Spiegelmotivik im Sommerlied 22 (Neidhart): Unterschied zwischen den Versionen
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[*Ovid 2017] Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In: Niklas Holzberg (Hg.): Ovid Metamorphosen. Berlin/Boston 2017. | [*Ovid 2017] Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In: Niklas Holzberg (Hg.): Ovid Metamorphosen. Berlin/Boston 2017. | ||
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[*Schulze 2018] Schulze, Ursula: Grundthemen der Lieder Neidharts, in: Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch, hg. von Margarete Springeth und Franz Viktor Spechtler, Berlin/Boston 2018, S. | [*Schulze 2018] Schulze, Ursula: Grundthemen der Lieder Neidharts, in: Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch, hg. von Margarete Springeth und Franz Viktor Spechtler, Berlin/Boston 2018, S. 95-116. | ||
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Version vom 1. März 2021, 16:59 Uhr
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Das Sommerlied 22 zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der in so vielen neidhart`schen Liedern auf verschiedene Weisen zitierte Spiegelraub hier die größte Ausgesatltung erlangt. Dennoch ist zu beachten, dass das Geschehen um Friederun, Engelmar und das Sänger-Ich als Beobachter auch nicht in diesem Lied den gesamten Raum einnimmt. Der Vollständigkeit halber ist das Sommerlied dennoch in seiner Gänze aufgeführt und übersetzt. Eine Analyse aller Inhalte ist jedoch nicht Ziel des Artikels, sondern muss dem Anspruch, ebenjenes Lied auf seine Spiegelmotivik zu untersuchen, weichen. Selbstverständlich dennoch vorhandene Phänomene, Motive und neidhart`sche Spielarten, wie der Natureingang, die dörper, Gewalt oder die Darstellung von Frauen, werden nur im Zusammenhang mit besagter Spiegelmetaphorik beleuchtet.
Übersetzung des Sommerlieds 22
Strophe I*
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
---|---|
Der winter hât ein ende. | Der Winter hat ein Ende. |
komen ist uns der meie, | eingetroffen ist der Mai, |
der uns bluomen bringet manger leie. | der uns so mancherlei Blumen bringt. |
ich hœr die vogelín singen, | ich höre die Vögelchen singen, |
wir suln alle springen, | wir mögen alle tanzen, |
sîn gemeit | und voller Freude sein. |
der walt ist wol geloubet, | Der Wald grünt schön vor Laub, |
diu linde guldîn tolden treit. | die Linde trägt einen goldenen Wipfel. |
Strophe I
Der linden welnt ir tolden | Der Wipfel der Linde will |
von niuwem loube rîchen. | sie mit frischem Laub bereichern. |
dar under lâzent nahtigal dar strîchen: | Unterhalb des Wipfels lassen sich Nachtigallen nieder: |
si singent wol ze prîse | Sie singen schön, |
vremde süeze wîse, | um die fremde, liebreizende Wise zu preisen, |
dœne vil. | sie singen viel. |
si vreunt sich gein dem meien: | Sie freuen sich über den Mai: |
sîn kunft diu ist ir herzen spil. | Seine Ankunft ist ihren Herzen ein Vergnügen. |
Strophe II
Si sprechent, daz der winder | Sie sagen, dass der Winter |
hiuwer sî gelenget. | für dieses Jahr zu Ende sei. |
nu ist diu wise mit bluomen wol gemenget, | Jetzt steht die Wiese in vollster Blütenpracht, |
mit liehter ougenweide | eine strahelnde Augenweide |
rôsen ûf der heide | sind die Rosen auf der Heide |
durch ir glanz. | durch ihren Glanz. |
der sante ich Vriderûnen | Da schickte ich Friederun |
einen wolgetânen kranz. | einen schön gefertigten Kranz. |
Strophe III
Die vogele in dem walde | Die Vögel im Wald |
singen wünneclîchen. | singen wundervoll. |
stolze mägde, ir sult ein niuwes tîchen. | Übermütige Mädchen, schafft etwas Neues! |
vreut iuch lieber mære! | Erfreut euch an einer schönen Botschaft! |
maneges herzen swære | Die Schwere so manchen Herzens |
wil zergân. | wird vergehen. |
tuot, als ich iuch lêre, | Tut, was ich euch sage, |
strîchet iuwer kleider an! | zieht eure Kleider an! |
Strophe IV
Ir brîset iuch zen lanken, | Schnürt euch eure Kleider um die Hüften, |
stroufet ab die rîsen! | streift den Schleier ab! |
wir sulnz ûf dem anger wol wikîsen. | Lasst uns auf dem Feld schön tanzen. |
Vriderûn als ein tocke | Friederun tanzte wie eine Puppe |
spranc in ir reidem rocke | in ihrem gefälteten Rock |
bî der schar: | inmitten der Schar. |
des nam anderthalben | Dies beobachtete von der anderen Seite |
Engelmâr vil tougen war. | Engelmar ganz heimlich. |
Strophe V
Dô sich aller liebes | Als alle Liebenden |
gelîch begunde zweien, | so gleich begannen, sich zueinander zu gesellen, |
dô sold ich gesungen haben den reien, | da sollte ich das Lied zum Tanz singen, |
wan daz ich der stunde | nur dass ich zu diesem Zeitpunkt |
