Parzival als Entwicklungsroman (Wolfram von Eschenbach, Parzival): Unterschied zwischen den Versionen

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[*Gerhard 1926] Gerhard, Melitta: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes ''Wilhelm Meister'', Saale 1926.
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Aktuelle Version vom 10. Mai 2024, 22:25 Uhr

Im folgenden Artikel soll zuerst eine Definition des Entwicklungsromans gegeben werden. Anschließend soll auf ein Modell des Mittelalters, das aetates-Modell, eingegangen werden, das sich auf die verschiedenen Phasen, in denen sich ein Mensch im Laufe seines Lebens befindet, bezieht und überprüft werden, inwieweit dieses Schema auf den Parzival anwendbar ist.


Definition Entwicklungsroman

In der Forschung finden sich mehrere Annäherungen an den Begriff des "Entwicklungsromans". Robert Pesch etwa ordnet ihn in der Nähe des Epos und der Saga ein, da er ihn "als eine Art Heldengeschichte vom vorbildlichen Menschen oder von dem Träger hoher menschlicher Möglichkeiten" betrachtet. [Petsch 1942: 296]. Der Protagonist würde zudem durch Proben, Konflikte oder Belehrung in seiner Entwicklung weiter vorangetrieben werden. [Petsch 1942: 298]

Melitta Gerhard geht in ihrer Definition vor allem auf den Inhalt ein, indem sie Werke dem Entwicklungsroman zuordnet, "die das Problem der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der jeweils geltenden Welt, seines allmählichen Reifens und Heranwachsens in die Welt zum Gegenstand haben[...]." [Gerhard 1926: 1]. So betrachtet sie den Parzival Wolframs auch als "den ersten deutschen Entwicklungsroman" [Gerhard 1926: 10], da "das Problem der Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem geistigen und gesellschaftlichen Kosmos seiner Zeit, als allmählichen Werdeprozess, zum ersten Mal gestaltet[...]" wird. [Gerhard 1926: 10]

Im Hinblick auf die Unterscheidung vom Bildungsroman und Entwicklungsroman bezeichnet Selbmann den Bildungsroman als "eine historisch genau eingegrenzte Romanart oder -gattung" [Selbmann 1984: 9], wohingegen der Entwicklungsroman als "ahistorischer Romantyp"[Selbmann 1984: 9] klassifiziert werden kann.

Aus all diesen verschiedenen Ansätzen ergibt sich für Sassenhausen die Schlussfolgerung, dass der Entwicklungsroman nicht historisch eingeordnet werden muss und sich nicht auf ein bestimmtes Entwicklungskonzept konzentriert. [Sassenhausen 2007: 36] Für den Entwicklungsroman lassen sich zwei bestimmte Merkmale festmachen: Zum einen konzentriert sich die Handlung des Romans auf einen Protagonisten und seine Entwicklung und zweitens ist diese Handlung biographisch angelegt. [Sassenhausen 2007: 36]

aetates - Lebensalter im Mittelalter

Autoren im Mittelalter, die ein biographisch ausgerichtetes Werk verfassten, orientierten sich am aetates-Modell, welches das Leben der Menschen in verschiedene Phasen gliederte. [Sassenhausen 2007: 45] Am verbreitetsten war dabei die Einteilung in sechs Lebensalter. [Sassenhausen 2007: 52]. Dies kann damit erklärt werden, dass sich diese Einteilung bereits bei Kirchenvätern wie Augustinus oder Isidor finden lässt. [Sassenhausen 2007: 52] Diese sechs Lebensalter sollen im Folgenden mit dem Entwickungsstand des Menschen in der jeweiligen Phase genannt werden. Parallel dazu soll untersucht werden, inwieweit sich dieses Modell auf den Protagonisten in Wolframs Parzival beziehen lässt.


infantia

In der infantia ist der Mensch noch zahnlos, nicht in der Lage, aufzustehen und zu gehen und von der Amme abhängig. [Sassenhausen 2007: 68] Die kognitiven Fähigkeiten sind wenig ausgeprägt, da der Mensch in dieser Phase noch ohne Erinnerungsvermögen und zudem noch nicht zur Sprache fähig ist. [Sassenhausen 2007: 68]

In dieser Phase ist Parzival stark von seiner Mutter Herzeloyde abhängig, welche die Rolle der Amme übernimmt (113,9-10) [1]. Zudem macht Herzeloyde an einer Stelle eine Aussage über Parzival, wo sie angibt, dass Parzival noch nicht gelernt hat, zu denken (117,19).

