Antikenrezeption im Mittelalter
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Überlieferungsgeschichte der Werke antiker Dichter und mit der Frage, wie und auf welche Weise sie von der Spätantike bis ins Mittelalter hinein rezipiert wurden.
Relevanz antiker Dichtung für die Literatur des Mittelalters
Will man von antikem Geistesgut in der mittelalterlichen Literatur sprechen, so stellt sich bald die Frage, inwiefern antikes Geistesgut im Mittelalter überhaupt zugänglich war. Immerhin liegen beispielsweise zwischen Ovid, dem Verfasser der "Bibel der Heiden" (den Metamorphosen), und Gottfried von Straßburg knapp zwölf Jahrhunderte. Jahrhunderte dazu, in denen das Christentum den gesamten Okzident in Besitz nahm und es zu vermuten wäre, dass die "unreinen" Werke heidnischer Künstler keine gute Behandlung erfuhren.
Wie es allerdings dazu kam, dass die Alten überlebten und die römischen und griechischen Mythen bald sogar einen Stammplatz im klassischen Studium erhielten, ja, mehr noch, das Kunstschaffen und sogar die Politik der mittelalterlichen Gegenwart in entscheidender Weise prägen konnten, darüber will dieser Artikel (wenigstens ansatzweise) Aufschluss geben.
Wie wir aufgrund breit gefächerter, weit fortgeschrittener Forschung inzwischen wissen, fand im Mittelalter eine "kontinuierliche, wenngleich unterschiedlich intensive Aufnahme der Antike" [Erzgräber 1989: S. 21] statt. Selbst die großen lateinischen Kirchenväter traten "mit aller Entschiedenheit für das Festhalten an der klassischen Tradition, für eine weitere Verwertung der heidnischen Geistesschätze"[Bezold 1922: S. 3] ein, da sie "einen unablösbaren Bestandteil des sprachlichen und literarischen Stoffes bildete, ohne dessen Aneignung die internationale Kulturaufgabe der römischen Weltkirche sich nicht bewältigen ließ." [Bezold 1922: S. 2] Ein wirklicher "Bruch" findet sich in der Überlieferungsgeschichte also nicht, in dem Sinne, dass die antiken Werke einmal wirklich völlig verschwunden und dann wieder aufgetaucht worden wären (vgl. [Lienert 2001: S. 14]. Ihre Bewertung und Interpretation allerdings verlief keineswegs gleichbleibend.
Umgang mit Mythologie
Der Hauptgrund, weswegen die antike Literatur ihr Daseinsrecht in der Spätantike und im frühen Mittelalter überhaupt erst erkämpfen musste, war ihr heidnischer Hintergrund, waren ihre mythologischen Inhalte. Die eben erstarkte christliche Religion konnte der griechisch-römischen Götterwelt natürlich nicht den Status einer Lebenswirklichkeit lassen, den die antiken Werke ihr verliehen: Sie musste "unschädlich gemacht" werden und die Gläubigen vor der Verirrung in die Götzenanbetung bewahren. Mit dem Weiterticken der Weltuhr entwickelte sich allerdings ein Trend dahingehend, die Mythologie "im Dienst des Evangeliums nutzbar [zu] machen" [Bezold 1922: S. 4].
Zeitübergreifend lassen sich drei Arten des Umgangs mit antiker Mythologie finden:
Dämonisierung
Naheliegend war es natürlich, den ganzen heidnischen Götterhimmel als Nest voller Dämonen zu enttarnen, die die vom rechten, monotheistischen Glauben abgefallenen Menschen dazu verleitet hatten, ihnen Götzendienst zu leisten. Schon im Alten und Neuen Testament finden sich immer wieder Stellen, die die Götter anderer Völker auf diese Weise interpretieren (vgl. 5. Mose 32,17; Psalm 106,37; 1. Korinther 10,20+21; 1. Timotheus 4,1 [Luther 2008] uvm.).
Eine solche Deutung erlaubte die Zerstörung der übrig gebliebenen Opferstätten, das Verbot des Kultes und der Verehrung, und "[stieß die Götter] in eine Region [...][hinab], in der sie keineswegs mehr eine ausschließliche Herrenrolle spielen konnten" [Bezold 1922: S. 3]
Euphemerisierung
Die zweite Möglichkeit, den Göttermythen ihre Schärfe zu nehmen und sie für heidnische Polemik unbrauchbar zu machen, lag in ihrer Euphemerisierung, der "historische[n] Rationalisierung des Wunderbaren". Die Götter wurden als wichtige Staats- und Kulturträger gedeutet, als Ahnherren und Kriegshelden, die von den Dichtern besungen wurden. Um ihnen Ruhm über alle Zeitlichkeit hinauswachsen zu lassen, wurden sie, so die damalige Theorie, von den Poeten am Ende sogar in den Status von Göttern erhoben, als die sie dann von den folgenden Generationen verehrt wurden. Ein Beispiel dafür, in welch ausgeklügelter Weise die mythologischen Figuren nicht nur vermenschlicht, sondern auch noch in die Genealogien einer biblisch fundierten Geschichtsschreibung eingebaut wurden, ist die Weltchronik von Gotfried von Viterbo.
