinterlist und Betrug geprägt und obwohl ihn dies häufig in Bedrängnis bringe, scheint er sich trotzdem nicht zu verändern (vgl.V.1-10 RF) (vgl.[Mecklenburg 2017: 79]). Auch im Tierreich erzählt man sich größtenteils Schlechtes über Reinhart, so habe die Meise schon viel manic ubel (V.190 RF) über ihn und seine Taten gehört, also von vielen seiner üblen Eigenschaften. Weiterhin bringen der Hahn Scantecler und die Henne Pinte die Ausdrücke arbeit (V.71 RF), also Unannehmlichkeiten, vbeles (V.78 RF), also Übles, mir grovwet (V.81 RF), also mir graut und ich vurchte (V.81 RF), also ich fürchte, mit dem Protagonisten in Verbindung, was dessen schlechten Ruf unterstreicht. Als Reinhart den König vergiftet, wird er als vbele und rot (V.2172 RF), böse und rot betitelt. Die Rolle des Protagonisten wird hier einem Fuchs zugeordnet, welcher den meisten anderen Tieren physisch unterlegen ist und dafür aber mit seiner Klugheit und Listigkeit hervorsticht. Die spezielle Rolle Reinharts liegt schließlich primär darin, die wahre Natur der anderen Tierfiguren zu entlarven. Dies gelingt ihm jedoch nicht nur aufgrund seiner besonderen Charaktereigenschaften, „sondern weil die Repräsentanten des Tieradels nicht ihren Idealen und Pflichten, sondern ihren natürlichen Interessen und Begierden folgen.“ [Ruh 1980: 31].
Reinharts soziale Beziehungen
"Gevaterschaft"
Geht es um die sozialen Beziehungen Reinharts mit den anderen Tieren, fällt häufig der Begriff der "gevaterschaft", der im Neuhochdeutschen die Bedeutung Freundschaft trägt. Ein "gevater", wie Reinhart das ein oder andere Tier häufig anspricht, bezeichnet folglich einen Gevattern, Nachbarn oder Freund. Obwohl der Begriff an einigen Stellen mit Bedeutungen wie Vetter (V.207 RF) und Pate (V.187 RF) übersetzt werden kann, kann davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht um Blutsverwandtschaften handelt. Der Fuchs ist allgemein ein sehr einzelgängerisches Tier, weshalb sich die These aufstellen lässt, dass er keinen großen Wert auf enge Freundschaften legt, sondern diese eher als Mittel benutzt, um seine hinterlistigen Ziele zu verfolgen. Dies lässt sich beispielsweise mit seinem Verhalten gegenüber der Meise, seiner gevater (V.178 RF), was sich hier etwa mit Kusine übersetzen lässt, belegen. Indem er von Familienzusammenhalt spricht, versucht Reinhart nämlich hinterlistig ihr Vertrauen zu gewinnen um es anschließend missbrauchen zu wollen (vgl.V.183-210 RF). Auch die Beziehung zu Kater Diepreht zum Beispiel wird im Text als bose neveschaft (V.327 RF), also als schlimme Verwandtschaft bezeichnet, da die beiden scheinbar lieben Verwandten sich in Wahrheit nur gegenseitig betrügen wollen (sie wolden beide ein ander betrigen ,V.348 RF). Schließlich scheint es zumindest bei der Beziehung zur Wolfsfamilie zunächst so, als ob Reinhart es tatsächlich ernst mit ihnen meint, nachdem sie ihn zv gesellen (V.396 RF), als Freund, und zv gevatern (V.405 RF), als Vetter, in die Familie aufnehmen. Bald darauf leidet das Bündnis aber unter der Habgier der Wölfe, die Reinhart nichts von dem durch ihn erbeuteten Schinken übrig lassen (vgl.V.490-494 RF). Ab diesem Moment ist die Beziehung des Fuchses zu den Wölfen von gewaltsamer Rache geprägt, wobei alle "gevaterschaft" vergessen ist. Insgesamt lassen sich also keine engen sozialen Beziehungen zu den anderen Tieren aufweisen und der Fuchs ist und bleibt ein Einzelgänger, der sich das Vertrauen anderer Tiere höchstens für seine hinterlistigen Ziele zunutze macht.
Reinharts Liebe und Minne
Mit seiner einzelgängerischen Art geht einher, dass Reinhart sicherlich auch ein einsames Tier ist, wofür er selbst verantwortlich ist. Während es zwischen den anderen Tieren Partnerschaften, wie auch in Form von Ehen gibt, ist der Fuchs größtenteils alleine. Lediglich in der Brunnenepisode bekommt der Rezipient eine Ahnung davon, dass auch Reinhart eine Gefährtin an seiner Seite haben muss: Der Fuchs bildet sich ein, im Spiegelbild des Brunnenwassers seine Frau zu erblicken, die er wie sich selbst liebe (vgl.V.840-849 RF). Er könne es zwar nicht lassen, noch eine Geliebte, eine Minne zu haben (vgl.V.843 RF), die „stärkere, emotionale Bindung“ [Mecklenburg 2017:97] bestehe aber zu der Ehefrau, was sein Sprung in den Brunnen, der allein durch das Bedürfnis nach Nähe zu seiner geliebten Frau motiviert ist, verdeutlicht. "Damit ist die Beziehung zwischen Fuchs-Mann und Fuchs-Frau entlang der im literarischen Diskurshöfischer Literatur diskutierten Idee einer Trennung von Ehe und Minne konstruiert [...]." [Mecklenburg 2017:97] Diese Stelle ist auch insofern besonders, als dass sie zeigt, dass Reinhart neben seinem listigen Handeln auch Emotionen verspüren kann, was ihn aus der Sicht des Rezipienten möglicherweise in besseres Licht rückt.
