Intertextualität: Parzival und die Aeneis
Wolfram von Eschenbach verwendet in seinem Roman Parzival intertextuelle Bezüge zu Vergils Aeneis[1] beziehungsweise Veldekes Eineit. Die Verweise auf die Aeneis sind auf zwei Arten im Text realisiert. Einerseits gibt es direkte Bezüge wie etwa der Vergleich zwischen der Burg in Karthago und Schanpflanzun (399,11-12),[2] andererseits gibt es Ähnlichkeiten auf der makrotextuellen Ebene. An dieser Stelle sind die Liebesbeziehungen Gawans zu nennen, die parallele Strukturen zur Handlung zwischen Aeneas und Dido und später Lavinia aufweisen. Das Ziel dieses Artikels ist es nun, die Funktion dieser intertextuellen Bezüge herauszuarbeiten. Dabei wird besonders die durch die Verweise entstehende Rezeptionshaltung der Textadressaten in den Blick genommen, wobei sich insbesondere auf die mikrotextuelle Ebene bezogen wird.
Begriffsverwendung: Intertextualität
Intertextualität beschreibt allgemein den Bezug eines Textes auf einen oder mehrere andere Texte. Solche Bezüge sind schon seit der Antike in Romanen und anderen Textsorten zu finden. In den späten 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der Begriff vor allem durch Julia Kristeva geprägt, die bei ihren Arbeiten auf den Begriff der Dialogizität Bachtins zurückgriff. Hermeneutisch-strukturalistische Ansätze sehen die Intertextualität in erster Linie als ein Verfahren, welches zur innerliterarischen Sinnbildung führt. Dabei gibt es, wie Genette herausarbeitet, verschiedene Arten eine derartige Transtextualität im Text zu implementieren. Eine klare Unterscheidung zwischen den einzelnen Bezugsformen ist nun wichtig, um den Begriff der Intertextualität deutlich abzugrenzen:[Martinez 1997: 150f.]
- Paratextualität: beigeordnete Texte
- Metatextualität: Im Text wird ein anderer Text kommentiert
- Architextualität: taxonomische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gattung
- Hypertextualität: Überlagerung von Texten (der spätere Text kann ohne den früheren Text nicht existieren)
- Intertextualität: Präsenz eines Textes in einem anderen, in Form von Zitaten, Plagiaten oder Anspielungen
Klar ist, dass im Folgenden der letzte Begriff im Mittelpunkt stehen soll. Allerdings ist die bisherige Definition noch sehr weitläufig, weshalb auch die sechs Kriterien zur Skalierung von Intertextualität nach Manfred Pfister verwendet werden: Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität, Dialogizität.
Vergils Aeneis und Veldekes Eineit
Die Frage, welche Fassung den Bezugstext für Wolframs Arbeiten darstellt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Wahrscheinlich ist, dass ihm mehrere Vorlagen zur Verfügung standen. Zunächst muss davon ausgegangen werden, dass Wolfram, der höchstwahrscheinlich die Schule der septem artes liberales durchlief, mit Vergils antiker Version vertraut war. Bezüglich der mittelalterlichen Fassungen von Chrétien de Troyes und Heinrich von Veldeke ist unklar, ob er auf beide referiert.[3] Ein Argument, das dafür spricht, dass dem Autor des Parzival zumindest eine Ausgabe von Veldekes Eineit vorlag, ist die direkte Erwähnung Veldekes während eines Minneexkurses:
Mittelhochdeutsch (292,18-21) | Neuhochdeutsch |
---|---|
hêr Heinrich von Veldeke sînen buom | Herr Heinrich von Veldeke hat bekanntlich einmal, |
mit kunst gein iwerm arde maz: | überaus kunstvoll, Euer Wesen mit einem Baum verglichen. |
het er uns dô bescheiden baz | Wenn er uns nur deutlicher auseinandergelegt hätte, |
