Wolfram, Kyot, frou âventiure — Zum Ursprung der Geschichte in Wolframs Parzival

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Der Erzähler in Wolframs von Eschenbach Parzival entwickelt im Verlauf der Erzählung ein kompliziertes und scheinbar widersprüchliches 'Spiel' von Verweisen auf frühere Erzählungen der Gralsgeschichte und des Parzival-Stoffs. Er konstruiert eine (fiktive) Quellengeschichte, erwähnt den Perceval Chrétiens de Troyes, kommuniziert mit der Personifikation der frou âventiure und verweist mitunter strategisch auf Kyôt, von dem er das Wissen um die Geschichte[1] erhalten haben will. Der vorliegende Artikel überführt diese unübersichtliche Vernetzung von Quellen in eine Systematik, die es erlaubt, in der Konstruktion von Geschichtsursprüngen im Parzival[2] eine Erzählstrategie zu erkennen. Entscheidend ist dabei die Fokussierung auf die Überlieferung der Erzählung, wie sie der Erzähler innerhalb des Parzival — d.h. innerliterarisch und dabei extradiegetisch — präsentiert. Eine Einbeziehung der historischen Entstehungsgeschichte[3] sowie ein Vergleich mit Chrétiens Perceval bleiben zu diesem Zweck weitgehend aus.


Quellensystematik im Parzival

Überblick: die verschiedenen Quellen

Abb. 1: Quellensystematik in Wolframs Parzival

Wenn der Erzähler im Prolog des Parzival erklärt, dass er ein mære […] niuwen (4,9)[4] wolle, dann lässt sich diese Absicht als Wiedererzählen —geprägt wurde dieser Begriff von Franz Josef Worstbrock[Worstbrock 1999] — verstehen: "[D]er mittelalterliche Erzähler [ist] in aller Regel im Erzählen an Vorgängiges gebunden"[Kellner 2009:178] und als Wiedererzähler Bearbeiter einer bereits vorhandenen Materie.

Im Parzival nennt der Erzähler erstmals im VIII. Buch — Gâwân befindet sich hier gerade in Schanfanzun — Kyôt, ein Provenzâl/ der disiu âventiur von Parzivâl/ heidenisch geschriben sach (416,25ff.), als Verfasser einer ihm vorliegenden Überlieferung des Parzival-Stoffs. Als weitere Quellen führt er Flegetânîs – ein Heide, der den Namen des Grals und dessen Geschichte in den Sternen gelesen und der Kyôt neben lateinischen Chroniken als Grundlage gedient habe (vgl. 454,17-30) – sowie frou âventiure, die als Personifikation des Erzählens zu Beginn des IX. Buches unvermittelt auftritt und um Einlass in das Herz des Erzählers bittet (vgl. 433,1ff.), an. Darüber hinaus erklärt der Erzähler am Ende des XVI. Buchs, in den letzten Versen der Erzählung, dass auch von Troys meister Cristjân den Parzival-Stoff bearbeitet und dabei disem mære […] unreht getân (827,2) habe, was Kyôt, der uns diu rehten mære enbôt (827,4), verärgert haben soll.

Ausgehend von diesen Aussagen des Erzählers ergibt sich folgende Systematik: Flegetânîs transkribiert, was er in den Sternen gelesen hat (vgl. 454,24ff.); Kyôt entdeckt diese Verse, übersetzt sie und ergänzt sie durch Informationen um die Gralssippe, die er aus lateinischen Chroniken gewinnt (vgl. 455,1ff.). Der Erzähler in Wolframs Parzival greift auf Kyôts Erzählung zu und lobt diese ausdrücklich (vgl. 827,4), während die historische Vorlage — Chrétiens Conte du Graal — abgewertet wird. Unklar bleibt allerdings — dies soll im Rahmen des vorliegenden Artikels gezeigt werden — in welchem zeitlichen Verhältnis Chrétien gemäß der Erzählerrede zu Flegetânîs und Kyôt steht.

Auch die Rolle der frou âventiure gibt dem Rezipienten Rätsel auf: Der Erzähler inszeniert die Personifikation des Erzählens[5] als "Beglaubigungs- und Wissensinstanz und als Quelle der Inspiration"[Kellner 2009: S. 184], die auch Kyôt bereits mitgeteilt habe, wie dieser den Parzival-Stoff erzählen müsse (vgl. 453,6f.).

