Die Figur des Aussteigers aus der höfischen Welt im Parzival
In diesem Artikel werden die Aussteiger-Figuren im Parzival näher betrachtet. Die Merkmale, die einen Aussteiger als solchen kennzeichnen, der Grund ihres Aussteigens, sowie die Wertung des Erzählers und mögliche Auswirkungen und Ziele sollen dargestellt und analysiert werden.
Merkmale, die den Aussteiger charakterisieren
Eine Person, die aus einer Gesellschaft aussteigen möchte, muss zunächst Teil einer Gesellschaft sein. In diesem Artikel ist die Gesellschaft um die sich alles dreht, die höfische Welt mit ihren Vorstellungen und Künsten. Abgesehen von dem Grund, der das Aussteigen motiviert, ist es interessant zu sehen, ob die Entscheidung aus der Gesellschaft heraus zu treten bewusst oder erzwungenermaßen erfolgt. Um diese Überlegungen im Text zu betrachten, muss zunächst jedoch die Frage gestellt werden, welches die Merkmale sind, die jemanden als Teil einer Gesellschaft auszeichnen. Die Merkmale werden im nächsten Abschnitt genannt, werden aber nicht weiter ausgeführt, da es zu jedem dieser Merkmale Artikel gibt, die ausführlich auf ihre Natur, Bedeutung und Funktion eingehen.
Sowohl der höfische Mann, als auch die höfische Frau werden zunächst durch ihre Schönheit als Teil der höfischen Welt identifiziert. Zusätzlich tragen prächtige Kleidung und Schmuck dazu bei als höfisch erkannt zu werden. Genauso wichtig ist es aber auch Gemeinschaft mit anderen höfischen Männern und Frauen zu haben - zum Beispiel im Rahmen des Essens. Daher ist auch gutes und abwechslungsreiches Essen ein Merkmal der Zugehörigkeit zum höfischen Leben. Ein weiteres wichtiges Attribut des höfischen Menschen ist sein Reittier - gerade im Parzival sind die Tiere häufig ein Indiz für die Situation ihres Besitzers oder Begleiters. Diese Merkmale müssen nicht alle gleichzeitig auftreten, um einen Aussteiger als einen solchen zu identifizieren. Doch es treten meist mehrere gleichzeitig auf und werden noch durch ein letztes, selbstverständlich wirkendes Merkmal, den Aufenthaltsort der Figur(en) bekräftigt.
"Aussteiger" im Parzival
Trevrizent
Trevrizent lebt als Eremit in völliger Entsagung alles Höfischen. Dies wird durch die genaue Beschreibung der Nahrung verdeutlicht, die das genaue Gegenteil höfischer Prachtentfaltung und Nahrungsaufnahme ist, wie sie zum Beispiel am Artushof oder in der Gralsburg dargestellt wird. Außerdem wird auch seine Wohnstätte beschrieben, die die gleiche Funktion erfüllt: sie entspricht in keiner Art und Weise höfischen Normen. Gleichzeitig wird aber auch darauf verwiesen, dass er ein Ritter war und somit weiß, wie ein entsprechendes Leben auszusehen hat und nicht aus Unwissenheit so lebt, sondern dieses Leben gewusst gewählt hat.
er hete gar versprochen | __________ | Er hatte gelobt, | __________ | |
môraz, wîn, und ouch dez prôt. | __________ | auf Môraz, Wein und sogar Brot völlig zu verzichten. | __________ | |
sîn kiusche im dennoch mêr gebôt, | __________ | Und die Askese ihm noch mehr zur Pflicht: | __________ | |
der spîse het er keinen muot, | __________ | Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, | __________ | |
vische noch fleisch, swaz trüege bluot. | __________ | Fisch zu essen oder Fleisch [...], was Blut in sich hat | __________ | 452, 18-22 |
Auch der Grund für seine Askese und sein einsames Leben wird genannt:
dâ lobet ich der gotes kraft, | __________ | Der Kraft Gottes gelobte ich da, | __________ | |
daz ich deheine rîterschaft | __________ | daß ich niemals wieder | __________ | |
getæte nimmer mêre, | __________ | Waffen tragen wollte; | __________ | |
daz got durch sîn êre | __________ | ich betete zu Gott in seiner Herrlichkeit, | __________ | |
mînem bruoder hulfe von der nôt. | __________ | er möge meinem Bruder von seinem Leiden helfen. | __________ | (480, 11 - 15) |
Diese radikale Entscheidung und Umkehr verweist auf das literarische Muster der conversio, die typischerweise durch zwei Kriterien gekennzeichnet ist: Zum einen gibt es ein klares "Davor" und "Danach" in der Erzählstruktur, das klar durch eine einschneidende Wendung getrennt ist. Dabei wird von dem "Davor" stark gerafft berichtet, während für den Moment der Wendung und seiner Folgen mehr Erzählzeit genutzt wird. Als zweites Kriterium ist wichtig, dass die Wendung eine Art Schlüsselmoment darstellt, durch welchen Dinge anders beurteilt werden, als zuvor. So wird also auch das "Davor" unter Berücksichtigung der neuen Denkmuster und Vorstellungen erzählt und beurteilt. [Biesterfeldt 2004: vgl. 214]
Sigune
Der Leser trifft vier Mal auf Sigune und kann dabei eine Entwicklung beobachten: Sie entfernt sich immer weiter von der höfischen Welt und ihren Maßstäben. Dies kann man zum einen an den Orten festmachen, an denen man sie auffindet, zum anderen an ihrer abnehmenden Schönheit, die in dem Maße abnimmt, als sie sich immer weiter von der höfischen Lebenswelt entfernt. Man kann also an ihrer Person den Prozess des Aussteigens beobachten und nachvollziehen.
