Die Blutstropfenszene (Wolfram von Eschenbach, Parzival): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 25. Februar 2016, 14:09 Uhr
Die Blutstropfenszene ist eine vielseitig interpretierbare Textstelle in Wolframs von Eschenbach Parzival. Sie befindet sich zu Beginn des VI. Buches. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Episode das erste symbolische Auftauchen des "Doppelziel[s] seines Lebens", nämlich Gralssuche und Minne, welche das Leben des Parzival fortan bestimmen werden.[Bumke 2004: S. 74] Diesbezüglich findet sich innerhalb der Szene auch der erste sogenannte Minne-Exkurs, in welchem der Erzähler über das Wesen der Minne reflektiert und Frau Minne auch personifiziert auftreten lässt.
Inhaltlicher Kontext
Die Szene befindet sich inhaltlich nach dem ersten Besuch Parzivals auf der Gralsburg Munsalvaesche. Der Protagonist hat dem leidenden Gralkönig Anfortas nicht die erlösende Frage gestellt und wurde daraufhin von seiner Cousine Sigune heftig verurteilt. Nach einem erneuten Treffen mit Jeschute und Orilus und der Rehabilitierung der Jeschute übernachtet Parzival in einem Wald, während es anfängt zu schneien. Der nächste Morgen bringt die darzustellende Blutstropfenszene mit sich, welche damit endet, dass Parzival von Gawan aus seiner Trance gerissen und vor König Artus gebracht wird, dem er im Roman an dieser Stelle das zweite Mal begegnet.
Ablauf der Szene
Der sommerliche Schnee und Parzivals Verfall in den Trancezustand
Zu Beginn der Szene fällt, trotz der sommerlichen Jahreszeit, Schnee, ein Vorgang, der später durch den Einsiedler Trevrizent erklärt wird. Dieser meint, dass der "sumerlîch[e] snê" (sommerliche Schnee; Parzival. 489,27.) das Resultat einer Planetenkonstellation sei, vornehmlich der Planet Saturn wieder in sein Haus eingekehrt sei, was eine Kälte verursacht haben soll. Unter dieser hat auch der Gralkönig Anfortas aufgrund seiner Verletzung besonders stark zu leiden gehabt. Ein Falke, der vom nicht weit entfernten Artushof entflohen ist und die Nacht zusammen mit Parzival verbracht hat, versucht am Morgen eine Wildgans zu schlagen, die daraufhin drei Blutstropfen auf den frisch gefallenen Schnee fallen lässt. Der Anblick der drei Blutstropfen lässt Parzival an seine Frau Condwiramurs denken und er verfällt in eine Art Trancezustand:
sus begunder sich verdenken, | Er verlor sich in Gedanken, |
unz daz er unversunnen hielt; | bis er reglos war, in Trance. |
diu starke minne sîn dâ wielt, | Er war im Bann der Herrin Liebe - |
sölhe nôt fuogt im sîn wîp. | schuld daran war seine Frau! |
dirre varwe truoc gelîchen lîp | Die Farben glichen ganz genau |
von Pelrapeir diu künegin: | Der Königin von Beaurepaire: |
diu zuct im wizzenlîchen sin. | sie hat ihm den Verstand geraubt... |
sus hielt er als er sliefe. | Er saß zu Pferd, als schlafe er. |
(Parzival. 283,16-23.)
Erster Kampf gegen Segramors
Ein Knappe sieht Parzival mit aufgestellter Lanze im Feld stehen, bemerkt aber nicht den Zustand des Ritters. Da eine aufgerichtete Lanze als Herausforderung zum Tjost galt, meldet dies der Knappe den Rittern am nicht weit entfernten Artushof. Von diesen möchten einige die Herausforderung annehmen, aber Segramors erbittet sich als Erster von König Artus die Genehmigung zum Tjost. Im nun folgenden Kampf wechseln sich frou Minne und frou Witze in ihrem Einfluss auf Parzival ab. (Vgl. Parzival. 288,14 und 288,30.) Als Segramors auf Parzival losstürmt, dreht sich Parzivals Pferd und er verliert den Blickkontakt zu den Blutstropfen. In dem Moment "kommt Frau Witze und gibt ihm den Verstand zurück"[Bumke 2004: S. 75], woraufhin Parzival den Angriff abwehren und Segramors aus dem Sattel stoßen kann. Sofort darauf kehrt er zu den drei Blutstropfen zurück und "Frau Minne [ergreift] wieder Besitz von ihm"[Bumke 2004: S. 75], er verfällt also erneut in die Minne-Trance.