niht bescheiden kunde | nicht bestimmen konnte [Laude 2007: 229] |
gegen der zît, | um die Zeit herum, |
sô diu sumerwünne | in der die Sommerwonne |
manegen herzen vreude gît. | so manchen Herzen Freude schenkt. |
Strophe VI
Nu heizent sî mich singen; | Jetzt befehlen sie mir, zu singen; |
ich muoz ein hûs besorgen, | Ich muss mir ein Haus suchen, |
daz mich sanges wendet manegen morgen. | damit ich mit Gesang an manchem Morgen umkehren kann. |
wie sol ich gebâren? | Wie soll ich mich verhalten? |
mirst an Engelmâren | Engelmar ist mir |
ungemach, | ungeheuer, |
daz er Vriderûnen | da er Friederun |
ir spiegel von der sîten brach. | ihren Spiegel von der Hüfte riss und brach. |
Strophe VIa
Sîner basen bruoder | Dem Bruder seiner Cousine |
hiet sis wol erlâzen. | hätte sie es wohl erlassen. |
er kan sich deheiner dinge mâzen; | Er kann sich bei nichts mäßigen; |
er ist ein tœrscher Beier. | er ist ein ungestümer Bayer. |
er und der junge meier | Er und der junge Meier |
tuont ir leit. | tun ihr leid. |
noch hât sî den vriunt, | Noch hat sie den Freund, |
der imz die lenge niht vertreit. | der die Entfernung nicht erträgt. |
Strophe VIb
Dar umbe wil si aber | Darum will |
ein Engelmâr vertriben. | aber Engelmar sie vertreiben. |
er ist ein gemzinc under jungen wîben. | Er ist ein Bock unter jungen Frauen. |
er ist ein ridewanzel, | Er tanzt den Ridewanzel, |
in dem geu vortanzel. | er ist ein Vortänzer im Gau. |
sîn gewalt | Seine Gewalt |
der ist an dem reien | ist beim Tanze |
under den kinden manicfalt. | unter den jungen Mädchen ein häufiges Phänomen. |
Strophe VIc
Daz ist Friderûne | Das bedeutet für Friederun |
ein langer werndiu swære | ein lange währendes Leid |
von Engelmâre dem tœrschen tanzprüevære, | zugefügt von Engelmar, dem ungestümen Tanzerprobten, |
daz er ir torste lâgen. | als er ihr an den Türpfosten auflauerte. |
daz klagtes al ir mâgen. | Das klagte ihr ganzes Tun. |
umbe den schal | Vor dem Schall |
solt dû dich nu hüeten, | sollst du dich nun hüten, |
Friderûn! fliuch gein Riuwental! | Friederun, flieh nach Riuwental! |
Strophe VId
Der het ir genomen | Der hat ihr |
in schimphe ein tockenwiegel. | in einem Spiel die Puppenwiege genommen. |
daz hiet wir verklagt, niewan den spiegel | Das hat sie mit Klagen an mich hingetragen, nichts als den Spiegel, |
(der was von helfenbeine, | (der war aus Elfenbein, |
wæhe, ergraben kleine), | kostbar, fein graviert) |
den sîn hant | den seine Hand |
ir nam gewalticlîche; | ihr mit Gewalt entriss; |
dâ von al mîn vreude swant. | dadurch schwand all meine Freude. |
Strophe VIe
Ir sult mirz wol gelouben, | Ihr könnt es mir wohl glauben, |
ich sag iz niht gerne: | ich sag es nicht gerne: |
diu spiegelsnour diu kom her von Iberne, | Das Spiegelband kommt aus dem ibernischen Gebiet, |
ez was ein wæher borte. | es war eine wertvolle Borte. |
niden an dem orte | Am Ende unten dran |
stuonden tier | befanden sich Tiere |
geworht von rôtem golde. | mit rotem Gold durchwirkt. |
nie geschach sô leide mir. | Nie geschah mir so ein Leid. |
Strophe VIf
Daz ich niht frœlîch singe, | Dass ich nicht fröhlich singe, |
daz wendet mir ein swære, | bereitet mir ein Leid, |
von der ich alsô gerne ledic wære. | von dem ich gerne frei wäre. |
dise dorfgebûwer | Diese Dorfbauern |
die nimt des gar untûwer: | beschäftigt das gar undedeutend: |
si tragent mir haz. | Sie bringen mir Hass entgegen. |
ob si niht enwæren, | Wenn sie nicht wären, |
sô sunge ich für wâr fürebaz . | würde ich fürwahr besser singen. |
Strophe VIg
Erkenbreht und Uoze | Erkenbrecht und Uoze |
und der ungenante, | und der Ungenannte, |
Gózbreht, der mich ofte sanges wante, | Gosbrecht, der mich oft vom Singen abhielt, |
die sint nu gar gesweiget | die sind nun verstummt |
unde ir freude seiget | und ihre Freude schwankt |
hin unt her. | hin und her. |
ir schîbe, diu gienc ebene, | Ihre Kugel, die rollte gleichmäßig, |
diu ist gestrúchet nú entwer. | die ist nun hin und her bewegt worden. |
Strophe VIh
Frou Hilde und getelinge, | Frau Hilde und ein paar Burschen, |
die sprungen an ir hende, | die tanzten Hand in Hand, |
ir tanz der was dô âne missewende. | ihr Tanz verlief ohne Wendung zum Schlechten. |
nu habent sî erworben, | Jetzt haben sie es geschafft, |
daz er ist verdorben. | dass er verdorben ist. |
ir üppekeit | Ihr Übermaß |
ich wæn diu hât geprüevet | hat, wie ich glaube, Zeugnis abgelegt |
in manec gespötte unde leit . | in vielem Gespött und Leid. |
Einordnung des Sommerlieds 22