Angesichts dieser verworrenen Quellengeschichte und fehlender außerliterarischer Beweise — lange wurde etwa nach der Kyôt-Quelle gesucht[Lofmark 1977: S. 33ff.] — tendiert insbesondere die jüngere Parzival-Forschung dazu, hinter der Quellengeschichte eine Quellenfiktion zu vermuten. "Quellentreue wird", so die plausible These Beate Kellners, "inszeniert, doch im Modus der Abweisung der eigentlichen Quelle und der Fiktion einer vermeintlichen Quelle unterlaufen."[Kellner 2009: S. 180] Im Folgenden widmet sich der vorliegende Artikel deshalb dieser Inszenierung und zeigt Widersprüche auf, die die These einer Quellenfiktion stützen.

Flegetânîs und Kyôt

Mit Flegetânîs und Kyôt hat sich die Wolfram-Forschung intensiv auseinander gesetzt. Während es älteren Arbeiten häufig ein Anliegen war, historische Entsprechungen für die beiden Figuren zu finden und so die Authentizität der Quellen zu bestätigen[6], gehen jüngere Studien eher von einer Unentscheidbarkeit im Sinne einer vom Erzähler (bewusst) inszenierten Ambiguität aus[7] und/oder nehmen die mit diesem Problem einhergehenden Prämissen in den Blick[8]. Aufgrund der Fülle an Publikationen, die sich dieser Fragen unter dem Stichwort des Kyot-Problems angenommen haben, sei an dieser Stelle lediglich auf Carl Lofmarks überblickshafte Darstellung der Kyôt-Figur verwiesen:

„Kyot ist ein Provenzale; er hieß laschantiure […] und unterhielt ein Publikum mit Singen und Erzählen. Er hat die Geschichte Parzivals heidnisch gelesen und französisch erzählt (416,20 ff.).
Dieser bekannte Gelehrte hat in Dôlet (wohl Toledo) ein Buch in heidnischer (arabischer) Schrift entdeckt. Er hatte jene Schrift früher gelernt; âne […] schwarze Kunst. Erst er als Christ konnte dieses Buch verstehen, da das Wesen und die Geheimnisse des Grals heidnischer Wissenschaft unzugänglich sind. Das Buch war das Werk eines fisiôn Flegetanis, der mütterlicherseits von Salomon abstammte, aber von Vaters Seite ein Heide war […]. Flegetanis kannte alle Bewegungen der Himmelskörper und las in den Sternen, daß es ein Ding gebe, das der 'Gral' heißt und durch eine schar, deren Unschuld sie über die Sterne hoch gezogen haben kann, auf der Erde zurückgelassen wurde und später von Getauften (Christen) gepflegt wurde, die besonders würdig und zu diesem Dienst auserkoren sind. Kyot suchte nach der wahren Geschichte dieser neueren Gralshüter in lateinischen Schriften, bis er sie nach Lektüre der Landeschroniken in Britannien, Frankreich und Irland schließlich in Anschouwe fand. Hier las er von Mazadan und seinem ganzen Geschlecht und dazu, wie der Gral über Titurel und Frimutel auf Anfortas übertragen wurde. (453,5 ff.)." [Lofmark 1977: S. 34f.]

Flegetânîs ist demnach der erste (dem Erzähler bekannte) Rezipient der Gralsgeschichte, die er in sieben Versen niederschreibt:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Peter Knecht
454,24-30 'ein schar in ûf der erden liez:
diu fuor ûf über die sterne hôch.
op die ir unschult wider zôch,
sît muoz sîn pflegn getouftiu fruht
mit alsô kiuschlîcher zuht:
diu menscheit ist immer wert,
der zuo dem grâle wirt gegert.'
„Eine Schar von Wesen hatte ihn zurückgelassen auf der Erde, als sie hinauffuhren, ganz hoch, über die Sphäre der Sterne hinaus. War es ihre Unschuld, die sie heimzog? Wie auch immer, es müssen ihn seitdem getaufte Menschenkinder hüten, in Keuschheit und mit reinen Sitten. Es sind also immer ganz besonders edle Menschen, die zum Grâl bestellt sind."

Diese Geschichte, die weder die verschiedenen Mitglieder der Gralsfamilie, noch den Parzival-Stoff enthält, wird, so die Behauptung des Erzählers, von Kyôt mithilfe von Informationen aus Chroniken ergänzt (vgl. 455,2ff.) und zur Grundlage des Parzival.