Das schlaue Verhalten des Fuchses
"Kündikeit" bei Reinhart Fuchs
Die Figur des Reinhart Fuchs wird oft mit dem Wort "kündikeit" beschrieben, das je nach Kontext positiv oder negativ ausgelegt werden kann. Der Begriff wird unter anderem mit Einfall (do was im kvndikeite zit || Da brauchte er dringend einen Einfall., V.307 RF) oder Geschicklichkeit (do bedorfte er wol kvndikeit || Jetzt kam es wohl auf seine Geschicklichkeit an., V.3640 RF) übersetzt, aber auch mit Hinterlistigkeit (ez sold in wol erlozen Reinhart mit seiner kvndikeit. || Reinhart hätte ihn gewiss mit seiner Hinterlistigkeit verschonen können, V.1420-1421 RF) oder List (nieman evch gezelen mack Reinharts kvndikeit [...]|| Niemand kann euch Reinharts Listen aufzählen [...], V.1822-1823 RF). Verschiedene Textstellen mit Wortbeleg "kündikeit" sind auch im ersten Kapitel dieses Artikels aufgeführt. Dass die "kündikeit" die prägende Eigenschaft des Fuchses ist, lässt sich auch damit begründen, dass schon sein Name im Altnordischen ‚Betrug‘ und ‚List‘ bedeuten (vgl.[Müllneritsch 2010:301]). Das Adjektiv hinterlistig beschreibt jemanden, der heimlich versucht, anderen Schaden zuzufügen oder sie zu betrügen. [2] Listig wiederum bedeutet, "die Fähigkeit verfügend, sich Umstände zur Erreichung seiner Absichten zu bedienen, die anderen verborgen sind". [3] Genau diese Eigenschaften besitzt Reinhart Fuchs: Er ist Meister darin, andere zu hintergehen und seine "kündikeit" für scheinbar eigennützige Ziele zu gebrauchen, was die meisten Tierfiguren nicht erkennen. Mitunter ist Reinhart schlau genug, um die Absichten anderer Tiere vorauszusehen und deren Verhalten zu kalkulieren und somit auch seine Winkelzüge darauf abzustimmen. Zudem bereitet es ihm Freude und Vergnügen, anderen Leid zuzufügen: Reinhart begonde uben baz sine Liste, die er hat. || Reinhart setzte am liebsten seine Listen ein, die er besaß. (V.104-105 RF). Auch wenn er zu Beginn wenig erfolgreich ist, scheut er nicht davor, wiederholt und erneut Listen zu planen, was von Hartnäckigkeit zeugt.
Motivation seines schlauen Verhaltens
Weshalb der Fuchs seine "kündikeit" auf diese zunächst sehr negativ erscheinende Weise benutzt und sich derart amoralisch verhält, lässt sich durch verschiedene Gründe erklären. Zunächst lässt sich sagen, dass „die Schlauheit des Fuchses kein Produkt des vernunftgeleiteten freien Willens, sondern der Tiernatur“ [Hübner 2016:79] ist. Das Tier kann also gar nicht anders, als seinem Instinkt zu folgen und schlau zu sein. Zudem ist er ein Raubtier mit dem „Handlungsziel Ernährung“ [Hübner 2016:87]. Die "kündikeit" beim Fuchs ist also ein Mittel zur Selbsterhaltung, die aufgrund seiner physischen Unterlegenheit gegenüber den meisten anderen Tieren erst notwendig wird und daher entsteht. Hierbei lässt sich sogar die Beobachtung feststellen, dass Reinhart nur genau dann Erfolg hat, wenn er seinen Gegnern physisch unterlegen ist, wie zum Beispiel beim Wolf Isengrin, weil er dann erst von seiner Gerissenheit Gebrauch macht. Hat er es hingegen mit kleineren Tieren, wie zum Beispiel der Meise zu tun, scheitert er an Torheit (vgl.V.204-206 RF). Somit lässt sich Reinharts listige und betrügerische Art also mit existenzieller Notwendigkeit begründen und kann insofern nicht seinem Charakter zugeschrieben werden. Außerdem lässt sich sagen, dass das Gelingen von Reinharts Winkelzügen neben seiner "kündikeit" auch immer einen gewissen Grad an „Leichtgläubigkeit und Unvorsichtigkeit“ [Hübner 2016:89] seiner Opfer voraussetzt.
