Antikes Geistesgut im Roman (Gottfried von Straßburg, Tristan)
In diesem Artikel soll anhand einiger ausgewählter Beispiele gezeigt werden, inwiefern im Tristan Gottfrieds Antikenrezeption zutage tritt und inwiefern antikes Geistesgut den Roman in Form und Couleur mitbestimmt.
Antike Bezüge auf der Oberflächenebene
Sucht man im Tristan nach antiken Inhalten, so ist es wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass ja nicht alles, was man im Roman liest, auch in jedem Fall die Erfindung Gottfrieds ist: Er selbst benutzte offensichtlich den Tristanroman des Thomas von Britannien als Vorlage, in dem sich bereits mehrere Ankänge an antike Stoffe finden. Es gilt also, wie Wilhelm Hoffa das vorexerziert hat[Hoffa 1910], an jeder infrage kommenden Stelle zu überprüfen, ob die antikischen Einflechtungen und die direkten oder indirekten Zitate klassischer Werke bereits bei Thomas vorkommen oder wirklich Gottfried zuzuschreiben sind.
Poetik
Gottfried verfügte, wie zahlreiche Quellen bestätigen, über außergewöhnlich hohe Bildung. Da im Mittelalter die Sieben Freien Künste und unter ihnen vor allem das Trivium (lat. Dreiweg) die Grundlage alles Wissens darstellte (vgl. das heutige "trivial" für "grundlegend"), ist es nur natürlich, dass Gottfried durch den Dialektik-, Grammatik- und Rhetorikunterricht auch mit klassischen und spätantiken Autoren in Berührung kam.
Zum Schulkanon zählten nicht nur christliche Autoren, sondern auch die heidnischen Meister der Kunst, wie Horaz, Cicero und Ovid (vgl. den Artikel zur Antikenrezeption), fühlte man sich schließlich zur "Verwertung der heidnischen Geistesschätze"[Bezold 1922: S. 3] ob ihrer Größe geradezu verpflichtet.
Die ganze mittelalterliche Poetik, so könnte man behaupten, erwächst letzten Endes wieder aus den Normen der Antike(vgl. [Stevens 1990: S. 76]: Sie misst dichterische Größe am vollendeten Umgang mit den Disziplinen des Triviums; als Leitstern dienen Werke wie z.B. die Topica des Aristoteles oder die Ars Poetica des Horaz. Letzterer schreibt:
- aut prodesse volunt aut delectare poetae
- aut simul et iucunda et idonea dicere vitae
- [...]
- omne tulit punctum qui miscuiu utile dulci,
- lectorem delectando pariterque monendo. [Horaz 2000: V. 333-334+343-345]
- (Helfen wollen die Dichter oder doch uns erfreuen / oder beides: die Herzen erheitern und dienen dem Leben. /(...) Beifall bei allen erringt, wer Nützliches mischt mit der Liebe, / Freude dem Leser bereitend und gleichermaßen ihn mahnend. [Horaz 2000: S. 271])
Adam Stevens erkennt in Gottfrieds Prolog genau diesen Vorsatz wieder: Ein Gedicht zu schaffen, in dem Nutzen und Gefallen ineinander übergehen [Stevens 1990: S. 71-72]:
- ich hân mir eine unmüezekeit
- der werlt ze liebe vür geleit
- und edelen herzen z'einer hage (V. 45-47; hier und im Folgenden Tristan-Zitate immer aus [Gottfried von Straßburg 2007])
- (Ich habe mir eine Aufgabe vorgenommen - zum Nutzen der Welt und zur Freude edler Herzen [Gottfried von Straßburg 2007: S. 13])
Und das gelingt ihm auch, wie Stevens zeigt, indem er einen von Gottfrieds Nachfolgern anführt: Im Literaturexkurs seines Alexanders (V. 3153-3162) lobt Rudolf von Ems Gottfried und preist dessen Werk als Erfüllung des horazschen Ideals. Damit, so Stevens, wäre der Tristan den Werken der Alten ebenbürtig und erhielte des Status eines modernen Klassikers[Stevens 1990: S. 70-71].