Das Sommerlied 22 zeichnet sich nicht nur auf inhaltlicher Ebene durch seine ausführliche Thematisierung des auch hier nicht szenisch dargestellten Spiegelraubs aus, sondern birgt auch hinsichtlich seiner Gattungspoetik und Typisierung ein spezielles Potenzial, da es nicht wie die meisten anderen Sommerlieder problem- oder diskussionslos ebendieser Unterart des neidhartschen Œuvre zugeordnet werden kann. Wie bei allen Winter- und Sommerliedern Neidharts kann auch im Falle des Sommerlieds 22 von einer Transformation des Hohen Sangs, von einer Modifizierung des Minnesangs gesprochen werden, das sich durch ein beibehaltenes, jedoch hinsichtlich des Standes der Beteiligten verändertes Minneschema kennzeichnet: Ein dem Adel zugehöriges Sänger-Ich wirbt um eine Dame aus dem bäuerlichen Milieu und bleibt dabei erfolglos. Dieser Vorgang ist dabei oftmals den Blicken einer Gesellschaft ausgesetzt. Typischerweise erfüllen in den Winterliedern dörper diese Gesellschaftsfunktion, indem sie als Rivalen oder dem Sänger-Ich schlicht missgünstig auftreten. Kurt Ruh nennt diese dörper-Thematik sogar gattungskonstitutiv für die Winterlieder. [Ruh 1984: 123] Zwar ist deren Präsenz auch in den Sommerliedern nicht zu bestreiten, jedoch mit einem niedrigeren Grad an Gewalt- und Konfliktpotenzial. Schon dieses Charakteristikum weist auf eine unklare Zuordnung des als Sommerlied betitelten Forschungsgegenstands hin und erfährt noch eine zusätzliche Komponente des Vagen, wenn Ruh es aufgrund seines Berichts über etwas Vergangenes, Nicht-Szenisches als „außerhalb des Systems“ [Ruh 1984: 109] bezeichnet. So kommt dem Sommerlied 22 auch ein auf Rückbesinnung und Erinnerung basierender nachdenklicher Charakter zu, beschäftigt das darin enthaltene Ereignis des Spiegelraubs und -bruchs das Sänger-Ich doch nachhaltig. Aus dieser Außenseiterposition bieten sich einige Anknüpfungspunkte, die besagtes Lied nicht nur mit anderen Liedern des neidhart`schen Œuvres in Beziehung setzen, sondern auch für ein Beziehungsgeäst dieser anderen Lieder untereinander sorgen. Ein Vergleich mit Engelmar beispielsweise aktiviert das Vorwissen der Rezipierenden und entlarvt den dem Vergleich unterzogenen dörper als Schuft. Zwar bergen auch andere Motive, Topoi oder schlicht Szenen einen solchen Wiedererkennungsfaktor, wie etwa die Mutter-Tochter-Dialoge mit häufigerem Verweis auf doch so nötige mädchenhafte Tugend, jedoch büßen diese vor dem Hintergrund einer Vergewaltigung und Entehrung in Sommerlied 22 an Brisanz ein. Da jedoch der namengebende Part des Sommers im Natureingang des Liedes eindeutig konstatierbar ist –
Der winter hât ein ende |
komen ist uns der meie, |
der uns bluomen bringet manger leie. |
– soll auch im Folgenden in Tradition der auf wissenschaftlicher Seite so praktizierten Kategorisierung neidhart`scher Lieder darauf als Sommerlied referiert werden. Trotz dieser Zuordnungsproblematik entzieht sich das Sommerlied 22 jedoch nicht einer Kategorisierung als „Sängerlied“, welches neben Mutter-Tochter- und Gespielinnen-Dialog einen dritten, thematisch am meisten auf das Sommerlied 22 zugeschnittenen Untertypen bildet und unabhängig von größerem oder geringerem Gewicht der dörper-Rollen und des Gewaltmotivs ist.
Der Spiegel in der Literatur
Der Spiegel ist in der Literatur ein vielfach aufgeladenes Motiv, spielt er doch sowohl in Form einer Wasseroberfläche - etwa in Ovids Narzissus-Mythos - als auch als schlicht der normativierten Weiblichkeit attribuiertes Accessoire, was vor allem in Märchen zum Ausdruck kommt, eine tragende Rolle. Besonders in der antiken Sage um Narziss und Echo ist die enge Verbundenheit von Eros - eine Liebe, die im Falle Narziss' vor allem oberflächlich bleibt und auf Schönheitsempfindungen beruht - und Thanatos, dem Tod oder - in abstrakterer Form - der Zerstörung eines lebensnotwendigen Wertes zu finden. [Ovid 2017] Eine solches Einhergehen birgt dramatisches Potenzial und so verwundert es nicht, dass es dieses Motiv ist, dessen sich schon Sophokles und Ovid, aber auch Goethe oder Shakespeare bedienten und das auch in der Dichtung des Mittelalters nicht unberücksichtigt blieb. In Hinblick auf die althergebrachte Verbindung von Schönheit und Weiblichkeit ist es vor allem die Frau, die sich als Objekt oder Ziel einer solchen oben genannten verheerenden Verknüpfung anbietet. In Neidharts Sommerlied 22 wird die Tragik des Eros-Thanatos-Motivs noch dadurch erhöht, dass der Aspekt Eros rein körperlich und vor allem einseitig bleibt und so allein die diesem Eros nicht verfallene Frau Leidträgerin des Thanatos als Zerstörung ihrer Unversehrtheit ist. So erfährt der Spiegel als Sinnbild weiblicher Selbstbestimmung eine zusätzliche dramatische Komponente.