Neben den selbsterhaltenden Gründen rechtfertigen weitere Motivationen wie Rache, Machtgewinn und ehebrecherisches Begehren sein amoralisches Verhalten allerdings nicht. So fügt er dem Wolf mehrmals aus Rache Schaden zu, weil dieser bei einem verbündeten Raubzug die Beute nicht geteilt hatte. Die mit dem Wolf liierte Wölfin Hersant begehrt Reinhart erst tatsächlich, schließlich vergewaltigt er sie jedoch aus Rache am Wolf, der zuvor versucht, Reinhart dem Tode auszuliefern. Zusätzlich rächt er sich auch an vielen Tieren des Hoftags, wie zum Beispiel am Bär, Kater und Löwen, weil diese ihn am Gerichtstag zu Tode verurteilen wollen. Weiterhin ist sein gesamtes Verhalten um den Gerichtstag durch Rache und Machtgewinn motiviert, da er durch seinen gerissenen Plan den Löwenkönig auf seine Seite zieht, die Führung übernimmt und somit am Ende alle Feinde besiegen kann: Reinhart was vbele und rot [...]. (V.2172 RF). Das Handlungsziel der Rache lässt sich keinesfalls naturrechtlich für legitim erklären und während Reinharts Spott die Krönung seiner Rache ist (vernement von seltsaneme spote:, V.1594 RF) lässt sich seine "kündikeit" eindeutig als amoralisch deuten.
Konsequenzen seines schlauen Verhaltens
Zunächst scheinen überwiegend negative Konsequenzen aus der Art wie Reinhart seine "kündikeit" benutzt zu resultieren. Den Tieren wird aus nichts als Rache Leid zugefügt und es ereignen sich mitunter schlimme Verbrechen wie die brutale Vergewaltigung der Wölfin Hersant (vgl.V.1170-1174 RF) und die Verletzungen, die dem Wolf Isengrin insgesamt zugefügt werden. Taten wie diese deuten ohne Zweifel auf die kriminelle Energie und das amoralische Verhalten des Fuchses hin. Daneben hat das schlaue Verhalten des Fuchses aber auch noch andere Konsequenzen: "Eine besondere Rolle kommt dem Protagonisten zu. Reinhart ist es nämlich, der durch seine kvndikeit die wahre Natur der Tierfiguren entlarvt [...], weil die Repräsentanten des Tieradels nicht ihren Idealen und Pflichten, sondern ihren natürlichen Interessen und Begierden folgen" [Ruh 1980:30], wie König Vrevel, der nur nach seiner Gesundheit strebt, und dafür das Recht mit Füßen tritt, sowie seine Getreuen schinden lässt. Beispiele hierfür sind auch der Kapellan, der Bär Brun und der Kater Dieprecht, die aufgrund ihrer Habgier vom amtlichen Auftrag abgelenkt werden. Die „Co-Akteure" agieren auf „unvorsichtigem Vertrauen auf Tugend und Recht, vor allem aus Gier" [Hübner 2016:92] und handeln ihrer Tiernatur entsprechend: Der Wolf ist verfressen, der Löwe gierig nach Macht, Hersant ehebruchwillig und Bär und Kater können Honig und Mäuse nicht widerstehen. Reinhart besitzt die Schlauheit, die in der aktionalen Kontrolle über die Deutung der Handlungsaktionen besteht, dieses Verhalten der Tiere einzuschätzen und zu kalkulieren (vgl.[Hübner 2016:92]). Als mehreren Tieren des Hoftags für die Gesundheit ihres Löwenkönigs auf Reinharts Rat hin das Fell abgezogen wird, „offenbart der Fuchs vor der Öffentlichkeit des Hofes das Versagen und die mangelnde Eignung dessen, der eigentlich als Garant des Gesetzes fungieren sollte.“ [Neudeck 2017:16].
Reinhart als Täter und Opfer
Reinhart der Verlierer
In den anfänglichen Episoden scheitert Reinhart zu Genüge: Er will zuerst Bauer Lanzelins Hühner stehlen, die sich aber in Sicherheit bringen. Dabei schnappt Reinhart sich den Hahn Scantecler, der dem Fuchs aber wieder entkommen kann, indem er ihn provoziert (vgl.V.99-151 RF). Daraufhin entwischt Reinhart auch die Meise, die schon vor ihm gewarnt wurde (vgl.V.200-210 RF). Im Folgenden ergattert der Rabe Diezelin einen Käse, den der Fuchs begehrt und den Raben deswegen hintergehen will. Er bringt sich dabei jedoch selbst in Gefahr, vor der er sich im letzten Moment noch retten kann (vgl.V.282-312 RF). Anschließend begegnet Reinhart dem Kater Diepreht. Der Fuchs versucht dabei, den Kater in eine Wildfalle zu locken, in die er jedoch selbst hinein fällt und sich gerade noch rechtzeitig vor der Axt eines Bauern retten kann (vgl.V.330-375 RF). All diesen Tieren versucht Reinhart Leid zuzufügen und will sie zu seinen Gunsten hintergehen. Jedoch gelingt ihm zunächst keine seiner Taten und seine Opfer kommen immer wieder davon.