Wolfram (Erzähler) und Chrétien

Die Kyôt-Quelle wird in Wolframs Parzival als Hauptquelle angeführt. Nicht nur das Wissen des Erzählers um die Parzival-Geschichte enstamme dieser Quelle; Kyôt habe ihm, so die Behauptung, sogar mitgeteilt, wie die Geschichte zu erzählen sei:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Peter Knecht
453,1-10 Swer mich dervon [diu verholnen mære umben grâl] ê frâgte
unt drumbe mit mir bâgte,
ob ichs im niht sagte,
umprîs der dran bejagte.
mich batez helen Kyôt,
wand im diu âventiure gebôt
daz es immer man gedæchte,
ê ez d'âventiure bræhte
mit worten an der mære gruoz
daz man dervon doch sprechen muoz.
Wenn mich vorher einer danach [nach den Geheimnissen des Grals] gefragt oder gar mit mir geschimpft hätte, weil ich's nicht erzählen wollte, so hätte der damit nichts erreicht, worauf er stolz sein könnte. Kyôt hat mich gebeten, es zu verschweigen. Dem wiederum hat die Aventiure eingeschärft, es dürfe nichts davon auch nur angedeutet werden, bis sie, die Aventiure selber, es zur Sprache gebracht hatte, dort nämlich, wo es der Geschichte willkommen wäre; dann aber müsse man sogar davon reden.

Weiterhin erklärt der Erzähler seinem Publikum, dass Kyôt (416,24) und Flegêtânis (435,24) wol bekant (435,10) seien. Dennoch nimmt die Einführung dieser Figuren und die Ausgestaltung ihrer Biographien in der Erzählung einen großen Raum ein. Vergleicht man dies mit der schlag­licht­ar­tigen Erwähnung anderer, historisch belegter, Autoren — etwa Hartmann von Aue (143,20) oder Chrétien de Troyes (827,1) — so erscheint dieser erzählerische Aufwand besonders auffällig. Die Forschung hat dieses Phänomen erkannt[Lofmark 1977: S. 41] [Ulrich 1985: S. 178] und sieht hierin u.a.[9] — und dieser Interpretation folgt der vorliegende Artikel — ein Fiktionalitätssignal[Ulrich 1985: S. 178f.].

Gestützt wird diese These durch den Befund, dass auch das zeitliche Verhältnis zwischen den Quellen Chrétiens und Kyôts auffällig unklar bleibt: Der Erzähler gibt an, beide Quellen zu kennen und erklärt weiterhin, dass auch Kyôt Kenntnis von Chrétiens Parzival-Erzählung habe und sich über diese ärgere, da Chrétien dem mære […] unreht getân (827,2) habe[10]. Wer nun aber in dieser Quellenlogik zuerst erzählt hat — Kyôt oder Chrétien — kann nicht zweifelsfrei geklärt werden.[11] Geht man davon aus, dass es sich bei Kyôt um eine fiktive Quelle handelt, stellt sich die Frage nach den realen Quellenverhältnissen zwar nicht; festzuhalten bleibt aber dennoch, dass sich hier eine, für die im Parzival inszenierte Quellengeschichte charakteristische, Unentscheidbarkeit hinsichtlich des genauen Quellenverhältnisses beobachten lässt, in deren Licht die "Quellenberufung" ein Anzeichen für die Fiktioanlität der Erzählerung zu sein scheint[Kellner 2009: S. 182].

frou âventiure

Als weitere Wissensinstanz installiert der Erzähler zu Beginn des IX. Buchs frou âventiure als Personifikation des Erzählens. Sie tritt unvermittelt auf, bildet hier den Übergang von der Gâwân- zur Parzival-Handlung und bittet den Erzähler um Einlass in dessen Herz. Dieser wiederum möchte von frou âventiure erfahren, wie es Parzival, den er zugunsten Gâwâns aus dem 'Fokus des Erzählens' verloren hatte (vgl. 433,1-434,10)[12], zwischenzeitlich ergangen ist, und präsentiert sich somit als ein Erzähler, der auf die âventiure als zuverlässige und wissende Erzählinstanz angewiesen ist. Vor dem Hintergrund dieser Begegnung zwischen Erzähler und frou âventiure ergibt sich für Situationen, in denen der Erzähler von der âventiure spricht, eine neue Lesart: Verweise auf die âventiure können so einerseits als Verweise auf die laut dem Erzähler bereits bekannte[13] Geschichte um den Gral und Parzival, andererseits aber auch als Verweise auf frou âventiure verstanden werden. Wenn die âventiure sagt (12,2; 95,26; 349,24; 381,30; 400,1; 508,27), giht (15,13; 158,12; 314, 8; 638,15; 789,18), kündet (432,2; 565,6; 589,30; 734,10), schwört (58,16) oder Figuren nennet (101,30)[14], scheint es vor dem Hintergrund der Personifikation, als sei der Erzähler unentwegt auf die Hilfe der frou âventiure angewiesen.