wie man iuch süle behalten! | wie man euch halten kann! |
Aufgrund dieser direkten Erwähnung Veldekes wird im Folgenden vorausgesetzt, dass Wolfram in Kenntnis dessen Eineit war. Zudem muss mit Blick auf die vielen intertextuellen Verweise, auch zu anderen Werken wie dem Erec, von einem gebildeten Publikum ausgegangen werden.[Dallapiazza 2009: 139]
Makrotextuelle Ebene
Intertextuelle Ähnlichkeiten auf der makrostrukturellen Ebene beziehen sich in erster Linie auf parallele Erzählstrukturen. In den zwei Gahumretbüchern sind derartige vergleichbare Strukturen zwischen der Aeneis/Eineit und Parzival zu finden. So wird Gahmuret, wie Aeneas, in durch einen Meeressturm in das Landorientalische Herrscherin getrieben (16,20), in die er sich verliebt. Das Glück währt jedoch nur kurze Zeit und Gahmuret reist heimlich in einer Nacht ab, um eine erneute Meeresreise zu unternehmen. Anschließend gelangt er in ein neues Reich. Dort trifft er eine Frau mit der er eine christliche Hochzeit feiert. Hinsichtlich der Figur der Herzeloyde wurde in der Forschung auch darüber diskutiert, ob sie mit Lavinia gleichzusetzen sei. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch ein großer Unterschied zwischen beiden auf. Lavinia und Aeneas sind bis zu ihrem Lebensende glücklich vereint, wohingegen Gahmuret nach der Heirat mit Herzeloyde erneut auf âventiure-Fahrt geht und ohne sie im Orient stirbt. Aus diesem Grund wird meist davon abgesehen, Lavinia und Herzeloyde gleichzusetzen. Es wurde vielmehr die These entwickelt, dass es sich bei der Mutter Parzivals um eine zweite unglückliche Dido handle. [Bloetzer Ehret 2003: 196]
Zunächst eine Übersichtsdarstellung der Beziehung zwischen Gahmuret und Belacane im Vergleich zu Veldekes Eineit, die sich an die Arbeiten von Petrus Tax anlehnt:[Tax 1973: 25]
Eineit | Parzival |
---|---|
Aeneas gewinnt die Liebe der verwitweten Dido, deren Mann von ihrem Bruder erschlagen wurde | Gahmuret gewinnt Belakanes Liebe, ihr Geliebter wurde zuvor im Kampf getötet |
Aeneas verlässt Dido auf Befehl der Götter --> Dido nimmt sich das Leben | Gahmuret verlässt Belakane, um auf âventiure-Fahrt zugehen, Belakane bekommt einen gemeinsamen Sohn |
Aeneas heiratet Lavinia | Gahmuret heiratet Herzeloyde |
Aeneas erhält vor de Kampf gegen Turnus eine Rüstung | Gahmuret erhält eine Rüstung |
Die Frage ist, warum Wolfram diese Strukturen der Aeneis/Eineit auf seinen Parzival überträgt und nicht nur die Struktur des Artusromans anwendet. Eine Möglichkeit besteht darin, dass indem sich Gahmuret der christlichen Welt und somit auch der Artuswelt abwendet, auch eine anderes Erzählschema notwendig wird. Das Artusschema in einer erzählten Welt anzusiedeln, die von heidnischer Kultur geprägt ist, erscheint als nicht kohärent.
Ein weiterer Aspekt auf der makrotextuellen Ebene ist die Einrahmung von Gawans Liebeshandlung durch die intertextuellen Verweise auf die Eineit beziehungsweise auf das darin von Veldeke entwickelte Minnekonzept. Durch die Platzierung der Textstellen (292, 18-21 und 532) eröffnet Wolfram einen Exkurs, der eine minnetheoretische Diskussion entfaltet, bei der er sich genauer mit Veldekes Vorstellungen dazu auseinandersetzt.
Mikrotextuelle Ebene
Auf der mikrotextuellen Ebene sind an sehr vielen Stellen Verweise auf die Aeneis/Eineit zu finden. Aufgrund der Vielzahl werden hier nur zwei Stellen exemplarisch für viele weitere Bezüge analysiert.
