Untersuchung der schâme im Parzival (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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schame ist ein slôz ob allen siten(Schamgefühl ist ein Schloss über allen Sitten, 3,5[1]) heißt es schon im Prolog von Wolframs von Eschenbach Parzival. Damit ist gemeint, dass die schame beziehungsweise das Schamgefühl alle guten Sitten in sich einschließt. Der folgenden Artikel setzt sich mit dem mittelhochdeutschen Begriff schâme und dessen weitreichende Bedeutung im Parzival auseinander.

Der Begriff der schame und des Schams

Zuallererst gilt es den Begriff der schame ins Neuhochdeutsche zu übersetzen. Das Wort schâme bedeutet im Neuhochdeutschen Scham, Schamhaftigkeit, Keuschheit, Beschämung, Schmach, Schande, Ehrgefühl.[2] Der mittelhochdeutsche Begriff der schame hat eine weitreichendere Bedeutung als das neuhochdeutsche Wort Scham. Die genauen Bedeutungen von schâme im Parzival wird weiter unten im Artikel genauer erläutert. Weiterhin ist es auch sinnvoll, das Neuhochdeutsche Wort Scham genauer zu definieren. Denn Scham kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden, wie zum Beispiel unter psychologischen oder anthropologischen Aspekten. Dadurch ergeben sich unterschiedliche Definitionen von Scham.

Nach Yeandle ist Scham aus psychologischer Sicht ein bipolarer Begriff, der auf der einen Seite Peinlichkeit, Schamgefühl und Schmach mit körperlichen Begleitreaktionen ( dazu siehe unter Körperlicher Manifestation der Schame ) auftreten kann, während Scham auch eine Tugend sein kann, die vor falschem Handeln bewahrt.[Yeandle 2001: xiv] Scham kann also die Reaktion eines Menschen auf eine für ihn peinliche Situation sein, oder eine durch Scham eines Menschen nicht ausgeführtete negative Handlung. Letzteres ist die sogenannte " positiv vorausblickende Fremdscham", da man sich durch den zu erwartenden Tadel/Hohn eines anderen(Fremden) zum schamauslösenden Handeln gehemmt fühlt.[Yeandle 2001: xvi] Zur Fremdscham abgrenzend gibt es noch den Eigenscham, bei der die Person sich schämt ohne davon von äußeren Faktoren davon beeinflusst zu sein.[Yeandle 2001: xvii] Das wäre der Fall, wenn man sich z.B. alleine für eine tadelhafte Handlung schämt, ohne dass der Tadel eines Dritten den Scham hervorruft.

Martin Baisch geht auf verschiedene Schambegriffe ein und behandelt dabei die Problematik, ob die Scham nur eine Begleitreaktion der Schuld sei.[Baisch 2004:109] Dies ist jedoch eher damit zu verwerfen, dass Scham und Schuld ganz unabhängig voneinander auftreten können. So kann man sich auch ohne Schuld schämen und sich ohne Scham schuldig gemacht haben. Doch die Frage führt zu einem Anthropologischem Aspekt der Scham, nämlich welchen Wert die jeweilige Gesellschaft der Scham beimisst. Dabei kann man zwischen zwei unterschiedliche Kulturen unterscheiden. So gibt es eine Schuld- und eine Schamkultur, die es voneinander abzugrenzen gilt.[Baisch 2004:110] Eine Schuldkultur setzt eine weiter entwickelte Religion - wie das Christentum - voraus und basiert auf dem Gewissen der Menschen sowie auf absolut moralischen oder religiösen Grundsätzen.[Yeandle 2001: xx] Eine Schamkultur hingegen funktioniert durch den Scham beziehungsweise die öffentliche Schande, die eine gewisse Handlung hervoruft.[Yeandle 2001: xix] Es ist also, anders bei der Schuldkultur keine von sich selbst aus moralischen Gründen ausgehende Kontrolle des Verhaltens. Vielmehr handelt es sich um eine soziale Kontrolle innerhalb einer Gesellschaft , bei der das Verhalten einer Einzelperson durch die Kritk von anderen in eben dieser Gesellschaft reguliert wird.[Marchand 1983: 284] Im Parzival handelt es sich hauptsächlich um eine Schamkultur[Marchand 1983: 285] Dies wird beim Vorwurf Cundrîes an Parzival deutlich, nachdem dieser es versäumt hat die erlösende Gralsfrage auf der Gralsburg zu stellen. Das Versäumins Parzivals erntet ihm Schande innerhalb der Gesellschaft, was für eine Schamkultur spricht. Ein weiteres Indiz ist der weitere Vorwuf Cundries an Artus:

315,3 dîn stîgender prîs nu sinket, dein sonst steigender Ruhm geht jetzt unter,
315,5 [...]dîn hôhez lop sich neiget, [...] dein hoher Ruhm geht unter,
315,6 dîn prîs hat hât valsch erzeiget. deine Herrlichkeit hat sich als Lüge erwiesen.
315,7 tavelrunder prîses kraft die herrliche Kraft der Tafelrunde ist gelähmt
315,8 hât erlernt ein gesellschaft denn sie hat in die Gesellschaft aufgenommen
315,9 die drüber gap hêr Parzivâl. den Herrn Parzival.

Cundries Vorwurf geht also nicht nur an Parzival, sondern auch an den Artushof. Durch die Aufnahme Parzivals an den Artushof geht dessen Schmach und Schande auf den Artushof über. Dies ist auch ein deutliches Zeichen für eine Schamkultur, denn meist gehen in solchen Kulturen die Schande auf die ganze Sippe oder Gesellschaft der Person über.[Marchand 1983: Vgl. 287].

Obwohl es sich hauptsächlich um eine Schamkultur handelt, geht man jedoch auch von einer Vermischung beider Kulturen im Parzival aus.[Baisch 2004: 110f.]

Bei den nachfolgenden Untersuchungen der Textstellen hinsichtlich der schâme ist also stets die Schamkultur zu bedenken, in der öffentlicher Scham beziehungsweise Schande durch beschämendes Verhalten eine wichtige Rolle spielen.

Emotionen in der mittelalterlichen Literatur

Eine weitere wichtige Frage wäre, wie mit Emotionen in der mittelalterlichen Literatur umzugehen sei. Dies gilt es zu klären, bevor auf die Textstellen im Parzival eingegangen wird. So ist um das Mittelalter zu verstehen nach Marchand wichtig, das Mittelalter und deren Kultur nicht im Hintergrund auf unsere Zeit zu übertragen, sondern es als Reflexionen einer von unseren Kultur unterschiedlichen Kultur zu verstehen.[Marchand 1983: 284]

Bedeutungen der schame im Parzival

schame ist ein slôz ob allen siten(Schamgefühl ist ein Schloss, welches alle Sitten einschließt, 3,5) sagt der Erzähler schon im Prolog. Dies verdeutlich gleich am Anfang, dass schame im Parzival eine der wichtigsten Tugenden darstellt, sowohl für Männer als auch für Frauen.[Martin 1984: 63] Mit schame ist in diesem Kontext die Fähigkeit gemeint, Scham zu fühlen beziehungsweise die Fähigkeit sich zu schämen. Denn schon Gurnemanz sagt zu Parzival:

170,16 ir sult niemer iuch verschemen. Du sollst dich niemals beschämen,
170,17 verschamter lîp, waz touc der mêr ? ein beschämter Körper, was taugt der noch ?