frou âventiure teilt sich mit dem Erzähler, darauf hat jüngst Sandra Linden hingewiesen[Linden 2014: S. 382], die Stellung zum Geschehen: Erzähler und âventiure befinden sich außerhalb der Parzival-Erzählung — kommunizieren also extradiegetisch miteinander — und können von den Figuren nicht wahrgenommen werden. Nicht korrekt ist hingegen Lindens Behauptung, dass der Erzähler "der einzige"[Linden 2014: S. 382] sei, für den eine Interaktion mit der âventiure möglich ist: Die bereits zitierte Erklärung des Erzählers aus dem IX. Buch — er behauptet, dass er nicht von den Gralswundern erzählen könne, da Kyôt ihn auf Geheiß der âventiure darum gebeten habe — enthält die Behauptung, dass auch Kyôt mit der âventiure kommunizieren könne und ist somit Ausdruck einer Erzählstrategie: "Kyot (bzw. die âventiure) wird hier für eine Erzählstrategie verantwortlich gemacht"[Nellmann 1988: S. 65], für "eine (in hohem Maße spannungsfördernde) Erzählform"[Nellmann 1988: S. 66] [15], die es nahelegt, die âventiure insofern als Personifikation der Erzählung, die sich nicht strikt von der Praxis des Erzählens trennen lässt, zu verstehen, als sie in ihrer Funktion als Erzählung (histoire) vom Erzähler (hier: Kyôt und Wolfram) eine bestimmte Form des Erzählens (discours) verlangt, um so — dies ist eine mögliche Lesart von 453,1-10 — Spannung zu erzeugen. Ähnlich argumentiert auch Martin Baisch, der hier eine wirkungsästhetische Erzählstrategie, deren Poetologie das Bogengleichnis[16] ist, vermutet:

"Die Erfahrung des Lesers wiederholt damit jene des Protagonisten im Roman, dessen Informationsstand freilich nur schwer, absichtlich schwer zu bestimmen ist. Das Bogengleichnis erläutert […] den Umgang mit dem Streuen von Informationen und zeigt, dass dieser Roman mit erheblichem wirkungsästhetischen Kalkül gearbeitet ist, dass narrative Effekte wie Überraschung oder Spannung angestrebt werden, die das Wissensbegehren der Rezipienten beeinflussen und steuern. Deutlich ist nämlich, wie über die Einfügung des Erzählerexkurses die Neugier Parzivals in jener des Lesers oder der Leserin des Romans 'gespiegelt' wird" [Baisch 2014: 211f.][17]

Widersprüche

Angesichts der zuvor rekonstruierten Quellensystematik ergeben sich in Wolframs Parzival Widersprüche, die aus der (extradiegetischen) Erzählerrede hervorgehen und einerseits den Informationsgehalt der angeblichen Quellen, andererseits die Rolle des Erzählers als Wiedererzähler und Neuerfinder sowie sein Verhältnis zu den Figuren betrifft.

Informationsgehalt der Quellen

Auf die Ungenauigkeit, mit der der Erzähler über die Inhalte der Quellen spricht, hat die Forschung mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Lesarten reagiert. Einen hilfreichen Überblick findet man bei Carl Lofmark:

"Der Inhalt jener Schrift, die Kyot entdeckt hat, wird verschieden aufgefaßt. Manche Forscher meinen, daß sie kaum mehr als den Manen und die Herkunft des Grals enthielt, wie nach 454,21 ff. zu schließen wäre: Flegetanis bietet den Anfang der Geschichte, dirre âventiure gestifte (453,14). Andere sehen sie als die Quelle für alles außer der Familiengeschichte Parzivals, die aus der später in Anjou entdeckten lateinischen Quelle geholt wurde. Es wird oft angenommen, daß die Schrift des Flegetanis eine reine Gralquelle darstelle, die noch nichts von Parzival enthalten könne. Dem widerspricht aber die Angabe 416,25 ff.:
Kyôt ist ein Provenzâl
der dise âventiur von Parzivâl
heidensch geschriben sach.
Kyot hat heidensch, d.h. arabisch, von Parzival gelesen. Auch das lag schon bei Flegetanis vor! Was soll er dann aus der anderen, der lateinischen Quelle haben, die ausdrücklich von der Parzivalsippe erzählt hat? Konsequent kann man entweder schließen, daß sie recht wenig zu bieten hatte […], oder daß beide Quellen Kyots die gleiche Geschichte erzählen"[Lofmark 1977: S. 46][18]