Bei der ersten Begegnung Parzivals mit Sigune wird betont, dass ihr Ritter bei einer Tjost, sprich in einem ritterlich-höfischen Rahmen, zu Tode gekommen ist. Der Verweis auf das Höfische ist hier also noch sehr prominent und wird durch den Vergleich zwischen dem Gebrauchgegenstand "Spieß" und der höfischen Tradition des "tjosierens" dargestellt:
disen ritter meit dez gabylôt: | __________ | Diesem Ritter hier konnte ein Bauernspieß nichts böses tun, | __________ | |
er lac ze tjostieren tôt. | __________ | in einer Tjost wurde er getötet. | __________ | (139, 29-30) |
Bei der nächsten Begegnung erkennt Parzival sie nicht wieder, da sie, wie er sagt, ihr "reideleht lanc prûnez | " (252, 30) Haar verloren hat und kahl ist und auch ihr rôter munt (252, 27) verschwunden ist. Der Text entschuldigt dies aber, indem er den Leser direkt anspricht: hœrt mêr Sigûnen triwe sagn | Hört aber von der Sigûne Treue reden (253, 18). Ihre Treue also ist es, die sie nun, statt des schönen Äußeren auszeichnet. Der Ort, an dem Parzival auf sie trifft ist durch zweierlei gekennzeichnet: Zum einen durch eine linde[n] (249, 14), die auf die Natur verweist und somit auf das Gegenkonzept zur Kultur und durch den Nicht-Ort, der dadurch entsteht, dass er nicht fass- oder zurückverfolgbar ist. Denn Parzival folgt, vom konkreten Ort der Gralsburg aus, Spuren, die aber immer weniger werden, sodass er plötzlich jegliche visuelle Spur verliert (er verlôs se gar (249, 8)) und nur einer akustischen Spur, "einer frouwen stimme jæmmerlîch" (249, 12) folgen kann.
Die dritte Begegnung findet an einem Ort statt, der ein Gegenkonzept zum höfischen Leben darstellt: einer Klause. Dort lebt Sigûne in Einsamkeit, nur in Gesellschaft ihres toten Geliebten. An diesem Ort ist nichts höfisch, außer ihrer Treue, die sie nach wie vor auszeichnet. Parzival erkennt sie auch dieses Mal nicht, was dafür spricht, dass ihre Schönheit im Vergleich zum vorherigen Mal noch mehr abgenommen hat. Dadurch wird darauf verwiesen, dass die Distanz zur höfischen Welt noch größer geworden ist, gleichzeitig heißt es aber, dass "ir leben [...] ein venje gar | ihr Leben nichts als knien und beten" (435, 25) war. Ihr Lebensmittelpunkt verschiebt sich also immer mehr vom höfischen Leben, hin zum Leben mit Gott und in Treue zu ihrem Geliebten.
Das vierte und letzte Mal begegnet Parzival und auch der Leser Sigune als sie schon tot ist. Sie finden "Sigûne an ir venje tôt | Sigune auf den Knien liegend tot" (804, 23) und legen sie daraufhin in das gleiche Grab wie Schîanatulander, damit sie im Tod mit ihm vereint ist, nachdem sie ihre Treue bis in ihren Tod hinein bewiesen hat.
Jeschute und Orilus
Im III. Buch beschreibt Orilus wie er Jeschûte bestrafen möchte:
ich sol velwen iweren rôten munt, | __________ | Fahl will ich euren roten Mund machen, | __________ | |
[und] iwern ougen machen rœte kunt. | __________ | rot soll man Eure Augen sehen. | __________ | |
ich sol iu fröude entêren, | __________ | Euer prangendes Glück will ich demütigen | __________ | |
[und] iwer herze siuften lêren.' | __________ | und Euer Herz das Seufzen lehren." | __________ | (136,5-8) |
Der rote Mund und die Augen sind äußere Merkmale Jeschutes, das Glück und ihr Herz wiederum verweisen auf ihre innere Schönheit. Dieses System der äußeren Schönheit, die mit der inneren zusammenfällt und gleichzeitig auch auf sie verweist, ist typisch für die höfische Welt im Mittelalter. In dieser Textstelle wird genau dieses System der „Kalokagathie“ [Michel 1976: vgl.: S. 89] angewandt, indem äußere und innere Schönheit direkt miteinander verknüpft werden.