Friedrich von Bezold schreibt darüber:
- Nimrods ältester Sohn war Kres, nach dem die Insel Kreta benannt wurde; dann folgten Celius, Saturn und Jupiter. Trotz des (als historisch genommenen) Verbrechens an seinem Vater wird Jupiter mit der äußersten Rücksicht und Anerkennung behandelt. Er regierte in der von ihm erbauten Stadt Athen; dort verfaßte seine erste Gemahlin Niobe die ältesten Rechtsbücher, denn alles Recht und Gesetz, wie auch alle Philosophie und die sieben freien Künste nahmen ihren Ausgang von Jupiter. Dessen zweite Gemahlin Juno war die Mutter des Danaus, des Stammvaters der Griechen. [Bezold 1922: S. 25]
Besonders eigentümlich für dieser Art der Deutung antiker Mythologie ist die Tatsache, dass sie es erlaubt, den als Menschen gedeuteten Göttern ein hohes Maß an Ehre und Anerkennung entgegenzubringen. Bezold weist darauf hin, dass z.B. Jupiter auf diese Weise "auf Umwegen beinahe wieder in seine einstige Würde eines Vaters der Götter und Menschen eingesetzt wird."[Bezold 1922: S. 25-26]
Allegorisierung
Ein dritter Weg eröffnete sich in der allegorischen Auffassung und Erklärung der Götter und ihrer Mythen.
Die Allegorie (gr.: das Anderssagen) ist die "Umsetzung eines abstrakten Begriffs oder eines Gedankengangs in einen sinnlich wahrnehmbare Erscheinung, oft in Form der Personifikation".[Brockhaus 2006]
Die Figuren der Mythologie wurden also als Verbildlichungen aller möglichen Denkkonzepte aus Kunst, Philosophie und Naturwissenschaft erklärt. Ein schönes Beispiel für die spätantike, christliche Deutung Apollos und der neun Musen als Allegorie des menschlichen Stimmapparats findet sich bei Fabius Planciades Fulgentius;
In Meyers Enzyklopädischem Lexikon liest sich außerdem:
- Im M[ittel]A[lter] wird die A[llegorie] Grundlage der Interpretation religiöser, philosoph[ischer] und dichter[ischer] Texte: durch allegorisierende Moralisierung konnte z.B. auch Ovid zum Schulautor werden"[Meyer 1973]
Damit ist für uns die Überleitung zum nächsten Abschnitt gegeben, in dem das Interesse der Karriere der antiken Literatur im mittelalterlichen Schulbetrieb gelten wird.
Redekunst: Antike Werke als Lehrwerke
Die poetische Größe der antiken Werke konnte einfach nicht geleugnet werden. Das mussten auch die frühen christlichen Gelehrten bald einsehen und bemühten sich somit um eine Integration der heidnischen Kulturschätze in das christliche Denkuniversum. In der Spätantike finden wir die sogenannten drei "vatikanischen Mythographen" von denen vor allem dem dritten, der sich hinter dem Namen Albericus oder Albricus verbirgt, in dieser Hinsicht große Bedeutung zuzumessen ist. Er zeigt "das Bestreben, durch Allegorisierung und Rationalisierung der heidnischen Welt des Mythos einen Gedankeninhalt zuzusprechen, der sich mit den Grundwahrheiten des Christentums in einen wirklichen oder scheinbaren Einklang bringen lässt."[Bezold 1922: S. 15]
Und so füllt sich nach und nach das Curriculum des klerikalen Bildungswegs mit griechischen und lateinischen Werken sowie mit neueren Werken zu ihrer Auslegung. Eines davon, das dem "eisernen Bestand des kirchlichen Unterrichts einverleibt" wird[Bezold 1922: S. 4], ist die im 5. Jh. von dem Neuplatoniker Martianus Capella verfasste Vermählung Merkurs mit der Philologie, in der er, nach Friedrich Betzold, die "trockensten allegorischen Figuren" und den alten Olymp mit der gesamten homerischen Götterversammlung, "unberührt von jeder christlichen Kritik" [Bezold 1922: S. 4] auftreten lässt. In diesem Werk schildert er die Hochzeit Merkurs, des Gottes der Beredtsamkeit, mit der Philologie, also der Gelehrsamkeit. Ihr Brautgeschenk sind sieben Jungfrauen, die die Sieben Freien Künste darstellen.
Im weiteren Verlauf der Zeit lösten sich Wellen der proantikischen, humanistischen und bisweilen beinahe heidnischen Stimmung mit solchen strengster Rechtgläubigkeit und somit Verdammung alles Klassisch-Antiken ab; manchmal existierten sie auch nebeneinander oder lediglich geographisch auf unterschiedliche Zentren verteilt.