Der Erzähler verstrickt sich, so das Ergebnis von Lofmarks Rekonstruktion, in Widersprüche: Er behauptet, dass Flegetânîs, dessen Aufzeichnungen Kyôt entdeckt, nur die in sieben Versen mitgeteilte Botschaft (454,24-30) gelesen und transkribiert habe, gibt aber andererseits an, dass der Parzival-Stoff bereits in der Flegetânîs-Quelle, aus der Kyôt seine Informationen schöpfte, vorlag. Während das Verhältnis der Quellen (insbesondere das von Kyôt und Chrétien) aufgrund eines Informationsdefizits unentscheidbar ist, gestaltet sich die Frage nach dem Informationsgehalt der Quellen insofern problematischer, als hier durch die Aussagen des Erzählers ein explizit formulierter und unauflösbarer Widerspruch vorliegt. Larissa Schuler-Lang geht aufgrund der "Vielzahl offener Fragen" davon aus, "dass es sich hierbei um eine dichterische Absicht Wolframs handelt"[Schuler-Lang 2014: S. 80], der "einen beachtlichen erzählerischen Aufwand [betreibt]" und sich so "der Rückführung auf eine einzelne Vorlage" entzieht".[Schuler-Lang 2014: S. 81]

Wiedererzählen oder Erfinden?

Auch die Rolle des Erzählers als Wiedererzähler des Parzival-Stoffs erscheint in Wolframs Parzival problematisch: Wenn Gâwân auf Schastel marveile ein Fest veranstaltet (XIII. Buch) und der Erzähler erklärt, dass er nicht in der Lage sei, all die Speisen zu nennen, die dort aufgetragen werden, evoziert dieses Eingeständnis — das Wissen um die eigene (sprachliche) Unzulänglichkeit angesichts der kulinarischen Fülle des Fests— den Eindruck einer unmittelbaren Beobachtung des Geschehens:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Peter Knecht
637,1-4 Mîn kunst mir des niht halbes giht,
ine bin solch küchenmeister niht,
daz ich die spîse künne sagn,
diu dâ mit zuht wart für getragn.
Um meine Kunst ist es nun leider nicht so gut bestellt — ein ganz großer Küchenmeister bin ich halt nie gewesen —, daß ich auch nur die Hälfte von den Speisen nennen könnte, die da mit strenger Eleganz aufgetragen wurden.

Diese Aussage des Erzählers, der angibt, den Parzival-Stoff aus 'zweiter (bzw. dritter) Hand' erfahren zu haben, scheint paradox: Wenn die Rede des Erzählers auf Kyôt beziehungsweise dessen Quelle zurückgeht, dann kann er seine Informationen nur aus diesen Quellen beziehen und nur von ihnen ausgehend das Fest beschreiben[19]. Wenn er nun aber, wie im vorliegenden Fall, eine Diskrepanz zwischen beobachteter Fülle und eigenem sprachlichen Beschreibungsvermögen feststellt, so erweckt dies den Eindruck eines unvermittelten Zugriffs auf das Erzählte, d.h. als könne der Erzähler die erzählte Welt unmittelbar beobachten.

Weiterhin wird auch das Erzähler-Figuren-Verhältnis zum Gegenstand der Rede und insofern problematisch, als der Erzähler Metalepsen, d.h. die Möglichkeit, selbst ins Geschehen eingreifen zu können, andeutet und somit impliziert, als Erfinder des Erzählten für die Handlung verantwortlich zu sein. Seine Rolle changiert somit zwischen a) der des Wiedererzählers, wenn er explizit auf frühere Quellen verweist, b) der des direkten Beobachters, wenn er durch Kommentare den Eindruck eines unmittelbaren Zugangs zum Geschehen erweckt und c) der des Erfinders eines fiktionalen Texts, etwa wenn er behauptet, für das Schicksal der Parzival-Figur verantwortlich zu sein.

Fazit

Ausgehend von einer Rekonstruktion der verworrenen Quellensystematik identifiziert der vorliegende Artikel in Wolframs Parzival zahlreiche Widersprüche, die — so die abschließende These — Teil einer Erzählerstrategie und Erzählerinszenierung sind. Damit bestätigt der Artikel einen Lektüreeindruck Carl Lofmarks, demnach der Text durch ein close reading noch undurchsichtiger erscheint: "Wir hatten auf Schritt und Tritt mit Unklarheit, mit scheinbaren Widersprüchen, mit Zweideutigkeiten und hapax legomena zu tun, und das immer, wo Deutlichkeit am meisten erforderlich wäre"[Lofmark 1977: S. 55].

