Körperlichkeit (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)

Aus MediaeWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Profilierungen des Körpers spielen im Frauendienst von Ulrich von Liechtenstein eine nicht geringe Rolle: "Ulrichs"[1] Körper ist immer wieder aufs Neue blockiert oder deformiert und wird so zu einem, wie Christian Kiening es ausdrückt, 'textualisierten Körper'.[Kiening 1998:223] Dieser fungiert als Zeichen eines unbedingten Minnedienstes und übermittelt sowohl Botschaften als auch Treuebeweise.[Kiening 1998:223] Wichtig für die Charakterisierung von Körperlichkeit im Frauendienst sind aber auch diejenigen Szenen, in denen es um nur scheinbare, indirekte Körperlichkeit geht, wie beispielsweise in der Waschwasserszene oder beim Versenden des Büchleins.

Beziehung von historischem Körper und Protagonisten-Ich

Der Frauendienst von Ulrich von Liechtenstein, welcher ein steirischer Ministerialer[2], Truchsess[3] und Landrichter war, gilt in der Forschung als eine der ersten Ich-Erzählungen in deutscher Sprache.[Kiening 1998: 214f.] Sowohl autobiografische als auch fiktionale Elemente sind in diesem Werk vorhanden. Die, für autobiographisches Schreiben konstitutive, Nicht-Fiktionalität ist allerdings zweifelhaft: Das hier artikulierte Ich entspricht offensichtlich nicht dem, das wir aus neuzeitlichen Autobiographien kennen. Zwar trägt das Protagonisten-Ich den Namen "Ulrich von Liechtenstein"; selbst nennt er sich allerdings nie so und zudem teilt er nur vereinzelte Elemente der historischen Konstellation mit dem steirischen Ministerialen Ulrich von Liechtenstein. Das Protagonisten-Ich "Ulrich von Liechtenstein" steht also offensichtlich in einer Verweisbeziehung zu der historischen, die außerhalb des Textes steht.[Kiening 1998:214f.] Diese Beziehung dürfte, so Kiening weiter, ihren Reiz aus der Spannung von Übereinstimmungen und Differenzen bezogen haben. Doch diese Spannung sei kaum rekonstruierbar, da literarische und außerliterarische Biographie sich nur punktuell berühren. Ob an dem historischen, also dem tatsächlich vorhandenen, Körper des Autors wirklich eine Hasenscharte wegoperiert wurde oder gar das Fehlen eines Fingers zu verzeichnen war, bleibt offen.[Kiening 1998: 215]

Körperlichkeit in Form von Sexualität

"Ulrichs" Körper

Zu den prägnantesten Szenen, in denen "Ulrichs" Körper Mittelpunkt der Handlung ist, zählen zum einen die Mundoperation, die das Ich vornehmen lässt und zu deren Folgen eine geschwollene Lippe, die stinkende grüne Salbe und der Ekel vor der Nahrungsaufnahme gehören. Das Abhacken eines Fingers, der im Turnier verletzt worden war und der der Dame als Beweis unbedingter Ergebenheit geschickt wird, der Aufenthalt unter Aussätzigen und die Einnahme eines Krautes, das Symptome der Leprakrankheit hervorruft, dienen ebenfalls dem Wunsch, der Dame nahezukommen. Die komischen und parodistischen Elemente dieser Szenen sind komplexer Bestandteil der Inszenierungen des Autor-Ichs, welches, so Kiening, Präsenz erzeuge und sich gleichzeitig distanziere. Das Ich "Ulrich" betreibt eine Art "Modellierung des Leibes"[Schmid 1988:195f.] sowie eine "Differenzierung von Identität durch die Zeichnung des eigenen Leibes".[Schmid 1988:195f.] Dies ermöglicht es ihm, sich von anderen abzusetzen; die körperlichen Extravaganzen bezeichnet Kiening deshalb als Strategien: Der Körper des Ichs im Frauendienst bildet nun nicht mehr nur eine konkrete Hülle des Abstrakten, als welche die Körper im höfischen Roman begegnen. Er steht als ein unhöfischer und exaltierter[4] Körper in einer Art Spannungsverhältnis zu den höfischen und disziplinierten. "Ulrich" gewinnt seine spezifisch diskursive Gestalt also gerade im Kontrast zu anderen und in der Negation.[Kiening 1998:220]

Indirekte Körperlichkeit im "Frauendienst"

Unter dem Aspekt der Körperlichkeit besitzt "Ulrichs" Minnegeschichte ihren Ausgangspunkt in einer Adoleszenzerfahrung, die aus gleichzeitiger Nähe und Unberührbarkeit besteht. In diesem Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein wird "Ulrich" durch verschiedene Situationen, die im Zusammenhang mit der vrowe stehen, geprägt. Kiening formuliert in diesem Absatz sehr treffend "Ulrichs" Situation: Er sagt, dass das Ich die Zeit zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr als kneht der frowe verbringt.[Kiening 1998:220] Doch "Ulrich" muss sich, aufgrund der höheren Stellung der Dame, mit Formen der mittelbaren Berührung begnügen.

