Frau Aventiure in Wolframs Parzival

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Der Erzähler des Parzival beruft sich immer wieder auf Frau Aventiure als Quelle seines Wissens und als Garant für die Richtigkeit dessen, was er berichtet. An manchen Stellen, wendet er sich sogar in wörtlicher Rede an sie. Eine ausführliche Analyse der verschiedenen Quellen oder Erzählerinstanzen des Parzival findet sich auch in Wolfram, Kyot, frou âventiure — Zum Ursprung der Geschichte in Wolframs Parzival. Hier soll im Gegensatz dazu jedoch ein Überblick über die Szenen und Stellen, in denen Frau Aventiure explizit erwähnt oder angesprochen wird, gegeben werden. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie und zu welchem Zweck dies geschieht.

Einleitung

Nellmann betont, dass "Beglaubigungsformeln" einen wichtigen Bestandteil der gesamten mittelhochdeutschen Dichtung darstellen und insbesondere auch gerne von den "arrivierten Autoren" der Zeit verwendet wurden, um sich von den "scophelîchen worten der 'Spielleute'" zu distanzieren. [Nellmann 1973: 50f.] Das literarische Publikum der Zeit sah zudem Fiktion als etwas "Minderwertiges" an und verlangte, von einem Dichter die reine Wahrheit präsentiert zu bekommen. Um dieser Forderung nachkommen zu können, nutzten die Poeten daher vielfältige Mittel, immer wieder die Richtigkeit und Glaubwürdigkeit ihrer Erzählungen und deren Quellen zu beteuern. Eines dieser Mittel ist die Berufung auf die personifizierte Aventiure als Quelle der Geschichte. Dass Wolfram diese und andere Beglaubigungsinstanzen wie zum Beispiel Kyot, die wârheit oder das maere so häufig zu Hilfe zieht, liegt nach Nellmann daran, dass das mittelalterliche Publikum "für jeden auffallenden Erzählzug [...] vom Autor eine erneute Bestätigung verlangte." [Nellmann 1973: 51] Generell nutzte Wolfram, wie seine zeitgenössichen Dichterkollegen auch, die Berufung auf seine Quellen, um Zahlenangaben und Personen- oder Ländernamen zu beglaubigen und für die Handlung zentrale Motive hervorzuheben. Dem heutigen Publikum mag dies unnötig erscheinen, für den wahrheitsfordenden, mittelalterlichen Rezipienten war es jedoch von großer Bedeutung.

Es ist zudem wichtig zu beachten, dass der Erzähler Frau Aventiure nie ohne Grund erwähnt. Die Betonung von Quellen hat immer eine besondere Funktion für die darauf folgende Handlung der Erzählung. Im Folgenden wird anhand ausgewählter Textstellen gezeigt, welche verschiedenen Arten der Nennung von Frau Aventiure im Parzival zu finden sind und welche verschiedenen Funtionen diese für den Kontext der Erzählung haben.

Ausgewählte Textstellen

Buch 1: Gahmurets Seefahrt (57,29 - 58,26)

Gahmuret hat seine Frau, die Mohrenkönigin Belacane, in Zazamanc verlassen und ist verholne (55,12 in aller Heimlichkeit) auf einem Schiff über das Meer geflüchtet. Über ein Jahr lang irrt das Schiff ziellos auf dem Meer umher, ein Spielball der Winde (die snellen winde im tâten wê 58,4). Nach all der Zeit begegnet Gahmuret jedoch mitten auf dem Meer ausgerechnet dem Schiff, das Vridebrants Boten aus Schottland (siehe: Isenhart) zu Belacane bringen soll. Von ihm erhält Gahmuret Schwert und Rüstung.