Auffällig ist, dass Parzival bei seiner Geburt als sehr groß (112,5-8) und bereits gebaut wie ein Mann (112,21-27) beschrieben wird. Für seine Mutter dient er vor allem als Ersatz für ihren verstorbenen Ehemann Gahmuret (113,13-14) und sie sagt ihm eine große Zukunft voraus (112,28-30). Somit übernimmt Parzival bei seiner Geburt und im Säuglingsalter bereits die Rolle eines Erwachsenen, da er einerseits seinen Vater ersetzen muss und andererseits schon auf sein Schicksal als erwachsener Mann Bezug genommen wird.


pueritia

In der pueritia setzt die Körperbehaarung bereits ein, der Mensch ist in dieser Phase aber noch nicht geschlechtsreif. [Sassenhausen 2007: 68] Im Gegensatz zur infantia setzt nun das Erinnerungsvermögen ein und der Mensch ist zu eingeschränkter Verstandeskraft sowie Sprache fähig. [Sassenhausen 2007: 68]Im Hinblick auf das Sozialverhalten ist der Mensch in dieser Phase noch ungestüm und es bedarf deshalb der Erziehung durch einen Erwachsenen. [Sassenhausen 2007: 68]

In der pueritia werden Parzivals Beine noch als weiß beschrieben (127,4), d. h. die Behaarung hat noch nicht eingesetzt. Dass Parzival bereits Erinnerungsvermögen besitzt, zeigt sich in der Szene, als er sich daran erinnert, wie ihm seine Mutter von Gott erzählt hat (122,21-24). Zudem ist er in der Lage zu sprechen, was in Gesprächen mit seiner Mutter (19,9-30; 125,29-128,12) und den Rittern (121,1-124,21) deutlich wird. Vor allem in der Begegnung mit den Rittern wird Parzivals mangelnde Verstandeskraft und Ungestümtheit deutlich, da er die Ritter für Gott hält (121,29-30) und zudem viele Fragen stellt (122,25-124,21). Fehlender Verstand wird ihm auch von den Rittern selbst attestiert, die sagen, dass Parzival keinen Verstand besäße (124,19-20).

Sein Verhalten gegenüber den Rittern ist aber auch seiner defizitären Erziehung durch Herzeloyde geschuldet, welche ihn in der Einöde von Soltane (117,7-9) aufwachsen lässt und verbietet, dass vor ihm jemals von Rittern gesprochen wird (11721-23). Doch trotz dieser Isolierung hat Parzival ein Verlangen nach der Ferne, da er ganz melancholisch wird, als er das Singen der Vögel hört (118,14-17). Ungewöhnlich für sein Alter ist zudem, dass Parzival von außergewöhnlicher Schönheit ist, was ihm von den Rittern attestiert wird (123,16-17) und er bereits ein guter Jäger ist, der schweres Vieh erlegen kann (120,7-10).

Was die äußere Erscheinung betrifft, scheint Parzival in der pueritia, abgesehen von der Körperbehaarung, bereits sehr gut entwickelt, da er als sehr schön beschrieben wird und bereits gute Jagdfähigkeiten besitzt. Im geistigen und sozialen Bereich liegt er jedoch zurück, da sein Verstand noch wenig ausgeprägt und er ungestüm ist, was vor allem seiner mangelhaften Erziehung durch seine Mutter geschuldet ist.


adolescentia

In diesem Lebensalter ist der Mensch zeugungsfähig. [Sassenhausen 2007: 68] Hinsichtlich der gesellschaftlichen Einbindung ist die Person eingeschränkt mündig, im Hinblick auf die soziale und emotionale Ebene jedoch noch ungestüm und wie in der pueritia ist weiterhin Erziehung notwendig. [Sassenhausen 2007: 68]

Auch Parzival ist in seiner adolescentia zeugungsfähig. Der Leser erfährt gegen Ende des Buches, dass Condwiramurs mit zwei Söhnen schwanger ist (743,14-20), während Parzival auf Gralssuche ist. Allerdings muss er den Geschlechtsverkehr erst noch erlernen, da er und Condwiramurs in der Hochzeitsnacht keusch bleiben und es zum ehelichen Verkehr erst in der dritten Nacht kommt (202,21-203,11). Dass Parzival allerdings noch Erziehung benötigt, wird deutlich, als er sich bei Trevrizent aufhält, der ihn über Gott, den Gral, Anfortas' Leiden und Parzivals begangene Sünden aufklärt (452,15-502,30). Auch gerade im Gespräch mit Trevrizent kann eine gewisse Wankelmütigkeit Parzivals festgestellt werden, da er immer wieder Gotteszweifel äußert.