"Ein Unglückstag Reinharts, und dies, obschon er seine kundekeit mannigfach unter Beweis stellt. Das steht im krassen Gegensatz zum Erfolg von Reinharts Finten in der Haupthandlung. Das epische Vorzeichen ist wohl deshalb verquer gesetzt, weil es im Hinblick auf die späteren, vielfach kriminell zu nennenden Taten des Protagonisten nötig schien, diesem beim Publikum einige Sympathien zu sichern: dem Erfolglosen mit reichen Gaben werden sie nie verwehrt." [Ruh 1980: 18] Reinhart muss am Anfang also bei seinen hinterlistigen Taten scheitern, um die Sympathie der Leser und anderer Tieren zu gewinnen. Hätte er in den anfänglichen Episoden nicht verloren, hätte der Wolf Isengrin nicht in ein Bündnis mit dem Fuchs eingewilligt. Publikum und Tiere hätten kein Mitleid empfunden und Reinhart wäre nicht so ungeschoren davon gekommen. Weiterhin lässt sich Reinharts physische Überlegenheit als Grund für sein Scheitern feststellen. Wie bereits im Abschnitt "Motivation seines schlauen Verhaltens" erwähnt, hat Reinhart nämlich nur Erfolg, wenn er seine "kündikeit" benutzt. Ist er aber wie bei den kleineren Tieren wie Hühner, Meise, Rabe und Kater physisch überlegen, scheint er etwas zu viel Selbstbewusstsein zu haben und seinen Verstand nicht richtig einzuschalten, weshalb er bei diesen Winkelzügen zum Scheitern verurteilt ist. Erst später als der Fuchs größere Gegner wie zum Beispiel die Wölfe hat, überlistet er sie leicht mit seiner "kündikeit" und hat einen Erfolg nach dem anderen.
Reinhart Fuchs als Angeklagter
Der Protagonist schadet im Tierepos vielen Tieren, nutzt deren Naivität aus und hintergeht sogar seine Verbündeten. Wiederholt setzt er seine Listen ein und strebt lediglich nach seinem eigenen Wohlergehen, wobei er bereitwillig in Kauf nimmt, dass er andere Tiere verletzt und ihnen Schaden zufügt. Die Bedürfnisse seiner Umwelt interessieren ihn nicht.
Aufgrund seiner Taten muss Reinhart sich vor Gericht behaupten, wo ihm als Angeklagter die Todesstrafe droht. Der Wolf Isengrin setzt nämlich den Gerichtstag an, zu dem sich viele betroffene Tiere unterstützend versammeln (vgl.V.1366 RF). Abgesehen vom Dachs Krimel, sind alle Tierfiguren gegen Reinhart. Die anwesenden Tiere fordern gemeinsam ein unverzügliches Urteil, beziehungsweise eine Strafe für Reinhart, um sich an ihm zu rächen und ihn für alle seine Taten büßen zu lassen. Alle sind sich einig, eingeschlossen der König und gleichzeitig Richter, Löwe Vrevel und selbst Tiere, die nicht einmal selbst betroffen sind: ich verteile im bi minem eide; vnde dvrch deheine leide (V.1425-1426 RF). Niemand verteidigt den Fuchs oder erhebt Gegenrede gegen das ihm drohende Urteil und vor allem setzt sich vorerst niemand für eine Verhandlung im Sinne einer verbindlichen Justiz ein. Die Episode der Gerichtsverhandlung offenbart dadurch auch den Egoismus und die Rücksichtslosigkeit der anderen Tiere, die aus Wut ein vorschnelles Urteil fällen, ohne im Sinne der Gerechtigkeit zu handeln. Hierzu passt auch der Gedanke, dass die Untreue der Figur des Fuchses zu der Vorstellung führt, die Welt wäre in Ordnung, wenn nur der "Erzgauner Reinhart" [Ruh 1980:31] nicht wäre. Auf diese Weise wird der angeklagte Fuchs vor Gericht selbst zum Opfer, denn ihm wird die formale Möglichkeit verwehrt, sich gegen die zahlreichen Anschuldigungen zu verteidigen.
Die einzige Ausnahme bildet das Kamel, welches gottesfürchtig und weise (V.1439 RF) ist, denn es erinnert an ein Gerichtsverfahren im Sinne des Rechts: Der Angeklagte müsse drei Mal vor Gericht geladen werden, erscheine er nicht, wird er dafür mit dem Leben bezahlen (vgl.V.1448-1451 RF).
Aus seiner Opferrolle kann Reinhart sich zudem auch schnell wieder selbst befreien, wobei er auf seine "kündikeit" zurückgreift, denn Reinhartes liste waren gros […]. || Reinharts Listenreichtum war unendlich […]. (V.1865 RF).
Reinhart der Sieger
Reinhart scheitert anfänglich bei körperlich unterlegenen Tieren, wie Hahn, Meise, Rabe und Kater. Mit seinen unzähligen Listen und seinem hinterlistigen Charakter gleicht er im darauffolgenden Handlungsverlauf aber jegliche körperliche Überlegenheit anderer Tiere aus. Das Beispiel des Wolfes Insengrin eignet sich hier besonders um Reinharts Verhalten als Sieger zu veranschaulichen:
Obwohl Reinhart Fuchs mit dem Wolf Isengrin ein Bündnis schließt, wird dieser immer und immer wieder zu seinem Opfer: Reinhartis driuwe warin laz, […]. || Reinharts Treue war unzuverlässig. (V.753 RF). Mehrfach nutzt der Fuchs Isengrins Dummheit und Naivität aus: Weil der Wolf Isengrin von Natur aus verfressen ist, lockt Reinhart ihn wiederholt mit Nahrung in seine Fallen und überlistet ihn so (vgl.V.686-696 RF). Dem Fuchs gelingen viele Listen, bis hin zur grausamen Kastration Isengrins und der Beschneidung seines Schwanzes, wofür das mittelhochdeutsche Wort zagel steht (vgl.V.814-815 RF). Als wäre es damit noch nicht genug, vergewaltigt Reinhart Isengrins Frau Hersant, die er schon lange begehrt, brutal vor den Augen ihres Mannes (vgl.V.1170-1176 RF). Reinharts nicht aufzuhaltender Drang, Isengrin sowohl seelisch, als auch körperlich zu verletzen, nimmt dem Wolf von seiner Männlichkeit bis hin zu seiner Würde und seinem Stolz schließlich alles.