Doch nicht nur im Zweck, auch in der Ausführung muss Gottfrieds Werk vor den antiken nicht zurückweichen: Die Art, in der er seine weisen Gedanken in schöne Worte kleidet, zeigt seine Meisterschaft. Rhetorische Figuren und eine gefällige Grammatik unterstützen die dialektische Entfaltung der Ideen, mit der er den Leser konfrontiert. Wüssten wir nicht, dass das nachfolgende Lob des Johannes von Salisbury einem anderen gilt, so könnten wir annehmen, es sei an Gottfried gerichtet:
- sententias colligit, ornatu uerborum splendet, ut eis displicere non possit qui aut uirtutem amant aut eloquentiam.
(Johannes von Salisbury: Metalogicon, zitiert nach [Stevens 1990: S. 74])
- (Er versammelt Sinnsprüche, glänzt durch die Ausschmückung seiner Worte, so dass sie keinem missfallen können, der entweder die Tugend oder die Beredtsamkeit liebt. [Übersetzung E. Becker])
Dass nicht Gottfried gemeint ist, sondern der römische Dichter Seneca, spricht eine deutliche Sprache.
Mythologie
Doch nicht genug damit, dass die Poetik, von der Gottfried ausgeht, von antikem Geist getränkt ist: Er webt auch direkt in die Erzählung immer wieder Anspielungen auf die antike Mythologie mit ein.
Wilhelm Hoffa hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Stellen zusammengetragen, an denen am deutlichsten aus Mythologie und aus antiker Lehr- und Liebesdichtung zitiert wird. Das Ergebnis ist überwältigend und lässt erahnen, dass der Tristan mehr Antike atmet, als das erste rasche Überlesen vermuten lässt. Im Folgenden seien die Stellen und ihre vermuteten Referenzen kurz erwähnt:
Stelle im Tristan | Thema | bezieht sich auf |
---|---|---|
16689-16693 | Die Liebesgrotte: "im heidnischen Zeitalter vor den Jahren des Korinäus" von Riesen in den Berg gehauen | schon von Thomas übernommen; dessen Quelle war der Anglonormanne Wace Corinaeus: Bei Vergil ein Kamerad des Aeneas (Aeneis VI,228; IX,571; XII,298) |
5904-5911, 5979-5998, 18449-18454 | Seltsame Angaben über den Status des Römischen Imperiums | über Thomas vom Anglonormannen Wace übernommen |
3614-3617 | Tristan singt den "leich... de la de la cûrtoise Tispê von der alten Bâbilône. | die im Mittelalter äußerst populäre ovidsche Sage von Pyramus und Thisbe (Metamorphosen IV,55-166) |
13346-13350 | Tristan singt den leich von Didône | die Sage der karthagischen Königin Dido und ihrer unglücklichen Liebe zu Aeneas (u.a. in Vergil: Aeneis I-III) vgl. auch die MA-Bearbeitungen des Stoffes, z.B. Heinrichs von Veldeke |
17182-17199 | Phyllis, Canace, Byblis und Dido als die tragischen Heldinnen der Liebesgeschichten mit erotisch-elegischem Inhalt, die das Paar sich in der Verbannung erzählt; Ausführungen siehe Fließtext unten |
Ovid: Die Briefe von Phyllis (II) und Canace (XI) in den Heroides, die Sage von Byblis in den Metamorphosen IX,450-665 und die oben bereits erwähnte Sage von Dido |
4726-4732 | Lob der Weisheit Heinrich von Veldekes: ich waene, er sîne wîsheit ûz Pegases urspringe nam von dem diu wîsheit elliu kam | Anspielung auf das geflügelte Musenpferd, das bei Ovid aus dem Blut der enthaupteten Meduse entspringt; sein Huftritt lässt die Musenquelle Hippocrene aus dem Helikon hervorbrechen (Metamorphosen V,256-263) |