Interpretation: Untersuchung des Sommerlieds 22 auf seine Spiegelmotivik
Funktion des Spiegelraubs im größeren Zusammenhang des Gesamtwerks Neidharts
Hinführung: Der Spiegelraub als Leerstelle
Der Spiegelraub, so präsent er den Rezipierenden nach häufigem Lauschen der Neidhart-Lieder auch sein mag, birgt eine besondere narratologische Aufmachung im Gesamtwerk. Möchte man sich die vom Sänger-Ich als so frappierend beschriebene Situation entsprechend der textlichen Ausgestaltung vor Augen führen, so muss man sich schnell eingestehen, dass detaillierte Informationen seitens des Sängers stets ausbleiben vielmehr entstehen Lücken und Leerstellen, die gefüllt werden müssen. [Lienert 1989: 12] Was die Zeichnung des Spiegelraubs befeuert, ist vor allem die Vorstellung der so eingebundenen Rezipierenden, ebendiese imaginatio selbst. [Laude 2007: 216] Durch Versammlung verschiedener Komponenten der Spiegelraubthematik werden ebenjene Komponenten konnotativ miteinander und mit ihrer übergeordneten Motivik des hier behandelten Verbrechens vernetzt und aufeinander bezogen. So reicht etwa die Erwähnung des puren Namen Engelmars oder die Erwähnung eines Spiegels in einem ansonsten auf den ersten Blick nicht mit dem Spiegelraub in Kongruenz stehenden Kontext aus, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer- und hörer*innen zu aktivieren, welche so selbst den jeweils angesprochenen Aspekt in den größeren Zusammenhang der Spiegelgeschichte zwischen Friederun und Engelmar einbetten. Corinna Laude et alii nennen diesen von Neidhart provozierten Effekt „konnotative Ausbeutung“ [Laude 2007: 217]. Die beabsichtigte In-Bezug-Setzung folgt durch die häufig geschehene Verbindung der einzelnen Elemente untereinander einer Logik, sodass sich für die entstehende imaginatio der ratio bedient wird, bevor besagte Vorstellung in die memoria gelangt und dort die feste Position als Verknüpfungspunkt der einzelnen Spiegelraub-Komponenten nach Art von Synapsen einnimmt. Die Basis für das feststehende Personen-, Namen-, Stimmungs- und Objektrepertoire bildet das Sommerlied 22, versammelt es doch alle Bestandteile, nämlich Engelmar, Friederun, das Sänger-Ich, der resultierende Verlust von Freude und natürlich den Spiegel selbst, sowie dessen Raub bzw. Bruch als Tatbestand:
Vriderûn als ein tocke |
spranc in ir reidem rocke |
bî der schar |
des nam anderthalben |
Engelmâr vil tougen war. ( Strophe IV) |
sowie in Strophe VI
wie sol ich gebâren? |
mirst an Engelmâren ungemach |
daz er Vriderûnen |
ir spiegel von der sîten brach |
und schließlich in VIe
nie geschach sô leide mir. |
Dieses Phänomen der seitens des Publkums gefüllten Leerstellen bezeichnet Elisabeth Lienert treffenderweise als „nur erinnert, nie erzählt“ [Lienert 1989: 12].
Ausdruck von Selbstbewusstsein durch die Leerstelle des Spiegelraubs
Die bereits angesprochene Einbeziehung des Publikums birgt einen weiteren Ansatz zur Funktionsbeschreibung des Spiegels: Die beinahe als Innovation zu bezeichnende Abhängigkeit der Leerstellenfüllung von der imaginatio des Publikums drückt einerseits das Selbstbewusstsein des Sänger-Ichs aus – „Ihr wisst alle, wovon ich spreche. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, schließlich kennt ihr meine Lieder.“ – andererseits bedarf Neidhart auch der Eigenleistung seiner Zuhörerschaft, um seinem Markenzeichen – einer zweiten Funktion des lückenbehafteten Spiegelraubs – ebenjener Lücken und Rekurrenzen gerecht zu werden. [Lienert 1989: 10] Die Voraussetzung einer gewissen Textkenntnis unterbleibt auch nicht im solches Basiswissen überhaupt erst vermittelnden Sommerlied 22. In Strophe VIg wird als Synonym für Engelmar der ungenante gebraucht, ein Ausdruck, der ohne Wissen um die dafür gelieferte Erklärung in...wohl verwundern würde. Gerade durch den erstgenannten Ausdruck des Selbstbewusstseins im Zusammenspiel mit dem Umstand, überhaupt ein Markenzeichen zu haben, macht Neidhart sich gewissermaßen selbst kanonisch. Die Fähigkeit, seine Anspielungen zu verstehen, wird von ihm beim Publikum vorausgesetzt, was auch eine Zusammengehörigkeit nach dem Motto „Wer meinen Gesang mit seinen Spielchen versteht, gehört zu meinem inner cricle. Wir alle sind Insider.“ schafft. Diese Schmeichelei ist vielleicht auch nötig, um zumindest einer Erwartung, nämlich einer beabsichtigten Intratextualität, im ansonsten von Regelbrüchen gekennzeichneten Œuvre gerecht zu werden.
