Die theoretische und praktische Ausbildung Parzivals durch Gurnemanz

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Dieser Artikel befasst sich mit den Lehren des Gurnemanz von Graharz und deren Auswirkungen auf Parzival. Die Gurnemanzsche Lehre umfasst neben einer Einführung in die Liturgie des christlichen Glaubens vor allem zwei sorgfältig gegliederte Lehreinheiten. Diese setzen sich aus einer theoretischen und einer praktischen Unterweisung zusammen. Neben der Gliederung fällt besonders die didaktische Konzeption auf, welche aus drei aufeinander aufbauenden Phasen besteht. Während die meisten Lehren der Âventiure sich auf das bloße râten beschränken, überprüft Gurnemanz die Umsetzung seiner Lehren direkt, wodurch er als besonders geschickter Lehrmeister heraussticht.

Der Messgang und die kultisch-liturgische Seite des Christentums

Bevor die eigentliche Lehre beginnt, nimmt sich Gurnemanz zunächst die Zeit, den unerfahrenen Parzival in die religiösen Zeremonien und Riten des Christentums einzuweisen. Zu diesem Zweck lädt er Parzival zu einem gemeinsamen Messgang ein, welcher für den unbedarften Jüngling der erste seines Lebens ist. Im Folgenden gibt ihm sein Lehrmeister Verhaltensregeln für ein gottesfürchtiges Leben "der wirt zer messe in lêrte / daz noch die saelde mêrte, / opfern unde segnen sich, / und gein dem tiuvel kêrn gerich." (169,17 ff.)[1]. Da das Wissen über die christliche Lehre und der souveräne Umgang mit deren Regeln eine wichtige Voraussetzung für die Ausbildung eines Ritters darstellt, nimmt sich Gurnemanz dieser bewusst noch vor der viel umfassenderen Ritterlehre an. Der Messgang stellt damit also einen grundlegenden Exkurs dar, welcher als Fundament für den Aufbau der eigentlichen Lehre dient.

Die theoretische Unterweisung

Nach dem Messgang lädt der galante Ritter Gurnemanz Parzival zu einer gemeinsamen Mahlzeit ein, welche durch die Worte "sus hebe ich an" (170,15) beendet wird. Dieser Satz markiert den Anfang der Lehre. Die Zäsur ist sowohl für Parzival als auch für den Leser wichtig, da so deutlich wird, dass nun erhöhte Aufmerksamkeit verlangt wird. Die theoretische Unterweisung setzt sich aus einer Tugend- und Herrscherlehre, einer Ritterlehre sowie einer Minnelehre [Russ 2000: 63] zusammen.

Die Tugendlehre

Die Tugendlehre richtet sich an Parzival als zukünftigen Herrscher "ir mugt wol volkes hêrre sîn" (170,22) und thematisiert als Grundtugend die schame. Ohne sie wird keinem Menschen die werdekeit zukommen:

III. Buch (170,16)
ir sult niemer iuch verschemn. Seid niemals unverschämt -
verschamter lîp, waz touc der mêr? ein Leib, dem das Gefühl von Scham und Schande abgeht, was sollte der noch taugen?
der wont in der mûze rêr, Der ist ein Habicht in der Mauser, mit dem gehts abwärts:
dâ im werdekeit entrîset Sein Adel fällt ihm aus und deutet ihm den Weg, den
unde in gein der helle wîset er zur Hölle nehmen wird.

Der darauffolgende zweite Rat (170,25-171,6) thematisiert die Verbundenheit sowie die Notwendigkeit zur Hilfe von Notleidenden. Konkret soll Parzival mit milte, mit güete und mit diemüete sich den notleidenden Menschen erbarmen, denn nur so kann aus ihm ein großer Herrscher werden. Der dritte und letzte Rat der Tugendlehre (171,7-24) behandelt die mâze. mâze soll Parzival vor allem in drei Bereichen haben: Erstens im Umgang mit Besitz. Parzival soll sich vor Verschwendung hüten "wan swâ der hêrre gar vertuot, / daz ist niht hêrenlîcher muot" 8171,9 f.). Zweitens in Bezug auf die Habgier "sament er aber schaz ze sêre, / daz sint ouch unêre" (171,11 f.) und drittens in Gesprächssituationen. mâze soll zu einem bewussten Sprachgebrauch führen, sodass weder zu viel gefragt, noch zu wenig gesprochen wird:

III. Buch (171,17)
irn sult niht vil gevrâgen: Ihr sollt nicht viel fragen.
ouch sol iuch niht betrâgen Ihr sollt aber nicht zögern, vernünftig Antwort zu ge-
bedâhter gegenrede, diu gê ben, und zwar so, dass sie an der Frage
rehte als jenes vrâgen stê nicht vorbeigeht, die der andere stellt:
der iuch wil mit worten spehen. Der will euch ja kennenlernen im Gespräch.

Die besondere Bedeutung dieses letzten Rates der Tugendlehre ergibt sich aus dem weiteren Verlauf der Geschichte. Parzivals Versagen in der Gralsburg, hervorgerufen durch das Frageversäumnis, resultiert aus einer Fehlinterpretation dieser Lehre, wodurch diese nicht nur zu Parzivals Entwicklung beiträgt, sondern auch großes Unglück über ihn bringt.