Dadurch, dass Orilus ihr diese Merkmale nimmt, schließt er sie aus der höfischen Gesellschaft aus, die
nennt des Mittelalters zeichnen sie als Individuum aus. Ihre Identität ist aber durch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft geprägt, die diese eben genannten Attribute was sich in den Dingen ausdrückt, die einen Menschen als Teil dieser ausweisen. Das Pferd als Teil des Höfischen verweist darauf, dass sie eben nicht mehr Teil der höfischen Welt ist, wenn das Pferd
, indem er ihr die Attribute, die sie zu einer Dame der ritterlichen Gesellschaft machen, nimmt und sie somit ihrer Identität beraubt.
Hierzu zählt er einige dieser Attribute auf: Zunächst spricht er Attribute an, die sie als Individuum ausmachen:
Herzeloyde
Parzivals Mutter Herzeloyde entfernt sich bewusst von der höfischen Welt und zieht ihren Sohn in der Einöde von Soltane auf. Durch die räumliche Trennung möchte sie Parzival von der höfischen Welt fernhalten, damit dieser unter keinen Umständen Ritter werden möchte.
Wertung der jeweiligen Lebenskonzepte durch den Erzähler
Sowohl Sigunes, Trevrizents als auch Jeschute und Orilus Austritt werden klar bewertet. Herzeloydes Ausstieg jedoch wird nicht offen gewertet.
Sigunes Austritt aus der Gesellschaft ist durch die deutliche Betonung der außergewöhnlichen Treue, die sie an den Tag legt, ganz klar positiv konnotiert, wie man zum Beispiel an der Aussage der Gralsritter, dass sie ein "rehter güete ein arke (eine Arche rechter Güte)" (804, 16) ist, ablesen kann. Im Gegesatz dazu ist der Ausstieg Orilus und Jeschutes aus der Gesellschaft klar negativ besetzt, nicht aber, weil sie aus ihr heraustreten, sondern weil Jeschute, obwohl sie treu ist und keinen Fehler begangen hat, für etwas büßen muss. Negativ ist dies also, weil hier ein großes Unrecht geschieht. Trevrizent wiederum ist durch seine besondere Funktion, die ihn zu einer sehr besonderen Figur macht, positiv bewertet. Schießlich ist er es, der Parzival hilft sich mit Gott zu versöhnen und der ihn nicht nur religös, sondern auch im übertragenen Sinn auf den richtigen Weg bringt, sodass er Gralskönig werden kann. Herzeloyde
Funktionen dieser Personen für die Entwicklung Parzivals
Parzivals Weg zum Gral ist durch die Aussteiger aus der höfischen Welt geprägt. Sie erfüllen unterschiedlichste Aufgaben: Sie vermitteln wichtige Informationen, geben entscheidende Ratschläge oder verkörpern selbst Fehler, die Parzival erst erkennen und wieder gut machen muss, bevor er Gralskönig werden kann. So ist Trevrizent zum einen derjenige, der ihn in religiöser Hinsicht wieder auf den rechten Weg bringt und ihm auch die Gralswelt erklärt. Jeschute und Orilus wiederum stellen, wie auch Herzeloyde, begangene Fehler dar: Jeschute muss aufgrund seiner tumpheit leiden und Herzeloyde, seine eigene Mutter stirbt sogar. Somit hat er einer unschuldigen Person geschadet und den Tod seiner eigenen Mutter verschuldet. Den Fehltritt gegenüber Jeschute und auch Orilus, kann er dadurch wieder gut machen, dass er ihren Ruf unf ihre Ehre durch Aufklärung der wahren Begebnisse wieder herstellt. Den Tod seiner Mutter kann er allerdings weder rückgängig, noch wieder gut machen. An dieser Stelle ist es wieder Trevrizent, der ihm hilft und bereit ist für seine Sünden zu büßen. Auch Sigune hat, wie Trevrizent, die Aufgabe Informationen zu vermitteln und ihm den Weg Richtung Gral zu weisen. Nur ist die Information, die sie weitergibt eine andere und bezieht sich eher darauf Sachverhalte, die er noch nicht kannte, wie seinen Namen und seine Herkunft zu nennen.
Man kann also daraus schließen, dass Trevrizent und Sigune Parzival entscheidende Informationen und Ratschläge erteilen und ihm so den Weg zum Gral weisen und ebnen. Während Jeschute und Orilus, sowie Herzeloyde - um im Bild zu bleiben - die Steine im Weg Parzivals darstellen, die er erst beseitigen muss, um Gralskönig werden zu können.
Literatur
Primärliteratur
[* Wolfram von Eschenbach 2003] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe 2. Auflage. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin 2003.
Sekundärliteratur
<HarvardReferences /> [*Biesterfeldt 2004] Biesterfeldt, Corinna: Das Schlußkonzept moniage in mittelhochdeutscher Epik als Ja zu Gott und der Welt. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 211--231.