Der Erzähler kommentiert den Zufall wie folgt:

hie mugt ir grôz wunder losen, __________ Es ist ein großes Wunder, was ihr da hören könnt,
daz im der kocke widerfuor, __________ ich mein: daß ihm die Kogge einfach so begegnete.
als mir diu âventiure swuor. __________ Die Aventiure hat mir aber hoch und heilig versichert, daß es so war. __________ (58,14-16)

Der Erzähler verweist hier auf Frau Aventiure als Quelle seines Wissens, um seine Glaubwürdigkeit zu verteidigen. Denn dass Gahmuret ausgerechnet mitten auf hoher See auf Vridebrats Schiff trifft, muss dem Publikum doch sehr weit hergeholt erscheinen. Wolfram nutzt die "Beglaubigung" hier also in einer Szene, in der er " den Bereich der normalen Erfahrung seiner Hörer verlässt und Fremdartiges oder Wunderbares schildert." [Nellmann 1973: 63] Nellmann argumentiert auch, dass es sich hierbei um eine "ironischen Distanzierung" des Erzählers vom Erzählten handeln könnte. [Nellmann 1973: ebenda]

Buch 2: Gahmuret in Kanvoleis (58,27 ff.)

Gleich zu Beginn des zweiten Buchs, nachdem Gahmuret in Spanien an Land gegangen ist und festgestellt hat, dass sein Cousin König Kaylet auf Ritterfahrt ist, tritt Frau Aventiure erneut in Erscheinung:

dô hiez ouch er bereiten sich __________ Da befahl auch unser Held -
(sus wert diu âventiure mich) __________ die Aventiure war so freundlich, mir das mitzuteilen -
mit speren wol gemâlen... __________ zu rüsten: schön angemalte Speere... __________ (59,3-6)


Die Nennung der Aventiure dient hier vornehmlich der Gliederung der Erzählung. Der Erzählstrang des vorangegangenen Buchs (in dem Gahmuret zuletzt von Bord ging) wird wieder aufgenommen und mit der jetzigen Situation verknüpft, in der Gahmuret rüsten lässt, um Kaylet zu folgen. Durch die erneute Erwähnung der personifizierten Aventiure wird hier also ein übergreifender Bogen vom ersten zum zweiten Buch gespannt.[1]

Eine ebenso gliedernde Funktion in Zusammenhang mit Frau Aventiure lässt sich auch an folgenden Stellen beobachten: [Nellmann 1973: Vgl.64]

12,3: __________ Als uns diu âventiure saget,... __________ Wie die Geschichte uns erzählt,...
95,27: __________ als mir diu âventiure sagt,... __________ Die Geschichte hat mir berichtet,...
97,11: __________ diz lobte si, wart mir gesagt... __________ Das versprach sie ihm, hat man mir berichtet
271,24: __________ aldâ schieden die helde sich, / diu âvetiur wert mære mich. __________ Die Helden gingen also hier auseinander, wie mir die Geschichte versichert.
434,11: __________ nu tuot uns de âventiure bekant,... __________ Und jetzt läßt uns die Aventiure wissen:...
435,2: __________ diu âventiure uns kündet / daz Parzivâl... __________ Die Aventiure erzählt uns, daß Parzival,...


Bei den letzten drei Beispielen lässt sich zudem argumentieren, dass die Erwähnung der Aventiure zusätzlich dazu dient, den Vers um einen eleganten Reim zu ergänzen. Nellmann weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass dies in den seltensten Fällen der primäre oder sogar alleinige Grund ist.[Nellmann 1973: 66f.] Und auch hier gilt es deutlich zu betonen, dass es sich bestenfalls um einen "Bonus" handelt, dass sich der Reim so passend fügt. Primär geht es, wie erwähnt, um die gliedernde Funktion.

Buch 5: Parzival auf der Gralsburg (244,1 ff.)

Das fünfte Buch bildet den ersten Höhepunkt der Romanhandlung. Hier trifft Parzival zum ersten Mal auf Anfortas, der ihm den Weg nach Munsalvaesche weist. Auf der Burg wohnt Parzival dann dem wundersamen Gralsritual bei und begeht den zentralen Fehler des Frageversäumnisses.