Vergleichbarkeit verschiedener Leiderfahrungen
Eine weitere, nicht zu vernachlässigende Funktion des Spiegelraubs als Motiv, ist die Ermöglichung von Vergleichbarkeit und damit zusammenhängender Skalierung, indem Engelmar als Prototyp des Bösen gezeichnet wird, Friederun dagegen als Opfer und zartes, ein solches ihr widerfahrenes Leid nicht verdienendes Mädchen. Diese Opposition macht sich auch schon in den Namen des bzw. der Protagonisten/-in bemerkbar: „Engel“ als Analogie zum Gegenwartsdeutschen gewinnt durch die Verbindung mit „mar“ erst an Brisanz: Als quälendes Nachtgespenst bringt der zweite Part des Namens den begangenen Gewaltakt mehr zum Ausdruck als die erste Position „Engel“. Gesteigert wird der Hintergrund der Namensgebung jedoch noch durch das Zusammenspiel eines Engels, der einem Qualgeist gleichkommt, denn welcher Engel, wenn nicht Lucifer in seiner Hybris und Versammlung alles Bösen in sich könnte damit gemeint sein. Diametral gegenüber ist dem die Kombination aus „vride“ als „Frieden“ und „Waffenstillstand“ und „rûn“ als „Raunen“ anzusiedeln. [Hennig 2014] Die zweite Bedeutung von „rûn“ als Geheimnis unterliegt ebenfalls vielfacher Bedeutungsaufladung, an dieser Stelle sollen jedoch die angesprochenen Lücken und sich ergebenden Unklarheiten ausreichen. Es steht zunächst außer Frage, durch was für einen Grad an Antipathie und Konkurrenz das Verhältnis zwischen Engelmar und dem Sänger-Ich gekennzeichnet ist, sodass es nicht weiter überrascht, wenn Engelmar auch in den übrigen Liedern als Vergleich herangezogen wird, um die Übeltäterschaft und Bösartigkeit eines andren dörpers in Relation zu setzen. Hier jedoch bedient sich Neidhart eines weiteren Kunstgriffes, denn anstatt Engelmar als die Krone des Schlimmen, sozusagen als Personifizierung des Teuflischen, beizubehalten, führen die für den Dichter so typischen Übertreibungen – auf einer neidhart`schen Skala sind ausschließlich Extreme anzusiedeln – zur Marginalisierung aller besungener Übel. (Hier Textausschnitt Vergleich x mit Engelmar). Als Resultat dieser Schilderung in Extrema und der sich daraus ergebenden Unglaubwürdigkeit ergibt sich eine paradoxe Komik. [Lienert 1989: 13] Noch verzerrter wirken die Leiderfahrungen auch im Sommerlied 22 selbst, fokussiert das Sänger-Ich neben dem zunächst geschilderten Leid Friederuns, welches ihr ein langer werndiu swære ( Strophe VIc) sei, vor allem sein eigenes Unglück, dâ von al [sîn] vreude swant ( Strophe VId), das noch zusätzlich durch seinen ausbleibenden Gesang und den von den dörpern ihm entgegengebrachten haz ( Strophe VIf) befeuert wird.
Kritik an der Praxis des Hohen Sangs
Die „Doppelbödigkeit“ [Lienert 1989: 15] des Spiegelraubs vereint somit also einerseits einen komischen Effekt, andererseits jedoch auch „hintergründige[] Kritik“ [Lienert 1989: 15], denn die Leiderfahrung Friederuns wird zwar artifiziell ausgearbeitet, doch die Degradierung ebenjenes Leides entlarvt wohl eher das Sänger-Ich als stets klagenden und demnach nicht zu einer „Hierarchisierung“ verschiedener Leiderfahrungen fähigen Figur. Da das Sänger-Ich durch Neidharts Artifizialität ad absurdum geführt wird, ist hier eindeutig zwischen der Kunstfigur des Sängers und dem Dichter Neidhart, der dem Tabu der Vergewaltigung – zu dieser Deutung siehe weiter unten: Spiegel auf inhaltlicher Ebene – eine Bühne gibt, zu unterscheiden. Die Thematisierung sexueller Übergriffe in Folge körperlicher Begierden und mangelnder Anerkennung der Würde und Selbstbestimmung einer Frau wäre in der Hohen minne nicht denkbar gewesen, jedoch ist es unwahrscheinlich, Gewalt dieser Art auch realiter unterblieb, solange die Minnepraxis Anspruch auf Idealität erhob. Vielmehr verschweigen Lieder der Hohen Minne ein solches Fehlverhalten, das in Neidharts Bruch mit diesen Konventionen transparent gemacht wird. Wie im Mythos um Till Eulenspiegel wird auch hier der Gesellschaft, oder genauer der Hohen Minne als von Menschen betriebene Kunstform ein Spiegel vorgehalten, der zu rufen scheint: „Schau her, Hohe Minne, was du alles verschweigst und wie fatal deine Romantisierung sein kann!“ So liegt das Unschöne am Aufbruch der alten Minnepraxis vielmehr in der Sichtbarmachung immerwährender Phänomene, wenn auch diese vor dem literarischen Hintergrund des idealen Liebesdienstes der Hohen Minne einem Werteverfall gleichkommt. So ist die Deutung des Spiegelbruchs als Bruch mit den Konventionen und Normen der Hohen Minne, wie sie Ursula Schulze vornimmt, durchaus legitim. [Schulze 2018: 105] Trotz der Unterscheidung von Dichter und Sänger-Ich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die zur Lächerlichkeit stilisierte Anfälligkeit für Leidschilderungen des Sänger-Ichs erst durch einen neuen Grad an Sensibilität ermöglicht wird. Doch hat auch diese Medaille zwei Seiten: Die Sensitivität des Sänger-Ichs ist vor allem eine selbstzentrierte, seine Weltanschauung eine solipsistische, womit er sich in das bei Ovid begründete Narzisstentum eines jungen Egomanen einreiht. Diese Zuordnung wird auch durch die vom Sänger-Ich häufig vorgenommene Ästhetisierung untermauert, wie der Stellenwert von Oberflächlichkeiten wie der Kleidung aufzeigt. Zum anderen aber ist es möglich, anzunehmen, dass erst diese Sensibilität es erlaubt, Leid nicht einfach hinzunehmen, insbesondere dann, wenn es Personen betrifft, die in irgendeiner Beziehung zu ihm selbst stehen. Der dem Spiegelmotiv selbst schon innewohnende und sich in den Liedern verifizierende Narzissmustopos kann zwar nicht gänzlich nivelliert werden, jedoch gestattet die damit verbundene Zerbrechlichkeit einen Blick auf vorher verschwiegene Problematiken.
