Wahrnehmung und Erkenntnis (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Im Parzival Wolframs von Eschenbach begegnet dem Leser auf verschiedenen Ebenen ein immer wiederkehrendes, psychologisches Problem: das Problem der Wahrnehmung und Erkenntnis. In der Blutstropfenszene führt dieses Problem zu einer Akkumulation von Wahrnehmungsstörungen, die zu einem gewaltvollen Zusammenprall Parzivals mit Segramors und Keye führen. Otto Neudeck prägte dafür den Begriff der "statusbedingte[n] Beschränkung der Wahrnehmung" [Neudeck 2007: S. 277], die er als Teil Wolframs "innovativer Ästhetik" sieht. Diese Ästhetik nun wirkt sich auf verschiedenen Ebenen aus und fördert nicht zuletzt das Reflexionsvermögen der Zuhörer. [Neudeck 2007: Vgl. S. 365] Der renommierte Parzival-Forscher Joachim Bumke erkennt diesen Konnex ebenfalls und bemerkt, dass "auch die Zuhörer in den Wahrnehmungs-und Erkenntnisprozess mit einbezogen" [Bumke 2001: S. 364] werden. Schlussendlich bleibt fraglich ob alle Figuren, Parzival eingenommen, zu einer finalen Erkenntnis vordringen, genauso wie es fraglich bleibt, ob alle Rezipienten Wolframs poetologischen Kniffen folgen können.
In zwei Schritten sollen nun die Probleme der Wahrnehmung und Erkenntnis näher vorgestellt und interpretiert werden.

Wahrnehmungsproblematik auf der Figurenebene

Parzival

Schon in Parzivals Jugend fällt auf, dass er über eine ausgeprägte sinnliche Wahrnehmung verfügt, die ihn zu einem exzellenten Jäger machen. Die Vögel im Wald sind eine begehrte Beute für ihn, doch wenn er sie erschießt, kommen ihm die Tränen (Vgl. 118,5ff [1]). Joachim Bumke sieht in der Figur Parzivals ein Exemplum für die zeitgenössische Wahrnehmungstheorie. Mehrere psychologische Abhandlungen des Mittelalters beschreiben die Erkenntnis als einen mehrstufigen Prozess. "Er beginnt mit der sinnlichen Wahrnehmung [...], die von den inneren Sinnen [...] aufgenommen, verarbeitet und an die ratio weitergeleitet wird". [Bumke 2001: S. 356] Bumke konstatiert bei Parzival, dass seine Sinneswahrnehmung zwar funktioniert aber die Weiterleitung an die ratio nicht. Er ist damit auf dem Entwicklungsstand eines Tieres, das über eine "begehrende und die verabscheuende Seelenkraft" [Bumke 2001, S. 358] verfügt. Von seinem Erbe, der art ist er zusätzlich geprägt - die mütterliche triuwe (vgö. 451,7) (Treue, Empathie) aber auch die väterliche Schönheit und wilde Kampfeskraft zeichnen ihn aus (vgl. 118,28). Dieses Erbe begleitet Parzival auf seinem späteren Weg, "der als Bewährung und und Bewahrung dieses doppelten und zwiespältigen Erbes gelesen werden kann". [Bumke 2001: S. 83]
Mit dem Wissen über die zeitgenössische Erkenntnispsychologie lassen sich auch mehrere Handlungsweisen Parzivals erklären. Er hat ein unheimliches Begehren nach der Rüstung Ithers (148,15) und als er sie erworben hat, lässt er ihn kaltblütig liegen. Andererseits hat er Mitleid mit seinen Mitmenschen. Wenn beispielsweise Cunnewâre geschlagen wird, verspürt er tiefes Mitleid (153,17). Als Parzival auf Munsalvaesche ist, nimmt er alles um ihn herum war (239,8f), die Auswertung seiner Wahrnehmung findet jedoch nicht statt. Auffällig ist, dass beide Lehrer Parzivals, Gurnemanz und Trevrizent auf seine Sinne Bezug nehmen (171,22-24; 488,26).
In der Psychologie des Mittelalters gibt es noch ein weiteres Modell der Wahrnehmung und Erkenntnis, das der "inneren Schau". Bumke bemerkt dazu, dass dieser Lehre zufolge "Licht und Liebe die beiden wichtigsten Faktoren [sind], die eine geistige Erkenntnis ermöglichen". [Bumke 2001: S. 362] Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die einprägsame Szene mit Parzival und Condwirâmurs erklären. Parzival erkennt in seinem Herzen die Schönheit und Liebe zu Condwîramurs, was ihn daraufhin verstummen lässt.