Das Buch wird sogleich mit Frau Aventiure eingeleitet:

Swer ruochet hoeren war nu kumt __________ Wer Lust hat zu hören, wohin nun der kommt,
den âventiur hât ûz gefrumt, __________ den die Aventiure hinausgeschickt hat,
der mac grôzui wunder __________ der hat Gelegenheit, lauter große und wunderbare Dinge
merken al besunder. __________ zu bemerken. __________ (224,1-4)


Die Aventiure wird hier erwähnt, um das Publikum auf die nun folgende Erzählung aufmerksam und neugierig zu machen. So spricht der Erzähler ganz direkt von folgenden grôziu wunder (224,3: große[n] und wunderbare[n] Dinge[n]). Zudem ist die Aventiure der Motor für die folgende Handlung, da sie in ihrer personifizierten Form, den Helden in die kommenden Abenteuer entsendet.

Gleich im Anschluss daran verwendet Wolfram Frau Aventiure erneut, um Details der Erzählung hervor zu heben:

uns tuot die âventiure bekant __________ Die Aventiure hat uns mitgeteilt,
daz er bî dem tage reit, __________ daß er an diesem Tag so weit ritt,
ein vogel hetes arbeit __________ daß ein Vogel Mühe hätte,
solt erz allez hân erflogen. __________ wenn er die ganze Strecke erfliegen sollte.
mich enhab diu âventiure betrogen, __________ Wenn mich die Aventiure nicht belogen hat,
sîn reise unnâch was sô grôz __________ so ist die Reise, die er machte
des tages do er Ithêren schôz, __________ an dem Tag, als er den Ithêr totschoß
unt sît dô er von Grâharz __________ und als er nachher von Grâharz
kom in daz lant ze Brôbarz. __________ bis in das Land Brôbarz kam, lange nicht so weit gewesen. __________ (224,22-30)


Der Erzähler beruft sich hier auf die Aventiure als Quelle seines Wissens, um damit zu unterstreichen, wie unfassbar weit die Distanz ist, die Parzival hier in nur einem Tag zurücklegt. Es ist typisch, dass der Erzähler dies tut, um Dimensionen von beschriebenen Gegenständen, Personenmerkmale oder wie hier Distanzen zu maximieren und gleichzeitig seiner Erzählung Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Indem er nämlich eine andere Quelle als sich selbst ins Spiel bringt, kann er jegliche Übertreibung seinerseits von sich weisen. Mögliche Angriffspunkte für Publikumseinwände werden sozusagen gleich im Vorfeld entkräftet. Der Erzähler selbst wird dadurch zum reinen Übermittler der Geschichte und ist für deren Inhalt und Richtigkeit insofern nicht mehr verantwortlich. Wer ihm nicht glaubt, oder die Richtigkeit seiner Angaben in Frage stellt, wird auf Frau Aventiure weiter verwiesen, die ja wiederum für eine direkte Nachfrage nicht greifbar ist. Somit muss der Rezipient der Erzählung es wohl oder übel dabei belassen, dem Erzähler zu glauben.
Des Weiteren ließe sich auch an dieser Stelle mit Nellmann argumentieren, dass der Erzähler eine ironisch distanzierte Stellung zum Erzählten einnimmt und Wolfram hier vielleicht sogar "humoristische Absichten" verfolgte. [Nellmann 1973: 63]

Buch 7: Wechsel von Parzival zu Gawan (280,1 ff.)

Das 7. Buch beginnt mit dem Wechsel der Erzählung von Parzival zu Gawan. Dieser befindet sich auf dem Weg zum Gerichtskampf in Ascalun, gerät aber zuvor in Bearosche in die Streitigkeiten zwischen König Meljanz von Liz und Obie[2]. Obies Schwester Obilot kann Gawan schließlich dafür gewinnen, als ihr Ritter einzugreifen und den Kampf mit der Festnahme Meljanz' für sie zu entscheiden.

Der Erzähler verweist bereits in den ersten Versen des Buches auf Frau Aventiure, um damit den abrupten Wechsel des Erzählstrangs zu begründen. Erst durch diesen Rückgriff auf die fiktive Quelle und die Beteuerung, dass seine Aventiure eben gerne auch andere Figuren neben dem eigentlichen Helden der Geschichte ins Blickfeld bringt, wird dieser Sprung in der Erzählung überhaupt möglich. Frau Aventiure dient hier also der Entlastung des Erzählers gegenüber der Kritik des Publikums, die zu erwarten wäre. [Nellmann 1973:Vgl. 64]