Die nun spannende Anschlussfrage lautet: Zu welchem Zweck verfolgt der Erzähler diese Strategie? Wieso sollte er die Zuverlässigkeit seiner Quellen durch Widersprüchlichkeiten infrage stellen, wenn es ihm um die Legitimation seiner Erzählung ginge? Dieses Wunsch scheint angesichts der sich häufenden Widersprüche nicht Ziel des Erzählverfahrens zu sein. Eine plausiblere Erklärung liefern möglicherweise jüngere Studien zu Wolframs Parzival, die sich mit dessen Gemachtheit (discours)[20] beschäftigen: Sie zeigen — häufig in Abgrenzung von Chrétiens Perceval —, dass bei Wolfram das Erzählen und die Fiktionalität des Erzählten deutlich in den Vordergrund treten. "Erzählinstanz und Erzählvorgang werden immer wieder thematisch, und die Vermittlungsleistung als solche präsent gehalten"[Bauschke 2014: S. 125]. Die Erzählung ermöglicht somit die "Problemerfahrung im fiktionalen Medium"[Haug 1992: S. 235] und unterstreicht mit den Mitteln der Metafiktion ihre eigene Fiktionalität[21] sowie mittels Metanarration ihre Erzähltheit. "Der Freiraum des Fiktionalen", so eine mögliche Erklärung, die sich bei Beate Kellner findet, "eröffnet sich gerade […] indem die Rolle des Erzählens als Wiedererzähler explizit überschritten wird."[Kellner 2009: S. 182] Nach Kellner beansprucht Wolframs Parzival einen "im Modell des Wiedererzählens ungewöhnlich großen Freiraum"[Kellner 2009: S. 187], da er gerade nicht auf eine Legitimation durch frühere Quellen zielt, sondern sich— dies zeigt insbesondere Ricarda Bauschkes Vergleich zwischen den Erzählerfiguren bei Chrétien und Wolfram[Bauschke 2014] —von der historisch belegten Quelle Chrétiens insofern entfernt, als der Erzähler durch die Häufung metanarrativer Passagen deutlich aktiver wird, sich immer wieder als Kommentator einschaltet, den Kommunikationsakt zwischen Erzähler und Leser sowie den Erzählakt zum Gegenstand seiner Erzählung macht, den Ursprung seiner Erzählung durch ein im vorliegenden Artikel rekonstruiertes Spiel von Verweisen und Widersprüchen undurchsichtig erscheinen lässt und durch die Andeutung von Metalepsen die Fiktionalität[22] der Erzählung impliziert.

Burkhard Hasebrink entdeckt auch hinter diesen "Fiktionalisierungen" ein Bewusstsein für die von Worstbrock theoretisch geprägte Praktik des Wiedererzählens. Unter Verweis auf Hans-Ulrich Gumbrechts Forschung zum Konzept der Latenz (Latency)[23] begreift Hasebrink das "Erneuern tradierter Erzählstoffe […] als 'Entbergen' latenter Möglichkeiten"[Hasebrink 2009: S. 207]: Wo die Vorlage(n) Raum für derartige Möglichkeiten lassen, kann ein Wiedererzähler diese ausschöpfen und erhält somit die Gelegenheit zur Fiktionalisierung.[24] Für Wolframs Parzival ergibt sich daraus, so Hasebrink, dass Wiedererzählen und Fiktionsspiel nicht im Widerspruch zueinander stehen müssen: "So kann selbst da (oder vielleicht eher: gerade da), wo sich Fiktionalität wie im Parzival Wolframs von Eschenbach beinahe ironisch selbst ausstellt, der Anspruch auf Erneuerung explizit zur Geltung gebracht werden."[Hasebrink 2009: S. 207]