Ein Ritter darf folglich niemals sein Schamgefühl verlieren, denn das führt ihn auf den Pfad der Ehrlosgkeit[Martin 1984: 63] Die Fähigkeit Scham zu empfinden ist also ein Tugend, die auch für den Ritter eine Rolle spielt. Dass das Gefühl Scham zu empfinden nicht von der Geburt aus gegeben ist, sondern durch eine Erziehung erst erlent werden muss, ist eine Folge der Schamgesellschaft. Denn welche Handlung Ehrenhaft oder Unehrenhaft für den Handelnden ist, wird vorallem durch die Gesellschaft definiert. Dies belegt Parzival selbst. Durch seine Erziehung fernab jeder Zivilisation lernt Parzival wenig über das höfische Verhalten. So fühlt er anfangs keine Scham in verschiedenen Situationen, bei der er eigentlich Scham empfinden sollte. So wie in der Situation, wo er Jeschute in dem Zelt ihres Mannes Orilus überfällt. Weiterhin ist die unritterliche Tötung Ithers durch Parzivals Speerwurf zu erwähnen, in der Parzival trotz der Unritterlichkeit seiner Handlung keinen Scham empfindet. Die Fähigkeit sich zu schämen muss Parzival erstmal lernen. Nur durch diese Aufklärung kann Parzival sich für das Versäumnis die Gralsfrage zu stellen schämen. Dies übernimmt im Falle Parzivals Gurnemanz mit der oben erwähnten Aufklärung. Erst dannach hat Parzival die Fähigkeit erlangt, sich schämen zu können. Dies wird für ihn besonders nach seinem Erlebnis auf der Gralsburg wichtig, da die "Fähigkeit sich zu schämen ihn rettet".[Marchand 1983: 290] Durch seinen Scham drückt Parzival unteranderem aus, sein Fehlverhalten anzuerkennen. Anders ist es zum Beispiel beim Vergewaltiger Urjans, der für seine Tat keinen Scham empfunden hat. Dies deckt sich mit der Aussage Marchands, dass Vergewaltiger in Wolframs Werken jenseits von einem Schamempfinden leben.[Marchand 1983: 286]. Das "schame" noch weitreichendere Bedeutungen abseist vom Protagonisten Parzival aufweist, zeigt Yeandle mit seiner Untersuchung der Schambelegen im Parzival, bei der er auf eine Fülle von 56 Belegen kommt.[Yeandle 2001: 138] Im Folgenden wird nur ein ein kleiner Ausblick auf die Bedeutungen der schame im Parzival gegeben.

Schame als Motivation zur Handlung

Die Fähigkeit sich zu chämen ist wie weiter oben bereits beschrieben eine wichtige Tugend für Männer und Frauen. Im Falle Parzivals "rettet sie ihn"[Marchand 1983: 290] nach den Anschuldigungen von Cundrie am Artushof nicht durch das Eingeständnis seines Fehlers. Denn nach der Anschuldigung, die sich auch an den Artushof richtet, kann Parzival nicht länger am Artushof verweilen. Die Scham durch den Fehler motiviert Parzival zum Gehen, und somit auch zur Handlung. Das Schamempfinden motiviert Parzival die verlorene Ehre und die Schande wiedergutzumachen, sprich sein gutes Anssehen wiederherzustellen. Die Fähigkeit Scham zu fühlen zeigt folglich nicht nur das Eingeständnis einen Fehler begangen zu haben, sondern motiviert den Handelnden seine Gruppe zu verlassen um seinen Namen reinzuwaschen. Auch schützt Parzival den Artushof, da er in dem derzeitigen Zustand der Schande auch den Artushof beschämen würde.[Marchand 1983: Vgl. 287]

Erotischer Scham

Die erotische Scham ist eine vorallem auf Nacktheit oder auf jungfräuliche Schüchternheit bezogene positive Scham.[Yeandle 2001: 151] Gerade die jungfräuliche Scham der Belacane ist zu erwähnen, welche Isenhart zu allerlei Rittertaten ermutigt:

27,9 nu hât mîn schamndiu wîpheit Nun hat meine weibliche Scham
27,10 sîn lôn erlenget und mîn leit seinen Lohn hinausgezögert und mein Leiden verlängert.

Auch gegenüber Gahmuret zeigt Belacane denselben jungfräulichen Scham:

28,28 durch die zäher manege blicke Durch die Tränen viele Blicke
28,29 si schamende gastlîchen sach warf sie verschämt auf den Gast,
28,30 an Gahmureten[...] den Gahmuret.

Die jungfräuliche Scham ist also eine Tugend im Umgang mit Männern.

Körperliche Manifestation der schâme im Parzival

Schame ist wie die Scham eine Emotion, die in den meisten Fällen nicht vor anderen verborgen werden kann.[Yeandle 2005: 297] Dies liegt daran, dass durch Scham eine für andere sichtbare, körperliche Reaktion hervorgerufen wird. Die körperlichen Reaktionen können sich unterschiedlich äußern. Im Folgenden wird auf die körperlichen Reaktionen der schame im Parzival eingegangen.