Der nie gewarp nâch schanden __________ Der, den seine Taten nie in Schande brachten,
ein wîl zuo sînen handen __________ soll nun diese Geschichte für eine Weile
sol nu dise âventiure hân __________ in die Hand nehmen;
der werde erkande Gâwân. __________ wir kennen ihn als einen Mann von Adel: es ist Gâwân.
diu prüevet manegen âne haz __________ Unsere Geschichte urteilt sine ira et studio,[3]
derneben oder für in baz __________ sie läßt daneben oder sogar vor dem eigentlichen Helden, Parzivâl,
dan des mæres hêrren Parzivâl. __________ noch so manchen anderen gelten. __________ (338,1-7)

Buch 9: Rückkehr zur Parzival-Erzählung (433,1 ff.)

Frau Aventiure kommt zu Wort

Bei dieser Stelle handelt es sich wohl um die prominenteste und wichtigste in Bezug auf Frau Aventiure. Diese meldet sich hier höchst selbst in wörtlicher Rede zu Wort und spricht den Erzähler im Dialog an. Sie muss zunächst durch vehemente Aufforderung seine Aufmerksamkeit erlangen, da der Erzähler sie im ersten Moment nicht erkennt. Die Szene erinnert an eine Person, die an eine Tür klopft. Auch hier muss die Person hinter der Tür erstmal erfragen, wer denn da ist.

'Tuot ûf.' wem? wer sît ir? __________ "Macht auf!" Wem? Wer seid Ihr?
'ich wil inz herze dîn zuo dir.' __________ "Ich will zu dir in dein Herz." __________ (433,1-2)


Nachdem sich Frau Aventiure zu erkennen gegeben hat, weckt sie dann aber die Neugier des Erzählers, der sie sogleich mit allerlei Fragen nach Parzival bedrängt:

jâ sît irz, frou âventiure? __________ Ja so, Ihr seid es, Frau Aventiure!
wie vert der gehiure? __________ Wie geht's ihm denn, dem Schönen?
ich meine den werden Parzivâl,... __________ Den edlen Parzivâl meine ich,... __________ (433,7-10)

Der ganze Dialog erstreckt sich über die Zeilen 433,1 bis 434,10. Die Fragen des Erzählers an Frau Aventiure werden hier nur in Auszügen wiedergegeben:

[...] wie vert er nuo? __________ Wie geht es ihm auf seinem Weg?
den selben mæren grîfet zuo, __________ Nehmt nun diesen Teil der Erzählung wieder in die Hand,
ober an freusen sî verzagt, __________ und sagt, ob er an seinem Glück verzweifelt;
oder hât er hôhen prîs bejagt? __________ oder hat er hohen Ruhm erbeutet?
oder ob sîn ganziu werdekeit __________ Und seine ganze Herrlichkeit,
sî beidiu lang unde breit, __________ ist sie fern und weit dahingebreitet,
oder ist si kurz oder smal? __________ oder ist sie kurz und schmal?
nu prüevet uns die selben zal, __________ Führt sie uns vor, die Summe seiner Taten,
waz von sîn henden sî geschehen. __________ alles was von seinen Händen etwa geschehen ist. __________ (433,15-23)


Nachdem sich die vorangegangenen zwei Bücher mit Gawan beschäftigt haben, fordert der Erzähler Frau Aventiure nun auf, wieder zur Parzivalhandlung zurück zu kehren. Als Parzival im 6. Buch von Sigune über seine Verfehlung in Munsalvaesche aufgeklärt und mit dem Fluch belegt wurde, verschwand der Held im Anschluss daran sozusagen in der Geschichte. Die Gawanepisoden wurden eingeschoben. Doch nun, zu Beginn des 9. Buchs, wird auf Drängen und Nachfragen der Erzählers der rote Faden von Parzivals Geschichte wieder aufgegriffen. Der Erzähler spricht in seinem Dialog mit Frau Aventiure die Fragen laut aus, die sich der Rezipient der Erzählung stellt: "Was ist mit Parzival in der Zwischenzeit geschehen?". "Wo war er und was hat er erlebt?".
Die Handlung wird somit dort wieder aufgenommen, wo sie im 6. Buch geendet hat, als Parzival von Artus' Hoflager davongeritten ist.