Der Gerichtstag
Vor allem in der Episode des Gerichtstags kommt Reinharts Rollen als Täter und Opfer eine besondere Bedeutung zu. Der Löwenkönig erweist sich zunächst als Gerichtsherr, der das Verfahren gegen den Fuchs ordnungsgemäß leitet, indem er den abwesenden Reinhart nach Lehnsrecht dreimal vorladen lässt (vgl.V.1477-1480 RF). Ebenso droht er ihm, als der Fuchs die Königsboten übel zugerichtet zurückschickt, rechtskonform mit Verbannung und Tod. Reinhart taucht schließlich verkleidet als Arzt und Pilger beim Hoftag auf und verspricht, den kranken König Löwe Vrevel zu heilen, welcher zuvor brutal und aggressiv das Ameisenvolk zerstört hatte (vgl.V.1873-1889 RF). Der Lehensherr der Ameisen rächt sich daraufhin nämlich und dringt über das Ohr in das Hirn des Löwen ein, was diesem wiederum Todesqualen verursacht (vgl.V.1300 RF). König Vrevel nutzt die Situation zu seinen Gunsten egoistisch aus: "Dem Fuchs vorbehaltlos vertrauend, lässt Vrevel nicht nur den Wolf enthäuten, sondern er opfert auch eine Reihe anderer Vasallen seiner Gesundheit. Nachdem deshalb die meisten übrigen Untertanen des Königs geflohen sind, heilt der falsche Arzt seinen königlichen Patienten nun mehr, um ihn dann zu vergiften und sich aus dem Staub zu machen." [Neudeck 2017: 22] Aus der Gerichtsverhandlung und der Fällung eines Urteils entwickelt sich also ein dramatischer Ausgang. Der Fuchs nutzt den Einwand des Kamels, dass auch ihm eine gerechte Verurteilung zustehe, und tötet im Gegenzug seinen Richter.
Hierbei lässt sich sagen, dass der Fuchs sich im Verlauf des Gerichtstags vom "Angeklagten" zum "Richter und Rächer" [Ruh 1980: 27] entwickelt. Reinhart nimmt das Geschehen unter seine Kontrolle und zweckentfremdet die Justiz: "Verbrechen wird legalisiert, der Angeklagte zum Richter, die Kläger geschunden, getötet, verspeist.". [Ruh 1980: 27]
Da im Prozess gegen den Fuchs das Recht allerdings als Instrument für amoralisches Handeln des Löwen missbraucht wird, ist fragwürdig, ob das Todesurteil Reinharts überhaupt gerechtfertigt ist oder ob der Fuchs sich trotz seines amoralischen Handelns nicht zurecht entzieht. "Es gibt weder einen Grund zur Sympathie mit dem Fuchs", noch zum Mitleid für dessen Opfer, "sondern nur ein kühles Urteil der instrumentellen Vernunft, dass schlechte Schlauheit größeren Handlungserfolg verspricht [...]." [Hübner 2016:87]
Reinhart überwiegt als Täter
Obwohl der Fuchs in der Episode des Gerichtstags vorübergehend die Opferrolle trägt, überwiegt er insgesamt als Täter. Der Protagonist handelt alles andere als gerecht, denn Reinharts Listen und Schandtaten sind mit nichts zu rechtfertigen, vor allem nicht die Vergewaltigung Hersants, die auf höchst kriminelle Züge seitens Reinhart hinweist. Die Vergewaltigung wird vom Erzähler nur kurz und undetailliert angeschnitten, bei genauerer Betrachtung von Reinharts Handlungen stellt sich allerdings heraus, dass die grausame Tat sich vor den Augen von Hersants Mann Isengrin abspielt, Reinharts eigentlichem Verbündeten. Damit kann diese Tat als Höhepunkt seiner ungerechten Taten gesehen werden. Darauf aufbauend kann der Wolf Isengrin zudem weder verdiente Gerechtigkeit, noch einen Ausgleich für die ihm zugefügten psychischen und körperlichen Schmerzen erlangen, denn Reinhart überwindet am Ende den König Vrevel sowie das Gesellschaftssystem im Tierepos und kommt ungestraft davon.
Weiterhin ist da die groteske, gar makabre Pointe, dass die Verstümmelung Reinharts an Isengrin, dem Wolf letztendlich das Leben rettet (vgl.V.1012-1016 RF). Als die Klosterbrüder den Wolf zufällig im Brunnen entdecken und ihn heraus ziehen, lassen sie ihn halbtot liegen, denn "die am Wolfskörper sichtbaren Folgen der Fuchslisten [werden] als Tonsur und Beschneidung" [Mecklenburg 2017: 75-77]von den Mönchen interpretiert, weshalb er überlebt. Wenn Rezipient*innen über diese Situation lachen, dann lachen sie eigentlich über den abwesenden Reinhart Fuchs, der auf eine brutale Art ein Lebensretter ist.