Gawan als Aeneas
Die Figur des Gawans erweckt bei der Analyse hinsichtlich der Intertextualität besondere Aufmerksamkeit, was insbesondere an folgender Textstelle liegt:
Mittelhochdeutsch (399,11-14) | Neuhochdeutsch |
---|---|
disiu burc was gêheret sô, | Diese Burg war so herrlich, |
daz Enêas Kartâgô | dass Enêas so viel Majestät |
nie sô hêrrenliche vant | nicht einmal an Kartâgô fand |
dâ froun Dîdôn tôt was minnen pfant | wo der Dîdô Tod der edlen zu einem Pfand der Liebe wurde. |
Diese Textstelle betont auf den ersten Blick die Herrlichkeit und den Reichtum der Burg Antikonies. Das Interessante ist jedoch vielmehr, die direkte Erwähnung von Aeneas. Dieser intertextuelle Verweis befindet sich zu Beginn des achten Buches und somit noch vor dem ersten Aufeinandertreffen von Gawan und Antikonie. Die Funktion dieser Textstelle wird besonders deutlich, wenn die entstehende Erwartungshaltung der Rezipienten miteinbezogen wird. Denn durch diese Anspielung auf Didos Burg und die damit verbundene unglückliche Liebesbeziehung zwischen Aeneas und Dido, wird bereits vor dem ersten Treffen darauf verwiesen, dass die Liebe der beiden nicht von Dauer sein wird. Zudem wird der Gawan-Handlung eine erotische Dimension hinzugefügt, indem wie eben beschrieben, ein tragisches Liebesabenteuer angedeutet wird. Das Leben Gawans war zuvor hauptsächlich von Kämpfen, unter anderem gegen Meljanz (384ff.), geprägt. Durch diese Anspielung wird schon vor der eigentlichen Begegnung der Liebenden der Handlung eine weitere Dimension verliehen. Allerdings wird die Erwartung des Rezipienten enttäuscht, da es zu keiner sexuellen Interaktion zwischen den beiden kommt.[Draesner 1993: 315] Insgesamt lassen sich hier folgende Funktionen der textuellen Verweise feststellen:
- Vorausdeutungen auf die Folgehandlung
- Erzeugung einer Erwartungshaltung beim Rezipienten
Belacane als Dido
Bei der Anaylse der Figur der heidnischen Königin von Zazamanc, Belacane, werden die Parallelen zur karthargischen Königin Dido besonders deutlich.
Hierbei lohnt es sich zunächst zu betrachten, wie Belacane stilisiert wird. Bei der ersten Begegnung von Gahmuret und Belacane sagt sie: ob i'u mînen kumber klage, den ich nâhe im herzen trage (24,19f.). Durch diese Aussage wird sie als trauernde Witwe dargestellt. Mit Blick auf die makrotextuelle Ebene ist hier klar eine Parallele des Aufeinandertreffens zur Aeneis/Eineit zu erkennen. Hinsichtlich der mikrotextuellen Ebene ist jedoch vielmehr von einer Distanzierung zu sprechen. Denn im Vergleich zur Aeneis/Eineit erzählt nicht der Gast von seinem Schicksal, sondern die Gastgeberin schildert ihr Unglück. Dieser Bericht, der einer Totenklage ähnelt, taucht noch an weiteren Stellen des Romans auf (vgl. 26,9ff.; 28,7f.). Durch die Trauer wird der Königin die Eigenschaft der triuwe verliehen, welche im Parzival zu dem Idealbild einer Frau gehört.[4] Auf diese Weise distanziert sich Wolfram von seinen literarischen Vorbildern, die die Figur der Dido deutlich negativer darstellen. [Bloetzer Ehret 2003: 185ff.] Ulrike Draesner verweist in Bezug auf diese und andere Bewertungen darauf, dass hier Wolframs Subjektivität deutlich werde und auch persönliche Ansichten seinerseits deutlich markiert würden. Somit übernimmt der Bezug auf die Aeneis an dieser Stelle auch die Darstellung der Ansicht Wolframs.[Draesner 1993: 141][5] Die Nähe zu der Figur der Dido durch die signifikanten Anspielungen und die eben genannten Differenzen schärfen zudem das Bild Belacanes und das mit ihr verbundene Minnekonzept. Aufgrund der vielen Stellen an denen die Trauer Belacanes hervorgehoben wird, könnte nun der Einwand genannt werden, dass selbst ein kundiger Rezipient nicht alle intertextuellen Bezüge erkennt. Michael Dallapiazza widerspricht jedoch einer derartigen These, indem er darauf verweist, dass selbst wenn nicht jedes Detail verstanden werde, trotzdem die bedeutendsten Normen, Werte und Ideale die in Zusammenhang mit dem jeweiligen Aspekt stehen, aufgerufen würden. [Dallapiazza 2009: 140] Durch diese Aspekte und der damit entstehenden Rezeptionshaltung ist es dem Autor zudem möglich, die Wahrnehmung des eigenen Texts zu steuern, da der Leser somit in die Interpretation hineingezogen wird, da er stets auch die eigenen Werte und Normen als Maßstäbe für einen Vergleich ansetzt. [Draesener 1993: 348] Somit führen die intertextuellen Bezüge im Idealfall zu einer Selbstreflexion des Rezipienten.