lât hœren uns diu mære, __________ Laß es uns hören,
ob Parzivâl dâ wære,' __________ ob Parzival dort gewesen ist,
beidiu iur hêrre und ouch der mîn. __________ Euer Herr und meiner auch.
nu erliuhtet mir die fuore sîn: __________ Werft euer Licht auf seine Straße:
der süezen Herzeloyden barn __________ Der süßen Herzeloyde Kind,
wie hât Gahmurets sun gevarn, __________ wie ist es ihm ergangen, dem Sohn des Gahmuret, __________ (433,29 - 343,5)


sagt mir sîn site und al sîn pflegn. __________ Sagt mir, wie's ihm geht und was er treibt. __________ (434,10)


Zum Schluss erhört Frau Aventiure das Bitten und Drängen des Erzählers und beginnt zu berichten, was Parzival nach seinem Aufbruch vom Artuslager und bei Trevrizent erlebt und erfahren hat:

nu tuot uns de âventiure bekant, __________ Und jetzt läßt uns die Aventiure wissen:
er habe erstrichen manec lant,... __________ durch viele Länder sei er gestrichen... __________ (434,11)


Frau Aventiure verbietet die Erzählung

mich batez helen Kyôt, __________ Kyôt hat mich gebeten, es zu verschweigen.
wand im diu âventiure gebôt __________ Dem wiederum hat die Aventiure eingeschärft,
daz es immer man gedæhte, __________ es dürfe nichts davon auch nur angedeutet werden,
ê ez d'âventiure bræhte __________ bis sie, die Aventiure selber, es zur Sprache gebracht hätte,
mit worten an der mære gruoz, __________ dort nämlich, wo es der Geschichte willkommen wäre;
daz man dervon doch sprechen muoz. __________ Dann aber müsse man sogar davon reden . __________ (453,5-10)


Hier wird der Erzähler quasi indirekt zum Schweigen verpflichtet, indem Frau Aventiure Kyôt an des Erzählers Stelle die Sprache verbietet. Dieses Verbot gilt jedoch nur, bis die Aventiure selbst es aufhebt, nämlich dann, wenn es der weiteren Geschichte zugute kommt. Dies schürt einerseits die Neugierde des Publikums und soll andererseits das Geheimnisvolle und Magische des Grals hervorheben, von dem im Folgenden dann berichtet wird. [Singer 1916: 25] Gerade die doppelte Versicherung durch Quellen - Frau Aventiure einerseits und Kyot andererseits - unterstreicht, dass es hier um die Schilderung von etwas ganz Besonderem gehen muss. Und das selbst dann noch, wenn wir annehmen, dass es sich bei Kyot gleichermaßen wie bei Frau Aventiure um eine Erfindung Wolframs handelt. [Nellmann 1973: Vgl. 55f.]

Buch 15: Der Kampf von Parzival gegen Feirefiz (743,1 ff.)

An dieser Stelle steigt der Erzähler nicht einfach erneut in seinen Bericht ein, sondern gibt eine lange Einleitung:

Vil liute des hât verdrozzen __________ Viele von den Leuten, vor deren Nasen __________
den diz mær was vor beslozzen: __________ die Tür dieser Geschichte zugeschlagen wurde, hat das geärgert: __________
genuoge kundenz nie ervarn. __________ Nicht wenige haben nie erfahren, wie es ausgeht. __________
nu wil ich daz niht langer sparn, __________ Jetzt ist der Augenblick gekommen, da ich es nicht länger bei mir behalte, __________
ich tuonz iu kunt mit rehter sage, __________ sondern euch mit wohlgesetzten Worten offenbare - __________
wande ich in dem munde trage __________ denn meinem Mund ist es gegeben, __________
daz slôz dirre âventiure, __________ den Roman zu binden und zu lösen -, __________
wie der süeze unt der gehiure __________ wie der liebe und der schöne __________
Anfortas wart wol gesunt. __________ Anfortas heil wurde und gesund. __________
wie... __________ Die Geschichte teilt uns mit, wie... __________ (743,1-11)