Die Blumen

Als "imaginatives Relais"[Kiening 1998:220] zwischen zwei Körpern bringt "Ulrich" seiner Damen zu Beginn seines Minnedienstes Blumen. Die Tatsache, dass seine vrowe die Blumen berührt, nachdem er sie berührt hat, empfindet "Ulrich" als Verbindung zwischen den beiden Körpern. Die Blumen erfahren also eine Art Aufladung mit Körperlichkeit.

Die Blumen-Episode wird in Vers 24 des Frauendienstes beschrieben:

Mittelhochdeutscher Text [FD:24] __________ Neuhochdeutsche Übersetzung
Eines ofte mir geschach: __________ Bei ihr geschah mir eines oft:
swenne ich ihr schoener pluomen brach __________ Wenn ich die schönen Blumen brach
des sumers, so daz solde sin, __________ im Sommer, wie es sich gehört,
die truog ich sa der vrowen min. __________ da bracht' ich sie der Herrin mein.
nam si die in ir wize hant, __________ Nahm sie sie in die weiße Hand,
so wart mir freuden vil bekant; __________ dann freute ich mich ungemein
ich gedaht: da du si griffest an, __________ und dachte: Wo du sie gefaßt,
da han ich in alsam getan. __________ da hab ich es auch so getan.

Die Waschwasserszene

Der Keim der ambivalenten ersten Minnebeziehung, so Kiening, scheint in dieser Szene, in der Sehnsucht nach dem Körper des anderen, gelegt zu sein. "Ulrich" trinkt das Handwaschwasser der vrowe und partizipiert damit mittelbar am begehrten Körper der Dame. Er inkorporiert[5] ein Ersatzmittel, ein Substitut des anderen Körpers - dies stillt seine Liebessehnsucht immerhin für den Moment.[Kiening 1998:221] Diese Episode stellt Ulrich von Liechtenstein in Vers 25 dar:


Mittelhochdeutscher Text [FD:25] __________ Neuhochdeutsche Übersetzung
Min vreude war vil ofte groz, __________ Die Freude war oft riesengroß,
swenne ich kom, da man wazer goz __________ wenn ich hinkam und man da goß
der herzen lieben vrowen min __________ der herzenliebsten Herrin mein
uf ir vil wizen hendelin. __________ das Wasser auf die weißen Händ'.
daz wazer, da mit si sich twuoc, __________ Das Wasser, mit dem sie sich wusch,
verholn ich daz von danne truoc, __________ das trug ich heimlich von ihr weg
vor liebe ich ez gar uz tranc; __________ und trank es dann vor Liebe aus;
da von so wart min truren cranc. __________ das weckte meine Sehnsucht recht.

Die Büchlein und der Finger

"Ulrich" verwendet nicht nur seinen Körper als Einsatz im Minnedienst, sondern auch (teils sogar in ähnlicher Weise) Lieder, Briefe und Büchlein. Im ersten Büchlein, das "Ulrich" der Dame übersendet, kommt es sowohl zu einem Wechsel der Stimmen des Ich und des personifizierten Büchleins als auch zu einer Überlagerung zwischen Körper und Text.[Kiening 1998:223] Das Büchlein wird einerseits als menschlicher Körper vorgestellt, der fürchtet, auf Märtyrerart auf dem Rost verbrannt, zerschnitten und viergeteilt zu werden. (FD, 1. Büchlein, 122-131) Andererseits aber wird es als Text präsentiert, mit der Furcht davor, in einer verschlossener Schublade zu verkümmern. (FD, 1. Büchlein, 132-144) Das Büchlein fungiert als materielle "Übermittlungsinstanz von nicht materialisierbaren Begierden".[Kiening 1998:225] Es wird mit körperlicher Präsenz aufgeladen und gleichzeitig auch mit einem, auf den anderen Körper gerichteten, Verlangen. Einen weiteren Versuch, Nähe zur Dame herzustellen, unternimmt auch das zweite, von "Ulrich" versendete, Büchlein. In diesem Fall handelt es sich aber nicht nur um einen Text, der die Aufgabe hat, den Körper präsent zu machen, sondern um einen Teil des Körpers selbst. Ausgangspunkt hierfür ist die Fingerepisode, in der die Verletzung eines Fingers der rechten Hand während des Brixener Turniers beschrieben wird. Nachdem sich die Heilung als schwierig gestaltet, lässt "Ulrich" durch seinen Boten der vrowe mitteilen, er habe in ihrem Dienst einen Finger verloren. Nachdem diese aber erfährt, dass der Finger nicht verloren, sondern nur verkümmert ist, bezichtigt sie "Ulrich" der Lüge. Daraufhin lässt sich "Ulrich" den verletzten Finger abschlagen und übersendet ihn der Dame mit einem Büchlein, beide eingekleidet in kostbaren Samt. Der Finger dient dabei als Verschluss des Büchleins.