Ein Beispiel für ein zeitliches Biotop der klassischen Studien, in dem sie neu belebt und sorgfältig gepflegt wurden, ist die "Ägide der karolingischen Herrscher die 'Schulzeit' des Mittelalters". Wenn auch direkt darauf eine neue Welle eines "geradezu bildungsfindliche[n] Idealismus" all die Errungenschaften wieder zunichte zu machen drohte, so hatten die Ergebnisse dieser Studien doch einen Anfang gemacht, der "als Grundlage alles kommenden Weiterbauens selbst die schwersten äußere und inneren Hemmungen zu überwinden vermochte[...]." (alle Zitate[Bezold 1922: S. 12+13])
Denn vor allem die Lateiner: Cicero, Vergil, Lucrezius und ihre Dichterkollegen waren Vorbilder im Grammatik-, Rhethorik- und Dialektikunterricht des Triviums.
Aristotele's Topica had established itself by the end of the twelfth century as one of the major texts on dialectic [Stevens 1990: S. 70]
Horace's Ars Poetica which provided medieval commentators with an enduring and authoritative definition of the function of poetry:
- Aut prodesse volunt aut delectare poetae
- aut simul et iucunda et idonea dicere vitae
- [...]
- omne tulit punctum qui miscuiu utile dulci,
- lectorem delectando pariterque monendo. (Ars Poetica V. 333-334+343-345, zitiert nach [Stevens 1990: S. 71]
(Dichter wollen entweder Gutes bewirken oder erfreuen, oder zugleich Erfreuliches und Nützliches über das Leben sagen (...) Jeden Punkt, d.h. allen Beifall hat gewonnen, wer das Nützliche und das Süße vermengt, indem er den Leser gleichermaßen erfreut und ermahnt.)
Discussing the Roman philosopher Seneca, John notes approvingly that he assembles authoritative ideas and uses brilliantly ornamented language, so that he cannot displease those who love either virtue or eloquence
(:sententias colligit, ornatu uerborum splendet, ut eis displicere non possit qui aut uirtutem amant aut eloquentiam.) [Stevens 1990: S. 74]
In combining eloquence and virtue, rhetorical skill and validity of invention, Seneca establishes himself as a major classic who can be studied both with pleasure and with profit.[Stevens 1990: S. 74]
Sowieso: [Johannes von Salisbury] als wichtiger Fürsprecher der trivialen Bildung und der antiken Literatur. Bekanntestes Zitat in diesem Zusammenhang: v.Salisbury zitiert Bernhard von Chartres im Metalogicon
Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea
(Bernhard von Chartres sagte, wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.“ – Johannes von Salisbury: Metalogicon 3,4,46-50
"the skills needed for the composition of literary works are learned initially from the study of Latin texts."[Stevens 1990: S. 77]
Ciceros Traktat De officiis als Vorlage für das moralphilosophische Moralium dogma philosophorum aus dem 12. Jhd [Stevens 1990: S. 79]
"Aber weder (...) Verdammungsurteile noch die Ungebührlichkeiten gewisser Dichterlinge vermochten den fest gefügten Bau des klerikalen Unterrichtswesens wirklich zu erschüttern. Man verlangte eben unweigerlich den guten Stil." [Bezold 1922: S. 18]
- Karolingische Bildungsreform:
- Historiographie des 12. Jahrhunderts: Genealogien und Trojamode
"Einige Zeit später stürzte sich eine neue Generation staufischer Geschichtsschreiber mit einem durch keine kritischen Bedenken gehemmten Freudigkeit auf den Reichtum einer Welt von Fabeln, um die Gegenwart ihrer Dynastie mit einem bisher nicht gekannten Nimbus zu umgeben." [Bezold 1922: S. 22]
"Die antiken Stammbäume machten Schule." [Bezold 1922: S. 23]
Fazit
Literatur
<HarvardReferences />
- [*Brockhaus 2006] Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. völlig neu bearb., Leipzig, Mannheim 2006. Bd. 1: A - Anat, S. 546
Online verfügbar unter http://www.library.ualberta.ca/databases/databaseinfo/index.cfm?ID=3705.
- [*Meyer 1973] Allegorese: Meyers enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, 9. vollst. überarb. Aufl., Mannheim 1981, Bd. 1: A- Alu, S. 742
Online verfügbar unter http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb37491326n.
- [*Bezold 1922] Bezold, Friedrich von (1922): Das Fortleben der antiken Gotter im mittelalterlichen Humanismus. Bonn, Leipzig: Schroeder.
- [*Lienert 2001] Lienert, Elisabeth: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39) .
- [*Luther 2008] Luther, Martin (2008): Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers; [Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984]. Standardausg., durchges. Ausg. in neuer Rechtschreibung, [Nachdr.]. Stuttgart: Dt. Bibelges.
- [*Erzgräber 1989] Erzgräber, Willi (Hg.) (1989): Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. [das zweite interdisziplinäre Symposium …, das vom 15. bis 19. März 1987 in Freiburg i. Br. stattfand …]. Sigmaringen: Thorbecke (Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, 2).
- [*Stevens 1990] Stevens, Adrian: The Renewal of the Classic: Aspects of Rhetorical and Dialectical Composition in Gottfried's Tristan. In: Gottfried von Strassburg and the Medieval Tristan Legend. Papers from an Anglo-North American Symposium. Cambridge 1990 (= Arthurian Studies, 23; Publications of the Institute of Germanic Studies, 44), S. 67–89.