Da er hervorhebt, das nicht einfach Jedermann das Ende seiner Erzählung zu hören bekommt und dass es durchaus Personen gibt, die dieses Privileg nicht erhalten haben, erhebt er seine Hörer in einen kleinen, feinen und vor allem exklusiven Kreis. Indem das Publikum hier also "geadelt" wird, wird die Spannung auf die folgende Erzählung immens gesteigert. Besonders der Verweis, dass diejenigen, die die Geschichte nicht zu Ende gehört haben, darüber sehr enttäuscht waren, trägt enorm zu diesem Effekt bei. Endlich soll nun erfahren werden, wie Anfortas geheilt wurde und der Ausgang der Romans - auf den die Zuhörer mit Spannung erwarten - wird preisgegeben. Zusätzlich zögert der Erzähler den Einstieg in die Erzählung mit den verwendeten Formeln zeitlich weiter heraus und erzeugt dadurch weitere Spannung und Neugier beim Publikum. Erst mit der Formulierung nu wil ich daz niht langer sparn (743,4: jetzt ist der Augenblick gekommen...) werden die Zuhörer endlich erlöst. Die Betonung von rehter sage (743,5: wohlgesetzte Worte) und die Tatsache, dass es gerade seinem munde (743,6) gegeben ist - es sozusagen allein ihm von Frau Aventiure erlaubt wurde, zu berichten - "adelt" den Erzähler und macht ihn dem privilegierten Publikum gegenüber würdig. Die gesamte Einleitungsformel dient also vor allem der Steigerung der Spannung und der Erwartung beim Publikum und leitet gleichsam Buch 15 und 16 ein, in denen die gesamte Romanerzählung ihr Ende findet.

Fazit

Der Erzähler beruft sich auf die personifizierte Aventiure als Wissensquelle und als Garantie für die Richtigkeit dessen, was er berichtet. So werden ganz allgemeine Angaben wie Distanzen, Zahlen, Beschreibungen, Namen etc. häufig durch Verweise auf die Quelle verifiziert. Der Erzähler zieht sie vor allem dann als Mittel zur Verteidigung seiner Glaubwürdigkeit hinzu, wenn diese Glaubwürdigkeit vom Publikum angezweifelt werden könnte, weil das Erzählte zu wundersam erscheint. Dann immer kann er sich mit einer persönlichen Stellungnahme hinter seine Quelle zurück ziehen und darauf verweisen, dass er selbst das Erzählten ja auch sonderbar finde, Frau Aventiure ihm aber versichert habe, dass alles der Richtigkeit entspricht. Frau Aventiure dient daneben aber auch als Stilmittel, um Passagen der Erzählung miteinander zu verbinden, den roten Faden wieder aufzunehmen und in folgende Verse elegant einzuleiten. An vielen Stellen - insbesondere am Anfang des 9. Buches - wird durch den Rückgriff auf Frau Aventiure die Spannung und Neugier des Publikums gesteigert und dadurch die folgende Erzählung quasi "mit einem Trommelwirbel" eingeleitet. Nicht zuletzt ist Frau Aventiure die Instanz, die dem Erzähler die Erzählung gleichermaßen erlaubt und von ihm fordert zu berichten. Somit verkörpert sie die Erlaubnis, den Erzählanlass und den Motor der Erzählung zugleich.

Anmerkungen

  1. Ein solcher Bogen findet sich auch zwischen Buch 11 und 12 (582,29 - 583,7): Gawan legt sich slâfen (schlafen), danach ist von rouwe (Ruhe) die Rede. Frau Aventiure nimmt dann die Erzählung wieder auf.
  2. Das Liebesverhältnis zwischen Obîe und Meljanz
  3. [1] bedeutet in etwa "ohne Zorn und Eifer".


Literaturverzeichnis

Textausgabe

Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York, 2003.

Sekundärliteratur

<HarvardReferences/> [*Nellmann 1973] Nellmann, Eberhard: Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers. Wiesbaden, 1973. S.50-73.
[*Schulz 2012] Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin [u.a.], 2012.
[*Singer 1916] Singer, Samuel: Wolframs Stil und der Stoff des Parzival. Wien, 1916.