Funktion des Spiegels im Sommerlied 22
Formale Spiegelungsmotivik
Nicht nur verbalisiert, sondern auch zwischen den Zeilen birgt das Sommerlied 22 Spiegelungen, die eine neue Deutungsperspektive eröffnen. So ergibt eine formale Analyse des Liedes einen immergleichen, in jeder Strophe wiedergespiegelten Aufbau bezüglich Reimschema, Hebungen und Kadenzen, von dessen Konstanz nur eine Strophe abweicht, was weiter unten erläutert wird. Alle Strophen folgen dem Reimschema abbccded, wobei bis auf den männlichen umarmenden Reim d alle Verse weiblich enden. So wird die Parallelität der sich jeweils reimenden Verse durch die gleiche Kadenz erweitert. Mit Fokussierung auf die Kadenzen lässt sich außerdem festhalten, dass der erste männlich endende Vers d von zwei weiblichen Versen umrahmt wird, was jedoch in noch erheblicherem Maße umgekehrt für Vers e gilt, der von den beiden männlichen d-Versen regelrecht eingesperrt wird. So überrascht es nicht, dass Friederun in ihrer namentlichen Erwähnung in den Strophen zwei und sechs diese umstellte Position zukommt und der für Friederun als weibliche Figur bedrohliche, gar vernichtende Liedinhalt auch formal durch den Strophenbau wiedergespiegelt wird. Auch bezüglich der Hebungen liegt ein klares Muster vor: Der „alleinstehende“ Vers a hat stets drei Hebungen und weist durch dieselbe Anzahl an Hebungen eine Verbindung zum ersten b-Vers auf. Der zweite Vers des b-Reimes ist mit fünf Hebungen der längste. Auf diese drei über Reim und Hebungen Parallelitäten aufweisende Verse folgt der c-Paarreim mit derselben Anzahl an Hebungen in beiden Versen, nämlich drei. Dieser Paarreim weist also weder zu seinem „Vorgängervers“ Ähnlichkeiten bezüglich Hebungen und Reim auf, noch zum darauf folgenden ersten d-Vers, von dem sich c sogar zusätzlich hinsichtlich der Kadenz unterscheidet. Somit kann der in der Strophenmitte befindliche Paarreim als Achse betrachtet werden, bevor sich an ihn der erste Vers des umarmenden d-Reimes mit zwei Hebungen anschließt. Diese Zahl wird im letzten Vers verdoppelt, sodass jede Strophe mit vier Hebungen endet, bevor der wie a alleinstehende Vers e mit – ebenfalls wie a – drei Hebungen in seine Zwischenposition eingefügt ist. Während also die drei Verse vor dem als Achse zu betrachtenden Paarreim c in gewisser Weise durch Reim, Kadenz und Hebungszahl miteinander verbunden sind, zeichnet die drei Verse nach dieser Achse eine Opposition aus, in der der weibliche e-Reim hinsichtlich aller Vergleichspunkte den anderen beiden Versen unähnlich ebendiesen Versen gegenübersteht und dabei quantitativ unterliegt. Mit diesem Wissen kann der c-Paarreim durchaus als Spiegel verstanden werden, der die Charakteristika des ersten Teils spiegelverkehrt wie eine Art Negativ in der Fotografie im zweiten Teil wiedergibt. Auch dieses Muster eignet einer inhaltlichen Kongruenz, sind es doch auch im Lied zwei Oppositionen, die sich in den Augen des Sänger-Ichs gegenüber stehen: Friederun und das mit ihr leidende Sänger-Ich, wie der erste Strophenteil verbunden durch gleiche Werte, und Engelmar als die Personifizierung allen Bösen und ohne charakteristische Überschneidungen zu ebendiesen Personen, sondern vielmehr als grober Bedrängender, gleichsam dem zweiten Strophenteil. Unterbrochen wird dieses Muster lediglich in Strophe VIe, wo interessanterweise nicht etwa Friederuns durchaus als Vergewaltigung zu deutendes Leid selbst fokussiert wird, sondern die Herkunft und Beschreibung des entrissenen Spiegels als Auslöser für ein schweres Leid des Sänger-Ichs. Die beiden b-Verse sind in dieser Strophe jeweils um eine Hebung verkürzt sind, was besonders im ersten b-Vers einen hinkenden Eindruck macht. Dies kann unter dem Aspekt gedeutet werden, dass der postulierte Unwille des Sänger-Ichs eine Betonung erfährt, in dem wenigstens ein Teil seiner Auskunft in marginalisierter Form vonstattengeht. Man kann sich gut vorstellen, wie Neidhart diesen Vers etwas verdruckst in leiserem Tonfall oder zwischen den Zähnen hervorgebracht haben könnte. Die so ungern gegebene Auskunft selbst betont genau die inhaltlich wichtigen Punkte, nämlich dass es sich um die Spiegelschnur (zwei Hebungen) handelt, die weit her (eine Hebung) ist, nämlich aus Iberne (eine Hebung). Nach diesem „Geständnis“ jedoch kann das Sänger-Ich erleichtert sein gewohntes formales Muster wieder aufnehmen und es ist eine weitere Spiegelung eines Inhalts auf formaler Ebene gegeben.