Erröten

Bei dem Erröten fließt meist Blut in die Region der Wangen beziehungsweise in das Gesicht. So kann man nur leicht dezent erröten, oder aber auch eine starke Rötung in der Gesichtspartie bekommen. Das Erröten kommt im Parzival hauptsächlich in einer erotischen oder einer quasi-erotischen Situation vor[Yeandle 2005: 298]:

550,23 diu süeze wart von scheme rôt Die Süße war vor Verschämtheit rot,
550,24 doch tet si daz der wirt gebôt: doch tat sie was der Gastgeber befahl:
550,26 zuo Gâwân saz frou Bêne. Zu Gâwan setzte sich Frau Bene.

Die Tochter des Gastgebers errötet hinsichtlich des Befehls ihres Vaters, Gâwan am Tisch Gesellschaft zu leisten. Der quasi-erotische Kontext erschließt sich, wenn der Gastgeber vorher noch darauf hinweist, dass er seine Tochter vorher noch nie so nahe bei einem Herren gesessen hatte.(550,16f.). Für die Tochter ist also eine besondere Situation, in der sie im jungfräulichem Scham errötet.

Schwitzen

Eine weitere körperliche Reaktion, die durch Scham ausgelöst wird, ist das Schwitzen. Das Schwitzen ist eine starke körperliche Reaktion auf eine extreme Situation, in der die Scham eher negativ als positiv ist. So ist der Fall, als Jeschute mit Parzival in einer deutlich sexuell konnotierte Situation um ihren Schmuck ringt. Jeschute, die von einer versuchten Vergewaltigung ausgeht,[Yeandle 2005: 303] beginnt aus schame zu schwitzen:

132,6 si wânde, er waere ein garzûn Sie dachte, er sei ein Page
132,7 gescheiden von den witzen. der den Verstand verloren hat.
132,8 ir scham begunde switzen Ihre Tugendhaftigkeit kam ins Schwitzen.

Schwitzen ist hier ein Zeichen einer Beschämung im Umfeld eines vermuteten sexuellen Übergriffs. Es stellt eine besonders starke Reaktion der Scham dar.[Yeandle 2005:304]


Fazit

Das Konzept Wolframs, welches Scham als ein alle Sitten umgreifendes Schloss sieht, geht auf. Nur wer in einer Schamkultur die Fähigkeit des „sich schämens“ beherrschet, wendet Schande von sich ab oder begeht erst gar keine schändliche Handlung, für die er sich dann schämen müsste. Das weitreichende Spektrum von schame deckt allerlei Emotionen ab, sodass die schame für Wolfram ein wichtiges Element zur Beschreibung und Darstellung von Emotionen dient. Gerade Parzival muss, auf seinem Weg zu einem vollkommenen Ritter, lernen sich für gewisse Handlungen zu schämen.

Literaturverzeichnis

<HarvardReferences /> [*Baisch 2004] Martin Baisch:"Über Scham und Wahrnehmung in Wolframs Parzival", in: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002, hg. von John Greenfield, Porto 2004, S. 105-133.

[*Marchand 1983] James W. Marchand:"Honor and shame in Wolfram's Parzival", in: Spectrum Medii Aevi. Essays in early german literature in honor of George Fenwick Jones, hg. von William C. McDonald, Göppingen 1983, S. 283-294.

[*Martin 1984] Ann G. Martin: Shame and disgrace at king arthur's court. A Study in the Meaning of Ignominy in German Arthurian Literatur to 1300, hg. von u.a. Ulrich Müller, Göppingen 1984.

[*Yeandle 2005] David N. Yeandle:"Shame in Middle High German Literatur: The Emotional Side of Medieval Virtue", in: Euphorion 2005(=Band 99, hg. von Wolfgang Adam, Heidelberg 2005, S. 295-321.

[*Yeandle 2001] David N. Yeandle:">schame< im Alt-und Mittelhochdeutschen bis um 1210", hg. von Fritz Peter Knapp, Heidelberg 2001.


  1. Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. Übersetzung aus :Matthias Lexer,Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 38. Auflage, Stuttgart 1992.