Der Minne-Exkurs
Den verschiedenen Minne-Exkursen im Parzival ist ein separater Artikel gewidmet. Siehe dazu: Ansprachen an Frau Minne
Zweiter Kampf gegen Keie
Nach Segramors' Niederlage erbittet sofort Keye von König Artus die Genehmigung zum Tjost. Diese wird ihm erteilt und er reitet zum scheinbar schlafenden Parzival hin. Im Gegensatz zu Segramors fällt Keye auf, dass mit dem Ritter etwas nicht stimmt und er schlägt Parzival, begleitet mit den Worten "du muost wachen" (Aufgewacht!), die Lanze auf den Kopf. (Parzival. 294,13.) Da Parzival aber nicht reagiert, setzt auch Keye zum Tjost an und bringt dadurch ebenfalls Parzivals Pferd zum Wenden, wodurch dieser erneut den Blickkontakt zu den Blutstropfen verliert. In dem darauffolgenden Tjost wird Keye derart heftig vom Pferd geworfen, dass er sich seinen rechten Arm und sein linkes Bein bricht. Durch diesen Kampf gilt auch die Verprügelung der Cunneware, welche Keye begangen hatte, durch Parzival (wenn auch nicht in bewusstem Zustand) als gesühnt. Auch nach diesem Tjost kehrt Parzival zu den Blutstropfen zurück und verfällt wieder in Trance.
Aufhebung des Trancezustandes durch Gawan
Als letztes nähert sich der Ritter Gawan in unbewaffnetem Zustand Parzival. Als er ihn anspricht, reagiert Parzival nicht. Gawan, der sich an einen eigenen Trancezustand aufgrund der Liebe erinnert, folgt dem Blick Parzivals und entdeckt die Blutstropfen im Schnee. Er bedeckt sie mit seinem Mantel und erlöst dadurch Parzival aus seinem Zustand. Es wird deutlich, dass sich Parzival an die letzten beiden geführten Kämpfe nicht erinnern kann und somit die kurzen kämpferischen Unterbrechungen des Trancezustandes nicht zu einem klaren Bewusstsein geführt haben. Gawan geleitet anschließend Parzival zur Hofgesellschaft des König Artus'.
Interpretationsansätze
Symbolik der Blutstropfen
Blutstropfen erscheinen in dieser Szene nicht zum ersten Mal im Roman. Die Blutstropfen an der Speerspitze in Munsalvaesche hätten Parzival dazu verleiten sollen, den Gralkönig Anfortas nach seinem Leiden zu fragen. Dass er dies unterließ, ist seinen rationalen Überlegungen und der strikten Befolgung von Erziehungsregeln geschuldet. Die Blutstropfen im Schnee schalten dagegen seinen Verstand aus und machen, wenn ihm auch zuerst unbewusst, den "Zusammenhang zwischen seines Liebesbindung an Condwiramurs und seiner Verpflichtung gegenüber dem Gral" deutlich.[Bumke 2004: S.73]
sîn pensieren umben grâl | Sein Denken an den Gral, |
unt der küngîn glîchiu mâl, | die Zeichen für die Königin |
iewederz was ein strengiu nôt; | all dies weckte große Sehnsucht; |
(Parzival. 296,5-7.)