Spiegel auf inhaltlicher Ebene
Weibliche Attribuierung
Vor dem Hintergrund der Frau als „schönes Geschlecht“ wird mit dem Spiegel als Attribut auch ein solches Rollenverständnis reproduziert, nach dem Aussehen und im Idealfall Schönheit der Trägerin den Fokus ihrer Betrachtung als Person bilden: Ist eine Frau schön und sich der Notwendigkeit dieses Details in ihrer Umwelt bewusst, so ist sie es wert, umworben zu werden. Sie wird dadurch als eine Vertreterin ihres als schwächer betrachteten Geschlechts ausgezeichnet. Ebendieser Schwäche und Zerbrechlichkeit wird im Sommerlied 22 auch durch die mehrfach aufgegriffene Puppenmetaphorik Rechnung getragen. So birgt der Vergleich Vriderûn als ein tocke in Strophe VI), der in VId) nochmals mittels tockenwiegel aufgegriffen wird, viel Interpretationspotenzial: Einerseits mutet es in dieser Zeit wohl als Kompliment an, eine Frau mit einer Puppe zu vergleichen, bedenkt man nur die Schönheit und das Zarte, das einem solchen Spielzeug zugeschrieben wird. Gleichzeitig ist es ebendiese zweite Konnotation des Objekts, das wehrlos und unterlegen den Händen von Männern ausgeliefert ist und darin mündet, dass ihr die Puppenwiege entrissen wird. Dies stellt auch ein Indiz für die Vergewaltigung Friederuns dar, da durch Engelmars Tat nach klassischem Märchenmotiv die Mädchenzeit Friederuns, die Zeit in der sie womöglich selbst exemplarisch mit tatsächlichen Puppen gespielt hat vorbei ist und sie durch diese Art unheilvollen Initiationsrituals nun eine Frau ist. So ist der Puppenvergleich Neidharts ambivalent und von höchster Brisanz. Ähnliches gilt für die generelle Metapher des Spiegelbruchs bzw. -raubs, der in so vielen Liedern zitiert und besonders im Sommerlied 22 entfaltet wird: ir spiegel von der sîten brach ( Strophe VIb, 8. Ein Spiegel kann viele Konnotationen erfahren, ist jedoch von einem so wertvollen wie diesen hier die Rede, der [] von helfenbeine [was], /wæhe und ergraben kleine ( VId), so liegt die Vermutung nahe, es handle sich dabei auch um das Kostbarste, was ein Bauernmädchen wie Friederun besitzen kann: ihren Körper und ihre selbstbestimmte Unversehrtheit. Ein Bruch und gar durch die dafür nötige Entwendung, bzw. ein Raub desselben bedeutet ein Verbrechen gegen dieses höchste Gut. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es meist Typen sind, die Neidhart – wenn auch teils individueller und persönlicher gestaltet – beschreibt, wird hier ein für Neidhart so typsicher Tabubruch deutlich, indem er derartige Verbrechen thematisiert und diesen durch besagte Typisierung den Einzelfallcharakter nimmt. Spiegel und Puppe teilen zum einen also ihr Dasein als Gegenstand, zum anderen die Konnotation mit weiblichen Figuren – genauer im Falle der Puppe – mit jungen Mädchen, was wieder auf deren Schutzlosigkeit rekurriert. Ein weiteres Indiz für die Betonung der einer vor allem durch das Attribut des Spiegels ausgezeichneter jungen Frau angetanen Gewalt liefert die Intertextualität in Strophe II: rôsen ûf der heide stellt einen Bezug zu Walthers von der Vogelweide Under der linden her, wenn auch nicht in demselben Wortlaut. Ergänzt wird dies noch durch die Nennung der Blumen und der Wiese. So wird die Intention des Sänger-Ichs, eine gegenseitige Liebe mit Friederun zu erreichen, klar herausgestellt und kontrastiert zusätzlich den weiteren Liedverlauf, in dem Engelmar mit einer diametral gegenüberliegenden Intention eher dem Modell folgt, das Goethe einige Jahrhunderte später in seinem Röslein auf der Heide niederschreiben wird. Durch die Betrachtung der Zusammenhänge zwischen übergeordnetem Spiegel und damit konnotierter Zerbrechlichkeit, Puppenmetaphorik und Gewalt wird also deutlich, wie sehr der Spiegel auch auf inhaltlicher Ebene und nicht lediglich als formale Übertragung in Form von Spiegelungen die Schutzlosigkeit bis hin zur Vergewaltigung einer Frau – nämlich Friederuns als Trägerin jenes Spiegels – aufzeigt und verstärkt.
Eros und Thanatos
Was schon unter Weibliche Attribuierung anklingt ist der in der Literatur so produktive Zusammenhang zwischen Liebe und Gewalt, zweiteres häufig in Form des Todes. Eine sehr frühe Textgrundlage schuf in der Antike Ovid, indem er den Mythos um den schönen und letztlich dem Tode geweihten Schönling Narziss in seinen Metamorphosen niederschrieb. Zentral für den Frühtod Narziss` ist dessen Spiegelung in einer Quelle, dir auf ihn selbst so aphrodisierend wirkt, dass er schließlich in dieser Quelle – mit anderen Worten: in diesem Spiegel – ertrinkt. Querbezüge innerhalb der Konstellation Liebe/Spiegel/Tod sind kein Einzelfall und so bedient sich beispielsweise auch Leopold von Andrian knapp zwei Jahrtausende später in seinem Garten der Erkenntnis desselben Schemas, sodass die Vermutung einer zwischenzeitliche Einbettung dieses Motivs zu Zeiten Neidharts legitim scheint. Zeigt schon der Aufbau des Sommerlieds 22 Spiegelungen, die die Bedeutungsnuancen des Spiegels auf inhaltlicher Ebene untermauern, an deren Höhepunkt der Spiegelraub als Akt der Gewalt und diminuierte Form des Todestops steht, so pervertiert Neidhart die dritte Komponente des eben aufgestellten Schemas: Liebe, die in Verbindung mit dem Spiegel klassischerweise das Übel auslösen sollte, wird hier zu einer rein körperlichen Begierde degradiert, der Engelmar verfällt. Durch diese Grenzüberschreitung wird jegliche sonst vielleicht ermöglichte, wenn auch tragische, Romantik eingebüßt. Die geschieht zum einen durch die Kontrastierung des einseitigen Sexualtriebs Engelmars zum zarten Charakter der Liebe in der Hohen Minne, zum anderen durch die Modifikation des schon lange produktiven Schemas Liebe/Spiegel/Tod