Allgemein bereut der Fuchs seine schlimmen Taten nie und würde sich auch niemals für all seine mutwilligen Taten schuldig bekennen. Trotzdem wird Reinhart nicht einmal ansatzweise zur Rechenschaft gezogen und kommt ungestraft als Sieger über alle davon: Reinhart was vbele vnde rot, daz tet er da vil wol schin: er vergab dem herren sin. (V.2172-2175 RF).
Gewalt und Macht in der Gesellschaft der Tiere
Herrschaft durch König Vrevel
Der Hoftag des Königs Vrevel bietet die Gelegenheit für einen Gerichtstag, bei dem die von Reinhart Fuchs geschädigten Tiere Anklage gegen ihn erheben. Da die Szene in feudaler Anarchie endet, ermöglicht diese Episode die Steigerung in das Dramatische. Zu einer Katastrophe führt vor allem die problematische Figur des Königs. Vrevel geht davon aus, dass seine Schmerzen, die tatsächlich von der in sein Gehirn gedrungenen Ameise stammen, eine Bestrafung Gottes seien, da er seine königlichen Pflichten vernachlässige (vgl.V.1319-1321 RF). Diesen Pflichten will er nun nachkommen und den Gerichtstag vollziehen. Der Löwe verhält sich jedoch am Ende überwiegend egoistisch und opfert deswegen seine Untertanen, wobei er mitunter auch den Wolf häuten lässt, um daraus Nutzen für seine Gesundheit zu ziehen (vgl.V.1930-1933).
Aus Vrevels brutalem Verhalten in der Ameisenepisode und auch aus dem gewaltsamen Vorgehen im Hoftag lässt sich schließen, dass die königliche Macht im Tierepos allein auf Gewalt basiert und ausgeübt wird. "Rücksichtsloser Machtgebrauch, bloß äußerliche Rechtlichkeit, bestechliche Gerechtigkeit königliche Treulosigkeit bestimmen die öffentlichen Verhältnisse im Tierstaat. Deswegen bringt der König zunächst seine Vasallen um, um schließlich selber umgebracht zu werden." [Neudeck 2017: 22] Ebenso gerate die Schwachstelle der monarchischen Herrschaft in den Fokus: "die unsichere Eignung des Herrschers im Allgemeinen sowie die Manipulierbarkeit [...]" durch beispielsweise Kommunikation und Gewalt. Die monarchische Spitze der feudalen Gesellschaftsordnung, die durch den Löwen Vrevel verkörpert wird, impliziere gleichzeitig eine prekäre Schwachstelle. Die neugeschaffene Textsorte Tierepos ermögliche "eine kritische Reflexion des Politischen, die in einer pragmatisch-illusionslosen Darstellung politischen Handelns fassbar wird." [Neudeck 2017: 24]
Der Anti-Held Reinhart
"Eine besondere Rolle kommt dem Protagonisten zu. Reinhart ist es nämlich, der durch seine kundekeit die wahre Natur der Tierfiguren entlarvt [...], weil die Repräsentanten des Tieradels nicht ihren Idealen und Pflichten, sondern ihren natürlichen Interessen und Begierden folgen" [Ruh 1980: 31], wie König Vrevel, der nur nach seiner Gesundheit strebt, und dafür das Recht mit Füßen tritt und seine Getreuen schinden lässt. Auch der Kapellan, der Bär Brun und der Kater Dieprecht, die aufgrund ihrer Gefräßigkeit vom amtlichen Auftrag abgelenkt werden, sind Beispiele hierfür.
Aber auch Reinhart nutzt Gewalt zweifelsfrei immer wieder, um seine Machtposition als der den anderen Tieren deutlich überlegene und schlaue Fuchs zu demonstrieren. Der Protagonist bekomme am Ende die Rolle des "Anti-Helden" zugeschrieben: Er gewinnt den Gerichtstag, indem er alle Kläger umbringt, die ihm nach dem Leben trachten, und "zerstört auch nachhaltig die politische Ordnung der Tiergesellschaft" [Neudeck 2017: 22], denn auch die monarchische Spitze, den König, stürzt und beseitigt er gnadenlos.