Man kann sich fragen, warum Parzival in drei Blutstropfen, die keinesfalls eine Zeichnung Condwiramurs' darstellen, seine Geliebte erkennt. Dies vor allem, da die Blutstropfen dem Text nach für die beiden Wangen und das Kinn Condwiramurs' stehen. (Parzival. 283,12-13.) Verständlicher wird dies, wenn man sich bewusst macht, dass "rote Wangenpunkte und ein roter Punkt als Kinnbogen zum ikonographischen Minimalprogramm der schematischen Darstellung eines Gesichtes" gehören.[Hasebrink 2005: S. 242] Eine derartig abstrakte Analogie zwischen den Blutstropfen und dem Gesicht Condwiramurs' setzt ein ausgeprägtes Vorstellungsvermögen Parzivals voraus, in dem dieser sich verliert. Gleichzeitig bleibt die innere Darstellung Condwiramurs' im Geiste Parzivals an die äußerliche Erscheinung der Blutstropfen gebunden, denn sobald er den Blickkontakt verliert, wird er aus seiner Selbstvergessenheit gerissen.
Der Trancezustand als Paralyse zwischen zwei Welten
Parzival, von der Gralsburg Munsalvaesche kommend, steht in dieser Szene als Bindeglied zwischen zwei Gesellschaften, die ihn, dargestellt durch seinen Wechsel zwischen Trancezustand und den Kämpfen, mit ihren Ansprüchen in eine Art Paralyse versetzen. Er steht "auf dem Gravitationspunkt zwischen Artus und Tafelrunde einerseits und Condwiramurs und Gralswelt auf der anderen Seite."[Hasebrink 2005: S. 244] Bemerkenswert dabei ist sowohl das gegenseitige Sehen, bzw. Nicht-Sehen als auch das Erkennen bzw. Nicht-Erkennen. Die kämpfenden Ritter der Tafelrunde sehen Parzival zwar, erkennen ihn aber nicht, wohingegen Condwiramurs nicht anwesend ist, aber von Parzival (und nur von ihm) bildhaft erkannt und gesehen wird. Dieser Zustand kann erst durch Gawan aufgelöst werden, der als einziger zum Perspektivenwechsel in der Lage ist und nachvollziehen kann, was in Parzival vor sich geht.
Gawans Mantel
Im Gegensatz zu Wolframs Vorlage Conte du Graal von Chrétien wird Parzival nicht durch das Schmelzen des Schnees aus seinem Minnebann erlöst, sondern Gawan schafft es, die Situation zu begreifen und schwingt seinen Mantel über die Blutstropfen, welche für den Trancezustand Parzivals' verantwortlich sind:
ein failen tuoches von Sûrîn, | Einen Syrer-Seidenmantel, |
gefurriert mit gewelm zindâl, | mit gelbem Zindel unterfüttert, |
die swanger über diu bluotes mâl. | schwang er über diese Flecken. |
(Parzival. 301,28-30.)
In der Lage dazu ist er, weil er sich an einen eigenen, ähnlichen Zustand erinnert und durch Beobachtung, nämlich dem Folgen von Parzivals Blick, die Ursache für den Trancezustand erkennt. Durch das Verdecken der Blutstropfen wird die Welt Condwiramurs und des Grals vorübergehend ausgeblendet, die Zuwendung Parzivals zum Artushof ermöglicht. Gleichzeitig nimmt dieser Vorgang die "Verdeckung der Parzivalhandlung durch die Gawanhandlung in den folgenden beiden Büchern VII und VIII voraus."[Hasebrink 2005: S. 245] Gleichzeitig wird das strategische Geschick Gawans deutlich, der durch seine Tat das "Rivalitätsverhältnis zwischen [sich selbst] und Parzival verdeckt" und somit den Kampf mit dem roten Ritter entgeht, bzw. auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt.[Hasebrink 2005: S.245]
Quellennachweise
Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Dieter Kühn. Kommentiert von Eberhard Nellmann, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main, 2006.
<HarvardReferences />
[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36).
[*Hasebrink 2005] Hasebrink, Burkhard: Gawans Mantel. Effekte der Evidenz in der Blutstropfenszene des ›Parzival‹, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Elizabeth A. Andersen, Berlin/New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 237-248.