zu Sexuelles Verlangen/Spiegel/Tod (in Form des Todes der weiblichen Unversehrtheit und Selbstbestimmung). Trat Neidhart doch vor der höheren, gebildeten Schicht auf, so kann vermutet werden, dass sich sein Publikum dieser in zweierlei Hinsicht pervertierten Konstellation bewusst war, zumal sein Tabubruch vor allem im Vergleich zur in den Köpfen seiner Zuschauer*innen präsenten Hohen Minne ein so typisches Merkmal seines Œuvres ist. Das Bedeutungsspektrum des Spiegels als Weiblichkeit und damit zusammenhängender Schutzlosigkeit wird also um die Komponenten der Gewalt, insbesondere durch Pervertierung bekannter Muster, erweitert. Vor dem Hintergrund des beim Publikum noch aus der Hohen Minne bekannten Ideals der Liebe als etwas Zartes, als ein Dienst, den ein Ritter seiner Angebeteten verrichtet, bergen die Konnotationen des Spiegelraubs eine beinahe surreale Monströsität: Engelmar unterlässt sämtliche Versuche eines Liebedienstes und richtet sein Handeln lediglich nach dem einen Ziel – nämlich der Erfüllung seiner Begierden - aus. Den Jägercharakter, den Engelmar dabei einnimmt, fällt besonders in seiner lauernden Haltung in VIc auf:
Daz ist Friderûne |
ein langer werndiu swære |
von Engelmâre dem tœrschen tanzprüevære, |
daz er ir torste lâgen. |
Indem die Opposition zwischen dem von seinen Begierden geleiteten Engelmar und dessen Opfer Friederun durch lâgen ausgedrückt wird, also einem Zustand, der nur einer beteiligten Person bewust ist, die somt eine höhere Machtposition einnimmt, wird Friederun zu einer Beute stilisiert, die letzten Endes nur in die Falle ihres Jägers tappen kann. Ebendiese Falle wird noch auswegloser, führt man sich die räumliche Ausgesatltung einer Tür, die keine Flucht nach links oder rechts zulässt, vor Augen. Durch die Eliminierung von Fluchtwegen, denn auch ein Entwischen in die Richtung, aus der Friederun gekommen sein wird, ist durch die auch in anderen Liedern geschilderte Grobheit und Kraft Engelmars undenkbar. Doch bleibt die Problematik nicht allein ein unbeobachterer Konflikt zwischen Friederun und Engelmar, schildert das Sänger-Ich uns doch schließlich erst diese Situation und begibt sich damit in ein teils narratologisch bedingtes Dilemma: Scheinbar determiniert ist bzw. war es nicht in der Lage, einzuschreiten, jedoch wurde es offenkundig Zeuge zumindest der Anfänge dieses Übergriffs. Anstatt allerdings seinen Posten als stiller Beobachter zu verlassen, rät das Sänger-Ich nur: "Friderûn! fliuch gein Riuwental!" und reproduziert die schon angeklungene Machtlosigkeit Friederuns, in deren Kosmos eine Konfrontation oder gar eine Gegenwehr, eventuell unterstützt durch Dritte, unmöglich ist. Es ist diese erneut herausgearbeitete Determiniertheit einer Frau, wie sie schon durch die Bezeichnung tocke hervorgeht, die den Grundtenor des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Friederun als Opferrole und Engelmar als animalisch gezeichneter Täter bildet. In der Abwägung "Erzählposten" vs. "Retter" priorisiert das Sänger-Ich ersteres. Es ist unklar, ob es der Übermacht Engelmars, möglicherweise im Bund mit anderen dörpern, unterlegen gewesen wäre, jedoch steht der nicht einmal unternommene Versuch, das Unheil abzuwenden, im Kontrast zur ansonsten propagandierten moralischen Überlegenheit des Sänger-Ichs, sodass die Möglichkeit naheliegt, sein aus dem Spiegelraubkomplex resultierendes Leid basiere zumindest teilweise auch auf einem schlechten Gewissen, gehen seine moralische Anforderungen mit seinen Taten in realiter an dieser Stelle doch nicht d`accord. Hier wäre vernunftgestütztes Handeln aus eigener Reflexion resultierend vonnöten, denn die Hohe Minne, die das Sänger-Ich den liebslustigen Gebärden der dörper überordnet - wenngleich seine Liebesdienste auch von Schietern geprägt sind -, liefert keinen Verhaltenscodex für einen solchen Regelbruch, stellt er doch ein Tabu dar. Diese Feststellung korreliert mit der bereits angebotenen Deutung der Kritik an der Praxis des Hohen Sangs. Der im Mikrokosmos des Sommerliedes 22 aufgezeigter Werteverlust findet sein Pendant im Makrokosmos des gesamten Œuvres Neidharts, bedenkt man den allgemeinen Sittenverfall, dem die von Neidhart gezeichneten Figuren unterliegen und dessen Konsequenz schließlich das Scheitern der nur in einem moralisch gestärkten Umfeld möglichen Minnepraxis ist.
Literaturverzeichnis
<HarvardReferences /> [*Hennig 2014] Hennig, Beate: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 6., Berlin/ Boston 2014. <HarvardReferences /> [*Laude 2007] Laude, Corinna: Walthers „Enzwischen“ und Neidharts Spiegelraub. Beobachtungen zur poetologischen Funktion von Leerstellen im Minnesang, in: Der mittelalterliche und der neuzeitliche Walther. Beiträge zu Motivik, Poetik, Überlieferungsgeschichte und Rezeption, hg. von Thomas Bein, Frankfurt am Main u.a. 2007 (Walther-Studien 5), S. 213-232. <HarvardReferences /> [*Lienert 1989] Lienert, Elisabeth: Spiegelraub und rote Stiefel. Selbstzitate in Neidharts Liedern, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 1989, S. 12f. <HarvardReferences /> [*Ruh 1984] Ruh, Kurt: Neidharts Lieder. Eine Beschreibung des Typus, in: Kleine Schriften. 1. Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters, 1984, S. 107-128. <HarvardReferences /> [*Ovid 2017] Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In: Niklas Holzberg (Hg.): Ovid Metamorphosen. Berlin/Boston 2017. <HarvardReferences /> [*Schulze 2018] Schulze, Ursula: Grundthemen der Lieder Neidharts, in: Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch, hg. von Margarete Springeth und Franz Viktor Spechtler, Berlin/Boston 2018, S. 95-116.