Mittelhochdeutscher Text [FD: 444-445] __________ Neuhochdeutsche Übersetzung
"Ich volge dirs gern, sit ich ez kan." __________ "Ich folg' dir gern, wenn ich es kann."
zehant ich tihten do began __________ Sofort fing ich zu dichten an
ein vil gefüege büechlin; __________ und schrieb ein nettes Büchlein ihr;
bi dem samt ich den vinger min __________ mit dem sandt' ich den Finger hin
hin da diu rine, süeze was. __________ wo diese Schöne, Edle war.
in einem samet als ein gras __________ In eine Seide so grün wie Gras
want man das büechel an der stat, __________ ward dieses Büchlein eingemacht,
ein goltsmit ich mir würken bat __________ ein Goldschmied macht mir sogleich
__________
zwei britelin von gold alda, __________ zwei Brettlein ganz aus reinem Gold,
dar in bant man daz büechel sa; __________ in die man dieses Büchlein band;
daz diu sperre solde sin; __________ als eine Schließe machte er
daz was also zwei hendelin __________ zwei kleine Hände auch aus Gold,
gemachet harte lobelich; __________ er formte sie ganz wunderbar;
den vinger dar in meisterlich __________ der Finger ward hineingelegt,
machte wir sa an der stat, __________
der bot mich urloubes bat. __________ der Bote nahm den Abschied dann.


Der Text des Büchleins verdeutlicht nun einerseits die "Zeichenhaftigkeit des Körperteils"[Kiening 1998:225f.], das die absolute Ergebenheit des Minnedieners bezeugen soll. Der Text aber versucht andererseits, bei der Dame ein schmerzvolles Empfinden des Verlustes zu erzeugen. Diese Amputation hat somit sowohl den Charakter der Wiedergutmachung[6] als auch des Opfers, da sie "eine Sakralisierung des vom Körper (ab)getrennten Stückes"[Kiening 1998:226] ermöglicht. Der Finger wird nun zu einem "Moment ständiger Präsenz"[Kiening 1998:226], da die Dame verspricht, den Finger in einer Lade als beständiges Zeichen der Erinnerung aufzubewahren.

Die Aussatzepisode

Nachdem "Ulrich" das Wohlwollen seiner vrowe durch die Venusfahrt erlangt hat, ist dennoch kein ausgeglichenes Verhältnis zur Minneherrin in Sicht. Erst mit dem elften Lied erlangt Ulrich schließlich die erneute Zuneigung seiner Umworbenen, sie lädt ihn ein und stellt ein Treffen in Aussicht. Doch das Treffen steht unter keinen guten Vorzeichen und schon zu Beginn zeichnet sich ab, was die Episode hauptsächlich kennzeichnen wird: "körperliches Leid, Verlust und Furcht, ja Todesangst."[Ackermann 2009:165] Die Minneherrin fordert von "Ulrich" den Aufenthalt unter den Aussätzigen, was die "Sinnlosigkeit ihrer Dienstansprüche"[Ackermann 2009:166] nochmals unterstreicht. Die Aussatzepisode und ihre Dimensionen stehen in einem radikalem Kontrast zum Anfang der Minnebeziehung: Während "Ulrich" zu Beginn des Minnedienstes (als Kind) Bilder des Beginns, Aufbruchs und der Verehrung für die Dame und ihren Körper aufrief (man denke an die Blumen, die Ulrich für seine Dame pflückt, und ihr Waschwasser, das er trinkt), finden sich im Gegensatz dazu am Ende des Dienstes Zeichen des Unreinen, des Verfalls, abgebildet am kranken Körper des Aussätzigen. [Ackermann 2009:266] Die Entwicklung des Minnedienstes und der Körper "Ulrichs" (und dessen Versehrung) korrespondieren also in gewisser Weise. Ohne selbst am Aussatz zu erkranken, muss "Ulrich" "von Ekel geplagt seinen Körper den Körpern der Kranken anpassen".[Ackermann 2009:266] Die körperlichen Symptome der Krankheit werden im Mittelalter normalerweise nicht detailliert beschrieben. Anders im Frauendienst: Hier kommen "die körperlichen Konsequenzen der Krankheit konkret zur Darstellung".[Ackermann 2009: 266] Die Urinepisode, die in direktem Zusammenhang zur Aussatzepisode steht, verstärkt den erniedrigenden Charakter. Auch hier geht es um Körperlichkeit: "Ulrich" wird von den Exkrementen eines anderen beschmutzt. Im nachfolgenden Handlungsablauf geht die Erniedrigung sogar noch weiter. "Ulrich" muss seine Verkleidung (die Bettlerkleider) ablegen, ist also nackt, was im Mittelalter mit dem Verlust von Identität gleichzustellen ist.