Widerspiegelung der Menschen im Tierepos
Die politische Argumentation nach Ruh
Die Welt und die Gesellschaft der Tiere im Tierepos "Reinhart Fuchs" seien nach Kurt Ruh ausschließlich die Widerspiegelung der adligen Welt und deren Vertreter. Er stellt die These auf, dass die gezielte politische Satire auf der Standeskritik beruhe, die der Tierdichtung als solcher eigen sei. Als Voraussetzung dafür werden die Tiere als "Barone" oder "Herren" dargestellt. "Aber nicht, um [...] die feudale Welt idealiter oder auch nur abbildend darzustellen, sondern um sie der Kritik zu unterwerfen. Diese Kritik wächst aus ihr selbst, nicht aus der Ideologie eines anderen Standes. [...] Die Episierung geschieht, indem die Tiere handelnd ihre eigene Natur enthüllen. Das heißt zugleich, dass sie - und dies ist die grundlegende Anthropomorphisierung der Tiergeschichte - sich zu verstellen vermögen oder auch in einem neutralen Zustand zu verharren." Die wahre Natur manifestiere sich erst im Zwang der grundlegenden biologischen Bedürfniserfüllung. [Ruh 1980: 29-30]
"Man kann auch sagen: die Tiere geben sich menschlich, nehmen noble Lebensformen, Sitte, Vernunft, Ideologien in Anspruch, handeln indes immer als Tiere, ihrer Natur entsprechend. Das aber bedeutet, da die handelnden Tiere die Menschenwelt spiegeln, Demaskierung. Der Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit tut sich drastisch auf, die Menschen, hier die adlige Gesellschaft, enthüllen ihre wahren, nämlich die kreatürlichen Kräfte. […]" Die höfische Epik stelle die adlige Gesellschaft und deren Verständnis von "êre", also Ehre, "triuwe", also Treue und "milte", also Gnade, dar. Die Beziehung zwischen Wolf und Fuchs basiere auf "untriuwe", also Untreue, ebenso wie der Umgang des Königs mit seinen Untertanen. [Ruh 1980: 30]
Nach Kurt Ruh ist hier also die zielende Absicht des Autors, den Rezipient*innen die Augen zu öffnen, denn Reinhart Fuchs ist nicht der alleinige ungerechte Täter, sondern auch an der Herrschaft des Tierreichs, stellvertretend für die Schicht des Adels, sollte Kritik geübt werden. Trotz aller Interpretationen und Auslegungen können die grausamen Taten Reinharts moralisch nicht gerechtfertigt werden. Als hinterlistiger Fuchs wird er für all seine Schandtaten nie zur Rechenschaft gezogen, sondern das Gegenteil ist der Fall: Der König zieht bis zuletzt unwissentlich einen Nutzen aus Reinhart, dem schlauen und einfallsreichen Fuchs, der niemals büßen oder bezahlen muss.
Die Rolle des Fuchses
Der Protagonist Reinhart Fuchs entlarvt die eigentlichen Beweggründe der Handelnden: Die Eitelkeit Scanteclers und Diezelins, die Gefräßigkeit und die Dummheit des Wolfes und vieler Teilnehmer am Hoftag, "weil die Repräsentanten des Tieradels nicht ihren Idealen und Pflichten, sondern ihren natürlichen Interessen und Begierden folgen." Der Begriff der "untriuwe" werde nicht in der Figur des Protagonisten thematisiert, sondern "[...] führt zur Vorstellung, die Welt wäre in bester Ordnung, wenn nur der Erzgauner Reinhart nicht wäre." [Ruh 1980: 31] Die Dreistigkeit des Fuchses, jeden zu hintergehen und auszunutzen steht im direkten Vergleich zum Verhalten des königlichen Herrschers und dessen Untertanen, deren Handlungen nur von egoistischen Zielen und natürlichen Trieben, wie Bedürfnisbefriedigung geprägt sind. Reinhart ist nicht der alleinige Schelm, vielmehr wird der Fokus durch seine Taten und sein Verhalten auf den egoistischen, dummen Adel gelenkt, der vom schlauen Reinhart Fuchs entlarvt wird.
Ein Beispiel hierfür stellt der Löwe Vrevel dar, dessen Egoismus entlarvt wird, als er Reinharts Rat befolgt und Tiere seines eigenen Volkes gewaltsam opfert, nur um selbst wieder gesund zu werden. "Die grausame Mißhandlung der Tiere wird abschließend von Reinhart mit der zynischen Wahrheit kommentiert: 'Wärst du ein armer Mann, so hätte ich Dir nicht helfen können.' (1972f.)." [Ruh 1980: 25] Reinhart scheint an dieser Stelle zwar der antreibende Übeltäter zu sein, in Wirklichkeit offenbart er mit seinem Verhalten aber nur die wahre Natur des Löwen Vrevel, der schließlich hätte verhindern können, dass so viele Tiere seinetwegen sterben müssen.
Paradoxie nach Mecklenburg
Mecklenburg untersucht die paradoxe und "widersprüchliche Überkreuzung" von Anthropomorphie und Animalität. "Menschen haben einen freien Willen, sie wissen im Listhandeln die Hintergehbarkeit von Ausdruck zu nutzen; Tiere besitzen keine Willensfreiheit, sie folgen ihren Instinkten und sind, so sie zu den Wildtieren gehören, nicht an Bedingungen menschlicher Sozialräume angepasst." [Mecklenburg 2017: 80] Explizites Verhalten bestimmter Charaktere könne er nur als tierisch klassifizieren, beispielsweise die Beschwerde Hersants in der Öffentlichkeit über das Fehlen des "zagels" ihres Mannes, wodurch er verschiedene Eigenschaften der Tiere nicht auf menschliche Eigenschaften projizieren könne. Die an ihre Handlung und Figuren herangetragene alltagspraktische Logik könne auf paradoxe Weise zwar in ihrer Geltung enthoben werden, das an den Figuren vorgeführte Exempel könne aber doch wieder auf die Bewältigung eines alltagspraktischen Problems hin beziehbar werden (vgl.[Mecklenburg 2017: 80]).
Die Darstellung des Fuchses
Der Fuchs im Mittelalter
In mittelalterlichen Lehrbüchern, wie im altdeutschen "Physiologus", wird der Fuchs überwiegend mit negativen Aspekten assoziiert. Ebenso wird der Fuchs in Verbindung mit dem Teufel gebracht und ein Vergleich zwischen sündigem Verhalten des Tieres und der Menschen gezogen. Das Verhalten des Tieres weise jedoch partiell so unheimliche und untierische Züge auf, dass die Anspielungen auf das Wirken des Bösen sichtbar sind. Auch im altdeutschen "Titian" zeichne sich ein Mensch, der als ein Fuchs bezeichnet wird, als jemand aus, dessen Absichten nicht durchschaubar oder moralisch einwandfrei sind. In den mittelalterlichen 'Predigtmärchen' wird der "Prototyp des 'menschlichen Fuchses'" von vier negativen Eigenschaften dominiert: Habsucht, Verzweiflung, Falschheit und Verschlagenheit (vgl.[Müllneritsch 2010: 301]).