Insgesamt lassen sich hier folgende Funktionen der textuellen Verweise feststellen:
- Ausdruck persönlicher Ansichten Wolframs
- Abgrenzung von der literarischen Tradition
- Schärfung des Bildes der Belacane und des mit ihr verbundenen Minnekonzepts
- Aufrufen von Normen, Werten und Idealen --> Steuerung der Wahrnehmung des vorliegenden Texts
- Im Idealfall: Selbstreflexion des Rezipienten in Bezug auf eigene Werte, Normen und Ideale
Fazit
Obwohl hier nur sehr wenige Textstellen in Bezug auf die intertextuellen Bezüge zur Aeneis/Eineit untersucht wurden, kristallisierten sich die verschiedensten Funktionen dieser Verweise und Anspielungen heraus. Auf makrotextueller Ebene eröffnet Wolfram beispielsweise durch die geschickte Platzierung der Verweise einen Exkurs, der eine minnetheoretische Diskussion entfaltet, bei der er sich genauer mit Veldekes Vorstellungen dazu auseinandersetzt. Auf mikrotextueller Ebene hingegen besitzen die behandelten Bezugspunkte die verschiedensten Funktionen. Diese reichen von der Erzeugung einer Erwartungshaltung über den Ausdrück persönlicher Ansichten hin zu einer möglichen Selbstreflexion des Rezipienten usw. Es zeichnet sich jedoch das Bild, dass jeder Verweis an sich sehr spezielle Funktionen für die einzelne Textstelle besitzt. In wieweit eine Verallgemeinerung auf weitere Stellen stattfinden kann, bleibt noch offen.
Anmerkungen
- ↑ Im Folgenden wird folgende Ausgabe als Grundlage der Überlegungen verwendet: Binder, Edith/Binder Gerhard (Hgg. und Übers.): P. Vergilius Maro. Aeneis, Stuttgart 2009.
- ↑ Im Folgenden immer zitiert aus: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
- ↑ Eine gute Analyse Veldekes "Eneit" bietet Lienert, Elisabeth: Deutsche Antikeromane des Mittelalters, Berlin 2001.
- ↑ vgl. wîpheit, dîn ordenlîcher site, dem vert und fuor ie triwe mite (116,13f.).
- ↑ Interdisziplinär betrachtet bieten derartige Textstellen gute Zugänge zu historischen Wahrnehmungsmustern.
Literaturverzeichnis
[*Bloetzer Ehret 2003] Bloetzer Ehret, Dominique. Didos Leid als literarisches Erbe in den Gahumretbüchern, in: Études Médiévales. Revue 5 (2003). S. 182-197.
[*Dallapiazza 2009] Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin 2009.
[*Draesner 1993] Draesner, Ulrike. "Wege durch erzählte Welten." Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs Parzival. Frankfurt am Main (1993).
[*Martinez 1997] Martinez, Matias: Intertextualität, in: Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Grammatik, Berlin 1997, S.150f.
[*Tax 1973] Tax, Petrus W.: Gahmuret zwischen Äneas und Parzival, in: ZfdPh 92 (1973), S. 24-37.