Die Ritterlehre

Die Tugendlehre hat mit ihren Herrschertugenden schame, erbärme, güete, milte, diemüete und mâze bereits zentrale Eigenschaften und Verhaltensweisen angesprochen, welche auch von einem guten Ritter erwartet werden. Insofern kann die Tugend- und Herrscherlehre gleichzeitig als eine theoretische Ritterlehre angesehen werden. Nichtsdestotrotz geht Gurnemanz noch einmal explizit auf das Schonungsgebot ein, gegen welches Parzival im Kampf mit Ither[2] bereits verstoßen hat. Die eigentliche theoretische Ritterlehre besteht also aus einer Unterweisung zu richtigem Verhalten im Kampf:

III. Buch (171,25)
lât erbärme bî der vrävel sîn. Lasst bei aller wilden Kühnheit auch das Mitleid zu.
sus tuot mir râtes volge schîn. Zeigt, dass Ihr meinem Rat gehorsam seid:
an swem ir strîtes sicherheit Wenn einer Euch im Kampf, um Schonung zu erkaufen, sein
bezalt, ern habe iu sölhiu leit Ehrenwort anbietet, so nehmt es an und
getân diu herzen kumber wesen, lasst ihrn leben, er hätte Euch denn solche
die nemt, und lâzet in genesen Leiden angetan, die das Herz ganz tief verwunden.

Die Minnelehre

Nachdem die theoretische Ritterlehre abgeschlossen ist, leitet Gurnemanz die Minnelehre[3] ein. Bevor er mit der eigentlichen Lehre beginnt, baut er eine Art Scharnier ein, welches die Ritterlehre mit der Minnelehre verbindet. Er hält Parzival zunächst dazu an, auf ritterliche Hygiene zu achten (vgl. 172,1-4), da dies die Voraussetzung für den Minneerfolg zu sein scheint [Russ 2000: 64]. Von nun an soll Parzival sich erst den Rost und den Dreck der Eisenrüstung von den Händen und vom Gesicht waschen, bevor er vor die Augen der Frauen tritt. In der eigentlichen Minnelehre warnt Gurnemanz Parzival vor Falschheit in der Minne "gein werder minne valscher list / hât gein prîse kurze vrist" (172,15 f.) und erklärt ihm die Bedeutung des Einflusses, welche die Frau auf den Mann hat "daz tiuret junges mannes lîp" (172,10). Damit spricht er die gängige höfische Minnetheorie an, die "von der ethischen Vervollkommnung des Mannes durch die Frau ausgeht" [Russ 2000: 64]. Um die Minne zu verwirklichen, muss nach Gurnemanz eine harmonische sowie untrennbare Einheit zwischen Mann und Frau bestehen:

III. Buch (173,1)
man und wîp diu sint al ein; Mann und Weib sind ein Leib. Das ist so
als diu sunne die hiute schein, wie die Sonne, die heute aufgegangen ist,
und ouch der name der heizet tac. und der Name, der Tag heißt. Das eine
der enwederz sich gescheiden mac. kann sich nicht vom anderen scheiden.

Die praktische Unterweisung

Die praktische Ausbildung Parzivals bildet den zweiten Teil der Gurnemanzschen Lehre und zielt auf eine Verbesserung der ritterlichen Fähigkeiten im Kampf "noch sult ir lernen mêre / kunst an ritterlîchen siten" (173,12 f.). Bei Parzivals Ankunft am Hof war dieser von der langen Reise so ermüdet, dass er auf seinem Pferd hängend jegliche ritterliche Haltung verloren hatte (vgl. 162,16 f.). Durch diesen Fauxpas motiviert beginnt Gurnemanz mit der praktischen Unterweisung. Er lässt sich selbst ein Pferd bringen und lehrt Parzival die Kunst des Tjostierens:

III. Buch (173,30)
wierz ors ûzem walap Wie er das Pferd aus dem Galopp
mit sporen gruozes pîne mit den Sporen scharf ansprechen, mit
mit schenkelen vliegens schîne blitzenden, fliegenden Schenkeln herum-
ûf den poinder solde wenken, reißen sollte in einen wuchtigen Anlauf,
[und] den schaft ze rehte senken, dazu den Schaft senken zu einem rechten
[und] den schilt gein tjoste vür sich nemen. Stoß, den Schild vorhalten, bereit, die Tjost des Gegners zu empfangen.