4860-4879 | Anrufung Apollos und der Musen vom Berg Helikon | ausführlichere Analyse siehe den Artikel zur Musenanrufung |
4869-4870 | Gleichsetzung der Musen mit den Sirenen | auch hierzu siehe den Artikel zur Musenanrufung |
4787-4792 | die Nachtigall "von Hagenau" singe mit der Zunge des Orpheus | die im Mittelalter äußerst populäre ovidsche Sage von Apollos Sohn Orpheus, der mit seinem bezaubernden Gesang wilde Tiere und sogar die Götter des Totenreichs milde stimmt (Metamorphosen X,1-85) |
Kassandra als Meisterin der Webkunst | nähere Erläuterungen im Artikel zur Musenanrufung | |
Liebesdichtung
Antike Bezüge auf der Sinnebene
Fazit: Bedeutung für die Grundstimmung des Romans
Literatur
<HarvardReferences />
- [*Bayer 1996] Bayer, Hans: parasitus Golias. Gottfried von Straßburg (Gunther von Pairis) und die zeitkritisch-häretische Schulpoesie der Carmina Burana, in: Mittellateinisches Jahrbuch 31/2 (1996) S. 39-80.
- [*Bernt 2000] Bernt, Günter: Carmina Burana. Stuttgart 2000.
- [*Bezold 1922] Bezold, Friedrich von: Das Fortleben der antiken Gotter im mittelalterlichen Humanismus. Bonn, Leipzig 1922.
- [*Gottfried von Straßburg 2007] Gottfried von Straßburg; Ranke, Friedrich (Übers.); Tristan, Band 1 und 2; Reclam; Stuttgart; 2007.
- [*Hoffa 1910] Hoffa, Wilhelm (1910): Antike Elemente bei Gottfried von Straßburg. In: Zeitschrift für deutsches Altertum (52), S. 339–351.
- [*Horaz 2000] Horatius Flaccus, Quintus: Satiren, Briefe. Sermones, Epistulae. Lateinisch - deutsch. Quintus Horatius Flaccus. Übers. von Gerd Herrmann. Hrsg. von Gerhard Fink. Düsseldorf, Zürich 2000, hier: Briefe. Epistulae: An Piso und seine beiden Söhne. Über die Dichtkunst, S. 253-279.
- [*Okken 1996] Okken, Lambertus (1996): Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg. 2., gründlich überarb. Amsterdam: Rodopi (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 57).
- [*Ovid 1995] Ovidius Naso, Publius; Häuptli, Bruno W.: Liebesbriefe. Lateinisch - deutsch = Heroides epistulae. München [u.a.] 1995.
- [*Ovid 2010] Ovidius Naso, Publius; Albrecht, Michael von: Metamorphosen. Lateinisch, deutsch. Durchges. und bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam (Römische Literatur, 1360), 2010.
- [*Stevens 1990] Stevens, Adrian: The renewal of the classic. Aspects of rhetorical and dialectical composition in Gottfried's 'Tristan', in: Gottfried von Strassburg and the medieval Tristan legend. Papers from an Anglo-North American symposium. Hg. von Adrian Stevens, Cambridge 1990 (Publications of the Institute of Germanic Studies 23), S. 67-89.
- [*Wolf 1956] Wolf, Alois: Zur Frage des antiken Geistesgutes im 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg, Natalicium Carolo Jax septuagenario a. d. VII. Kal. Dec. MCMLV oblatum, Bd.2, Innsbruck 1955-1956, S. 45-54.
- [*Usener 1999] Usener, Knut: Verhinderte Liebschaft. Zur Ovidrezeption bei Gottfried von Strassburg, in: Tristan und Isolt im Spätmittelalter. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 3. bis 8. Juni 1996 an der Justus-Liebig-Universität Gießen, hg. von Xenja von Ertzdorff, Amsterdam (u.a.) 1999, (Chloe, 29), S. 219-245.