Anmerkungen

  1. Die Begriffe Geschichte und Erzählung erlauben eine Differenzierung zwischen dem Parzival-Stoff (= Geschichte) und den verschiedenen Erzählungen (Wolfram, Kyot, Chrétien), die diesen beinhalten.
  2. Um im Folgenden besser zwischen Wolframs Parzival-Erzählung und der in dieser enthaltenen Parzival-Figur unterscheiden zu können, werden Verweise auf die Erzählung stets kursiviert.
  3. Auch das sog. "Kyot-Problem" wird ausgeklammert. Vgl. dazu u.a. [Bumke 2004: S. 244f.]
  4. Angaben im Folgenden nach [Parzival].
  5. Vgl. hierzu einen Beitrag von Sandra Linden, die zwei in der Forschung konkurrierende Lesarten — Personifikation der Erzählung vs. Personifikation des Erzählens — ausführt[Linden 2014: S. 369]. Der vorliegende Artikel geht dass es angesichts der Erzählerkommentare naheliegt, die Inszenierung der frou âventiure als Rechtfertigungsstrategie des Erzählers zu verstehen, die zwischen dem Inhalt der Erzählung (Personifikation der Erzählung) und dem Akt des Erzählens (Personifikation des Erzählens) vermittelt. Die Parzival-Erzählung fordert, so ließe sich diese These zusammenfassen, eine angemessene Darstellungsweise. Die explizit thematisierte Vorenthaltung von Information — etwa wenn der Erzähler erklärt, dass frou âventiure ihn darum gebeten habe, die Wunder des Grals noch nicht zu enthüllen (vgl. 453,1-10) — zeigt, wie der Erzählinhalt laut dem Erzähler die Erzählweise bestimmt.
  6. Vgl. ebd.
  7. Vgl. [Linden 2014: S. 380], [Schuler-Lang 2014: S. 76].
  8. Vgl. [Bauschke 2014: S. 113f.].
  9. Vgl. hingegen Lofmark, der ein Informationsgefälle zwischen Erzähler und Publikum als mögliche Ursache anführt:
    "Eindeutig ist die Behauptung, daß Kyot wol bekant ist. Das kann aber zumindest für Wolframs Hörerkreis nicht zutreffen, weil es dann unnötig wäre, ihn mit der Angabe grundsätzlicher biographischer Daten einzuführen. […] Nach 734,1ff. ist die Parzivalgeschichte Kyots noch unbekannt: es heißt dort, man habe bisher beklagt, das Ende der Geschichte nie erfahren zu können, nun trage aber Wolfram das Schloß der Erzählung in seinem Munde. Das Schloß muß folgerichtig Kyot heißen. Daß dessen Bericht noch unbekannt sei, impliziert mindestens, daß er niemals bis zu Wolframs Hörern gedrungen ist, kann aber auch besagen, daß er gar nicht öffentlich vorgetragen wurde". [Lofmark 1977: S. 41f.]
  10. Vgl. hierzu Lofmark:
    "Wolfram polemisiert nicht gegen Chrétien, kritisiert auch nirgends Chrétiens Angaben über Parzival und den Gral. Es heißt nur, daß Chrétien disem mære unreht getan habe. Wie das zu verstehen ist, bleibt unklar. Der betone Gegensantz zum endehaften Erzählen Kyots läßt vermuten, daß hier vor allem das Fragmentarische an Chrétiens Gedicht getadelt wird. Dann wäre diu rehte mære vornehmlich als 'die vollständige Geschichte' zu verstehen" [Lofmark 1977: S. 53f.]. Vgl. hierzu auch [Linden 2014: S. 380].
  11. Mindestens zwei Situation sind denkbar: 1) Chrétien hat, ähnlich wie Kyôt, Kenntnis vom Parzival-Stoff gewonnen und diesen, wenn man Wolfram und Kyôt glaubt, nicht angemessen erzählt. Möglich ist aber 2) auch — dies würde eine Zeitgenossenschaft der beiden Erzähler nahelegen —, dass zunächst Kyôts Erzählung vorlag und Chrétien danach — möglicherweise als Reaktion — seine Parzival-Erzählung entwickelt, die dann Kyôt verärgert.
  12. Vgl. auch [Curschmann 1971: S. 629].
  13. Vgl. sein Ziel, ein mære […] niuwen (4,9) zu wollen.
  14. Vgl. außerdem 59,4; 112,9f.; 123,14; 210,18 ; 224,1; 224,22; 224,26; 243,25; 271,24; 311,9; 434,10; 589,19.
  15. Vgl. zu diesem analytischen Erzählstil [Baisch 2014: S. 210f.].
  16. Vgl. zur Interpretation des Bogengleichnisses, insbesondere für einen Überblick über die verschiedenen Interpretationen [Schuler-Lang 2014: S. 67-75.].
  17. Vgl. hierzu auch [Schuler-Lang 2014: S. 61], wonach sich — auch wenn das Publikum durch das foreshadowing des Erzählers den Figuren an einigen Stellen voraus ist — "eine Art Synchronisierung des Wissens- und Erkenntnisstandes von Publikum und Protagonist" ergibt.
  18. Vgl. auch [Ulrich 1985: S. 178].
  19. Diese Annahme setzt voraus, dass sich der Erzähler an die von ihm selbst gesetzte Vorgabe ich sag als ichz hân vernomn (562,20) hält.
  20. Vgl. hierzu [Bauschke 2014: S. 116], die erkennt, dass sich gerade ältere Arbeiten auf die histoire konzentrieren, während die "jüngere Forschung […] durchaus sensibilisiert" ist und Fragen nach dem discours aufgreift.
  21. Vgl. auch [Rausch 2000].
  22. Vgl. für die Frage, ob Fiktionalität ein für mittelalterliche Literaturen zutreffendes Konzept ist [Kellner 2009: S. 175ff.].
  23. Vgl. etwa [Gumbrecht 2004].
  24. "Diesen Überschuß auszuschöpfen eröffnet gleichsam das Einfallstor für Fiktionalisierungen, die aber gleichwohl ihren Ort in der Transformation überlieferter und immer schon gestalteter Stoffe nicht verloren haben."[Hasebrink 2009: S. 207]