Während der praktischen Ausbildung bekommt Parzival die Gelegenheit, das Neuerlernte in einem sicheren Umfeld zu üben. Ihm werden insgesamt fünf Ritter gegenübergestellt, welche er alle in den Probetjosten besiegt "sus stach er ir vünve nider" (175,3). Während Parzival bis zu den Lehren Gurnemanz lediglich Ratschläge zuteil wurden, besteht die Besonderheit sowie der Erfolg Gurnemanz darin, dass er die Umsetzung seiner Lehre praktisch überprüft. Insofern lässt sich sogar eine Art didaktische Konzeption konstatieren, die in drei aufeinander aufbauende Phasen gegliedert ist: die theoretische Unterweisung - die praktische Unterweisung - lange praktische Übungsphase [Russ 2000: 65]. Dass diese didaktische Konzeption besser geeignet ist, um einen fruchtbaren Lernprozess anzustoßen als die zu jener Zeit üblichen Methoden über physische Bestrafung, lässt uns der Erzähler wissen:

III. Buch (174,7)
Unfuoger im sus werte Auf diese Weise trieb er ihm un-
baz denne ein swankel gerte gehobelte Sitten aus, und zwar besser, als
diu argen kinden brichet vel. es die biegsame Rute tut, die bösen Kindern sonst die Haut zerschlägt.

Der Erfolg der Lehre zeigt sich des Weiteren daran, dass sie geeignet scheint, um Parzivals Anlagen zu fördern. So lässt sich an ihm nun Gahmuretes art sehen (vgl. 174,24 f.). Am Ende der Übungsphase ist Parzival an strîte wîs (175,6) und bereit, das Erlernte im echten Kampf umzusetzen.

Fazit

Die Lehren des Gurnemanz stellen einen Wendepunkt in Parzivals Entwicklung dar[4]. Durch sie kommt der junge Held endlich dem langersehnten wahren Rittertum näher. Doch nicht nur der Eintritt ins Rittertum folgt aus der Ausbildung, auch die kognitive Entwicklung Parzivals wird erheblich vorangetrieben. Zuvor wurde er gehäuft als tump bezeichnet und schien ohne die Hilfe seiner Mutter oft verloren in der Welt umherzuirren. Nach der Begegnung mit Gurnemanz wird Parzival als von seiner tumpheit befreit beschrieben "sît er tumpheit âne wart" (179,23). Um dieser Errungenschaft auch symbolisch Nachdruck zu verleihen, legt Parzival vor seinem Aufbruch von Gurnemanz seine Torenkleidung ab. Dadurch sagt er sich zum einen von dem starken Einfluss seiner Mutter los und entledigt sich zum anderen aller sichtbaren Zeichen der tumpheit. Parzival ist nun reflektierter, gewandter und letztlich erst jetzt gesellschaftsfähig im Sinne der Kenntnis höfischer und ritterlicher Sitten [Breyer 1989: 62]. Gurnemanz Lehren liegt die Erkenntnis von Erziehungsdefiziten sowie speziellen Bedürfnissen Parzivals zugrunde, weshalb sie sich als so geeignet erweisen, dessen Anlagen zu entfalten [Green 1970: 61]. Des Weiteren begründet Gurnemanz seine Lehren, sodass er Parzival - anders als seine Mutter Herzeloyde - nicht bloß Ratschläge erteilt, sondern diese in Zusammenhang mit deren möglichen Folgen und Konsequenzen in einen konkreten Kontext einbettet. So soll Parzival milte sein, denn der kumberhafte werde man (170,29) ringt ohnehin mit schame und bewirkt durch helfe gotes gruoz (171,4). Er soll mâze haben und nicht verschwenderisch sein, denn dies entspricht nicht hêrenlîche muot (171,10). Er soll mit seinem Gegenüber eine angemessene Konversation führen und den Fragen gemäß antworten, damit man ihn kennenlernen kann (vgl. 171,21) und sich den Rost vom Gesicht waschen, damit er wîbes ougen (172,6) gefällt. In der Liebe soll er nicht betrügen, denn valsche list hat kruze vrist (172,16). Mit diesen Lehren ausgestattet ist Parzival nun bereit, in der erwachsenen Welt der Ritter zu bestehen und auf Gurnemanz Lehren aufbauend, seinen Wissensstand kontinuierlich zu erweitern.

Textausgabe

Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.

Literaturverzeichnis

[*Breyer 1989] Breyer, Ralph: Darstellung einer Kindheit. Das 3. Buch des 'Parzival' Wolframs von Eschenbach. In: Deutsche Literatur des Mittelalters. Greifswald 1989.

[*Green 1970] Green, Dennis Howard: Advice and Narrative Action: Parzival, Herzeloyde and Gurnemanz. In: D.H. Green / L.P. Johnson / D. Wuttke (Hgg.), From Wolfram an Petrarch to Goethe and Grass. Baden-Baden 1982.

[*Russ 2000] Russ, Anja: Kindheit und Adoleszenz in den deutschen Parzival- und Lancelot-Romanen: hohes und spätes Mittelalter. Stuttgart / Leipzig 2000.

Fußnoten

  1. Alle Versangaben beziehen sich auf die genannte Textausgabe.
  2. Näheres zu Parzivals Kämpfen mit seiner Verwandtschaft finden Sie unter: Parzivals Kämpfe mit seiner Verwandtschaft
  3. Eine Analyse der Minne im Parzival finden Sie unter: Minne (Wolfram von Eschenbach, Parzival)
  4. Ein weiteres Charakteristikum der Lehren Gurnemanz stellt der aus ihr folgende Übergang Parzivals von der pueritia zur adolescentia dar. Eine Ausführliche Analyse dazu finden Sie unter: Adoleszenz in der Ritterwelt