der gast gedâht, ich sage iu wie. Was dem Gast im Sinn herumging -
'Lîâze ist dort, Lîâze ist hie. ich sag es euch: >Lîâze ist weit fort, Lîâze ist hier.
mir wil got sorge mâzen: Gott will meine Schmerzen nach ihr lindern,
nu sihe ich Lîâzen ich sehe jetzt Lîâze vor mir,
des werden Gurnemanz kint.' das Kind des edlen Gurnemanz.<
Liâzen schoene was ein wint Die Schönheit der Liaze war nur ein Wind
gein der meide diu hie saz, vor dem Mädchen das hier saß,
an der gotes wunsches niht verganz an ihr hatte Gott mit nichts gespart

188, 1-8

Während Parzivals Aufenthalt auf Pelrapeire spielt auch das Symbol des Lichts eine große Rolle. Als Condwîramurs nachts an sein Bett tritt, war "von kerzen lieht alsam der tag [...] vor sîner slâfstat" (192,29f).
Die "innere Schau" als Auslöser wahrer Erkenntnis wird in der Blutstropfenszene zum zentralen Element (282,20ff). Parzival wird von den Blutstropfen in den Bann gezogen, die ihn dann auf seine zwei wichtigen Ziele hinweisen: "wâre minne" (wahre Liebe) zu Condwîramurs und "sîne gedanke umben grâl" (seine Gedanken um den Gral) (296,5).

Ist Erkenntnis möglich?

Grundsätzlich sind in der Dichtung Wolframs zwei Ebenen zu unterscheiden: Die Ebene der Figuren und die des Erzählers. Für den Helden Parzival, der unter der Last seiner "tumpheit" zu leiden hat, ergibt sich wahre Erkenntnis nur aus der schrittweisen Aufhellung der Verwandtschaftsverhältnisse. In der ersten Begegnung mit Sigune eröffnet sie ihm seine Herkunft (vgl. 140, 22ff). Durch Cundrîe erfahren er und die Ritter der Tafelrunde, dass er der Familie des Gralskönigs angehört (vgl. 314, 23ff). Trevrizent schließlich erklärt ihm, dass er auch mit Ither verwandt ist - Parzival erkennt hier also, dass er einen Verwandten getötet hat (vgl. 499, 13).
Die Blutstropfenszene dient im Parzival als Paradebeispiel, die Diskrepanz der Erkenntnis zwischen Figuren- und Erzählerebene deutlich zu machen. Die Szene wird eingeleitet durch den Knappen Cunnewâres, der Parzival entdeckt (vgl. 283, 24-284, 7). Dieser ist in seiner Erkenntnisfähigkeit gestört, da er allein das Symbol der aufgerichteten Lanze als Aufruf zum Kampf interpretiert und die Person Parzivals dahinter verkennt. Der Erzähler jedoch teilt den Rezipienten diese gestörte Erkenntnis mit und setzt sie damit auf eine höhere Ebene. In der Folge treffen die beiden Artusritter Segramors und Keye auf Parzival und scheitern beide auch an ihrer defizitären Erkenntnis. (287,21-288,28, sowie 295,1-30).

Diese Diskrepanz legt den Schluss nahe, dass der Erzähler bewusst mit der Erkenntnisfähigkeit seiner Figuren spielt und damit auf einen aktuellen Diskurs im Mittelalter verweist. Es ging dabei "um die Grenzen der menschlichen Erkenntisfähigkeit". [Bumke 2001: S. 365] Wolfram erscheint so nun einmal mehr als innovativer Autor, der ein komplexes poetologisches Konzept etabliert hat und dies an der Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit seiner Figuren abarbeitet. Dies erfordert eine große Aufmerksamkeit seiner Rezipienten, die dadurch ebenfalls einen Erkenntnisprozess beschreiten.  



Verweise

  1. Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.

Forschungsliteratur

<HarvardReferences />


[*Bumke 2000] Bumke, Joachim: Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Text und Kultur: mittelalterliche Literatur 1150 - 1450 (DFG-Symposion 2000), hg. v. Ursula Peters, Stuttgart/Weimar 2001, S. 355-370.

[*Bumke 2001] Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im Schnee: über Wahrnehmung und Erkenntnis im "Parzival" Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001.

[*Neudeck 2007] Neudeck, Otto: Der verwehrte Blick auf die Oberfläche. Zum Konnex von Wahrnehmung und ritterlicher Rüstung in Wolframs Parzival, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, Bd. 57,1 (2007), hg. v. Renate Stauf, Heidelberg 2007, S. 275-286.