Folglich kann die Beschreibung der adolescentia-Phase gut auf den Parzival angewendet werden.


iuventus

In dieser Phase ist das Wachstum abgeschlossen und im Hinblick auf die soziale, emotionale und gesellschaftliche Dimension ist der Mensch gereift, da er nun öffentliche Ämter sowie Verantwortung für den Sozialverband und die eigene Familie übernehmen kann und emotional ausgeglichen ist. [Sassenhausen 2007: 68-69]

Parzival übernimmt in seiner iuventus sowohl Verantwortung für Anfortas, indem er ihn von seinen Leiden erlöst (795,28-29), für die Gralsgesellschaft, indem er als deren neuer Herrscher berufen wird (796,17-21) und für seine Frau und seine Kinder, mit denen es zu einem Wiedersehen kommt (796,28-802,10). Er sorgt zudem für die Zukunft seiner Kinder, indem er ihnen ein Erbe zuweist (803,13-16). Somit ist auch die iuventus-Phase gut auf Parzival übertragbar.


gravitas/senior

In dieser Phase zeichnet sich der Mensch zu einer großen Weisheit aus, ruht in sich und ist vor allem durch die Erinnerung an Vergangenes dominiert. [Sassenhausen 2007: 69]

senex

In diesem letzten Lebensalter fällt der Mensch in kognitiver, sozialer und emotionaler Hinsicht auf die Stufe der puertitia zurück [Sassenhausen 2007: 69]

Die beiden Phasen der gravitas/senior und senex kann auf den Parzival nicht angewendet werden, da die Erzählung mit dem Anritt seiner Gralsherrschaft und nicht etwa mit Parzivals Tod endet. Der Parzival fällt aber durchaus in die Tradition des Mittelalters, wo der Autor die Geschichte des Protagonisten gewöhnlich im "beste[n] Mannesalter" [Zellmann 1996: 89] enden lässt. Laut Ruth Sassenhausen ist dies darauf zurückzuführen, dass der Protagonist in der iuventus-Phase viele Herausforderungen wie Liebe, Kämpfe, Abenteuer und Reisen zu meistern habe. [Sassenhausen 2007: 46]

Fazit

Der Parzival kann als Entwicklungsroman bezeichnet werden, da Parzival der Protagonist des Romans ist und seine Entwicklung mit der Kindheit über die Pubertät bis ins Erwachsenenalter führt. Das aetates-Modell des Mittelalters lässt sich für die ersten vier Phasen gut auf den Parzival anwenden. In der infantia ist Parzival abhängig von seiner Mutter, nimmt jedoch bereits als Gahmuret-Ersatz und zukünftiger Heilsbringer eine außergewöhliche Stellung ein, in der pueritia ist Parzivals Verstand noch defizitär und die Erziehung Herzeloydes trägt dazu bei, dass sich seine Entwicklung gar verzögert. Seine äußere Erscheinung und seine Kraft bilden hierbei aber eine Ausnahme. In der Phase der adolescentia bewegt sich Parzival innerhalb des aetates-Modells, da er heiratet und Kinder mit Condwiramurs zeugt, es bedarf jedoch weiterer Erziehung und Erfahrung zur Reife seines Charakters. In der iuventus schließlich kommt diese Reife mit der Übernahme der Verantwortung für Gralsgesellschaft und Familie. Die Lebensalter des gravitas/senior und senex können nicht mehr auf den Parzival angewendet werden, da die Erzählung mit seinem Antritt der Gralsherrschaft endet, liegt dadurch aber durchaus in der Tradition des mittelalterlichen Erzählens.

Obgleich Wolframs Parzival aufgrund seiner Struktur sowie seines Inhalts als ein Entwicklungsroman bezeichnet werden kann, gilt es an dieser Stelle anzumerken, dass die Interpretation des Romans als ein Entwicklungsroman keine umfassende Deutung leisten kann. Denn durch die Fokusierung des Geschehens auf den Protagonisten treten andere, wichtige Handlungsfiguren in den Hintergrund. So wird etwa der Figur des Gawan nach dieser Deutung nicht genügend Beachtung geschenkt. Hinzukommt, dass das Schema des Entwicklungsromans zwar auf Wolframs Roman zutrifft, es sich aber dennoch um eine Schablone handelt, wodurch die nicht in dieses Muster einzugliedernden Handlungsstränge nicht erfasst werden können. Schließlich kann eine Interpretation, die sich nach einer bestimmten Struktur richtet, nie alle Details erfassen und es erfolgt immer eine Reduktion.

Quellen

[*Gerhard 1926] Gerhard, Melitta: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes Wilhelm Meister, Saale 1926.

[*Petsch 1942] Petsch, Robert: Wesen und Formen der Erzählkunst, Halle/Saale 1942.

[*Sassenhausen 2007] Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literarpsychologische Deutung, Köln/Weimar/Wien 2007.

[*Selbmann 1984] Selbmann, Rolf: Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart 1984.

[*Zellmann 1996] Zellmann, Ulrike: Lanzelet: Der biographische Artusroman als Auslegungsschema dynastischer Wissensbildung, Düsseldorf 1996.

<references>

  1. Alle Versangaben folgen der Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übers. von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2006.