Das Tier als Begleiter des Bösen
Der Fuchs wurde in vielen Kulturen mit Tabuwörtern bezeichnet, da er wohl aufgrund des Aberglaubens nicht bei seinem Namen genannt werden solle. Bei einem morgendlichen Spaziergang einen Fuchs zu sehen, deute beispielsweise auf Glück oder Unglück hin, meistens aber sei das Tier ein Indiz für nahendes Unglück. Springe ein Fuchs über einen Kirchweg, kündige er so Leichen an und ein Traum von einem Fuchs offenbare eine bevorstehende Begegnung mit einem hinterlistigen Menschen (vgl.[Müllneritsch 2010: 296-298]). All diese abergläubischen Beispiele beweisen, wie stark der Fuchs als Tier negativ behaftet ist, und dass sich dieses Bild bis hin zur Angst vor dem Fuchs steigert.
Der Fuchs als Metapher
Warum der Fuchs als hinterlistig assoziiert wird, lässt sich allein aus seinem natürlichen und biologischen Verhalten schließen: "Gut versteckt wartet er auf seine Beute, um sie dann unvermittelt anzuspringen; wenn ein Mensch so etwas beobachtet oder möglicherweise selbst von einem Fuchs angefallen wird, ist es nicht verwunderlich, wenn das Tier in Folge als heimtückisch gilt." [Müllneritsch 2010: 302]
Schlussbetrachtung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zuschreibungen der Charakteristik von Reinhart Fuchs vor allem bezüglich seiner "kündikeit" relativ konstant sind. Abgesehen davon, dass das oft körperlich unterlegene Tier zu Beginn mit seinen Niederlagen eine leichte Sympathie bei den Rezipienten weckt, ist seine Persönlichkeit mit seiner „kündikeit“ im weiteren Verlauf nahezu durchgehend negativ behaftet. Vor allem die Vergewaltigung der Wölfin und die Verstümmelung von Isengrin unterstreichen diese These. Was die Beziehung des Fuchses zu den anderen Tieren betrifft, lässt sich festhalten, dass er bereits während des Handlungsverlaufes, aber vor allem am Schluss der Handlung für seine Unbeliebtheit sorgt und mit keinem der Tiere in einer guten Beziehung steht. Hierbei sollte zudem angemerkt werden, dass die negativen Eigenschaften Reinharts gegen Ende zu einem gewissen Grad von dem amoralischen Verhalten der anderen Figuren in den Schatten gestellt werden. Trotz dass er mit seiner besonderen Aufgabe des Entlarvens der wahren Natur der anderen Figuren beim Rezipienten vermutlich Eindruck schinden könnte, ist Reinhart Fuchs eigenes Verhalten keinesfalls moralisch zu rechtfertigen. An dieser Stelle kann klar gesagt werden, dass das Tier sehr wohl einen eigenen Charakter entfaltet, da seine Motive wie Rache, Machtgewinn und ehebrecherisches Begehren nicht mit den natürlichen Trieben eines Fuchses erklärt werden können.
Mit Blick auf das Gesamtwerk spielt die Figur vor allem eine wichtige Rolle in Bezug auf das Entlarven der Persönlichkeiten der anderen Figuren, womit der Text Kritik an der damaligen Gesellschaft und somit dem Adel ausübt. Schließlich charakterisieren Reinhart zwei verschiedene Seiten: Mit seinem schlauen, klugen Einfalls- und Ideenreichtum ist er einerseits nicht nur jeder Situation, sondern ebenso jedem Tier in der Geschichte überlegen. Diese Überlegenheit nutzt er allerdings schamlos ohne Rücksicht auf seine Umwelt aus, und fügt so vielen anderen willkürlich Leid zu. Andererseits sieht er als einziger die Naivität aller in der Tiergesellschaft und geht mit offenen Augen durchs Leben. Dabei fällt auf, dass die anderen Tiere überwiegend egoistisch und nach ihren eigenen Vorteilen, Bedürfnissen und ihrem Begehren handeln. Dieses Verhalten kann der Protagonist bis zum dramatischen Ende einkalkulieren und ausnutzen. Paradox zu seiner Klugheit stehen zentral Reinharts hinterlistige Eigenschaften, zu betrügen und amoralisch jede List ohne jegliche Empathie auszuführen.
Literatur
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- [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (RF, V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, Göttingen 2017, S. 75 - 97.
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- [*Müllneritsch 2010] Müllneritsch, Helga: Die Darstellung des Fuchses. Graz 2010, S. 291 - 304.
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- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs. Eine antihöfische Kontrafaktur, in: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1980, S. 18 - 31.
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- [*Neudeck 2017] Neudeck, Otto. Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, München 2017, S.16-24
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- [*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 79 - 94.
- ↑ Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg. Karl-Heinz Götter, Stuttgart 1995.
- ↑ http://www.duden.de/rechtschreibung/hinterlistig
- ↑ http://www.duden.de/rechtschreibung/listig