Literaturverzeichnis

Textausgabe

[*Parzival]Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.

Sekundärliteratur

<HarvardReferences />

  • [*Baisch 2014]Baisch, Martin: Ästhetisierung und Unverfügbarkeit. Strategien der Inszenierung von Wissen bei Wolfram und Chrétien, in: Susanne Köbele / Eckart Conrad Lutz / Klaus Ridder (Hrsg.): Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 207-250.
  • [*Bauschke 2014]Bauschke, Ricarda: Chrêtien und Wolfram. Erzählerische Selbstfindung zwischen Stoffbewältigung und Narrationskunst, in: Susanne Köbele / Eckart Conrad Lutz / Klaus Ridder (Hrsg.): Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 113-130.
  • [*Bumke 2004]Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart / Weimar 2004.
  • [*Curschmann 1971]Curschmann, Michael: Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs 'Parzival', in: DVjs 45 (1971), S. 627-667.
  • [*Gumbrecht 2004]Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt 2004.
  • [*Hasebrink 2009]Hasebrink, Burkhard: Die Ambivalenz des Erneuerns. Zur Aktualisierung des Tradierten im mittelalterlichen Erzählen, in: Ursula Peters / Rainer Warning (Hrsg.): Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, München 2009, S. 205-234.
  • [*Haug 1992]Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. Aufl., Darmstadt 1992.
  • [*Kellner 2009]Kellner, Beate: ein maere will i'u niuwen. Spielräume der Fiktionalität in Wolframs von Eschenbach Parzival, in: Ursula Peters / Rainer Warning (Hrsg.): Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, München 2009, S. 175-203.
  • [*Linden 2014]Linden, Sandra: Frau Aventiure schweigt. Die Funktion der Personifikationen für die erzählerische Emanzipation von der Vorlage in Wolframs 'Parzival', in: Susanne Köbele / Eckart Conrad Lutz / Klaus Ridder (Hrsg.): Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 359-388.
  • [*Lofmark 1977]Lofmark, Carl: Zur Interpretation der Kyotstellen im 'Parzival', in: Werner Schröder (Hrsg.): Wolfram-Studien 4, Berlin 1977, S. 33-70.
  • [*Nellmann 1988]Nellmann, Eberhard: Wolfram und Kyot als "vindære wilder mære". Überlegungen zu Tristan 4619-88 und Parzival 453,1-17, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 117 (1988), S. 31-67.
  • [*Rausch 2000]Rausch, Thomas: Die Destruktion der Fiktion. Beobachtungen zu den poetologischen Passagen in Wolframs von Eschenbach Parzival, in: ZfdPh 119 (2000), S. 45-74.
  • [*Schuler-Lang 2014]Schuler-Lang, Larissa: Wildes Erzählen — Erzählen vom Wilden. Parzival, Busant und Wolfdietrich D, Berlin 2014 (Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 7).
  • [*Ulrich 1985]Ulrich, Ernst: Kyot und Flegetanis in Wolframs Parzival. Fiktionaler Fundbericht und jüdisch-arabischer Kulturhintergrund, in: Wirkendes Wort 35 (1985), S. 176-195.
  • [*Worstbrock 1999]Worstbrock, Franz Josef: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Walter Haug (Hrsg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999, S. 128-142.