Fazit

Datei:Kreislauf.jpg
Kreislauf-Charakter von Blumen und Waschwasser

Die Szenen, in denen "Ulrich" seiner Dame Blumen überreicht und ihr Waschwasser trinkt, zeugen von einem Kreislauf-Charakter. "Ulrich" gibt seiner vrowe Blumen; als Gegenleistung "erhält" er ihr Waschwasser. Allerdings verschlechtert sich der Wert des Objekts, der zwischen den beiden Körpern wandert, metonymisch. Benutztes Waschwasser ist kaum eine akzeptable Gegenleistung für ein Blumengeschenk. Der ganze (erste) Minnedienst hat zum Ziel, die Nähe der Körper (wieder)herzustellen, welche durch den Kreislauf von Blumen und Waschwasser kurzzeitig vorhanden war. Doch der Versuch der Vereinigung mit dem begehrten Körper der Dame scheitert immer wieder, da der andere Körper stets nur in Substitutionen zugänglich wird.

Dennoch orientiert sich "Ulrichs" Körper, genau wie die räumlichen Bewegungen seines Ichs, hin zur Dame und wird von ihr terminiert. Sein Körper ist ein fast durchgängig fremdbestimmter, denn er ist hier nur ein Objekt, welches sich dem Willen und der Begierde fügen muss. Es wird zu einem Zeichen für die Unbedingtheit und Standhaftigkeit des Ichs - von diesen Eigenschaften berichtet man dann der Dame. Das Ich wird also tatsächlich zu einem Leibeigenen der Dame, denn sein Körper besitzt nur eine Existenzberechtigung, insoweit er der Dame gefällt.[Kiening 1998:222]


Primärliteratur

<HarvardReferences /> [*FD] Spechtler, Franz Viktor (Hg.): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen, 1987 (Mittelhochdeutscher Text)

  • Liechtenstein, Ulrich von: Frauendienst, übers. v. Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec, 2000


Einzelnachweise aus der Forschungsliteratur

<HarvardReferences /> [*Ackermann 2009] Ackermann, Christiane: Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im Parzival Wolframs von Eschenbach und im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, Köln/Weimar/Wien, 2009

[*Kiening 1998] Kiening, Christian: Der Autor als 'Leibeigener' der Dame - oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, in: Andersen, Elizabeth (Hg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter, Tübingen, 1998, S.211-238

[*Schmid 1988] Schmid, Elisabeth: Verstellung und Entstellung im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, in: Ebenbauer, Alfred; Knapp, Fritz Peter; Schwob, Anton (Hg.): Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark (Jahrbuch für Internationale Germanistik), Bern u.a., 1988, S.181-198

Anmerkungen

  1. Im Folgenden soll das Protagonisten-Ich Ulrich von Liechtenstein im Vergleich zum historischen Autor-Ich in Anführungszeichen gesetzt werden, um eine bessere Unterscheidung zu ermöglichen.
  2. Ulrich von Liechtenstein gehörte einem einflussreichen Ministerialengeschlecht an; Ministerialer (laut Duden): Angehöriger des Dienstadels im Mittelalter, Angehöriger eines Ministeriums.
  3. Truchsess (laut Duden): (im Mittelalter) Vorsteher der Hofverwaltung, der u. a. mit der Aufsicht über die Tafel beauftragt war
  4. exaltiert (laut Duden): künstlich übersteigert, überspannt
  5. inkorporieren (laut Duden): med. in den Körper eindringen lassen, angliedern
  6. Kiening weist auf Renate Hausners Auffassung hin, dass das Abhacken eines Fingers der Schwurhand als Strafe für Meineid galt und Ulrichs Amputation (als Folge der Lüge gegenüber der Dame) rechtssymbolischen Charakter hat.