Cundrîe - Figur des Wendepunktes: Unterschied zwischen den Versionen
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[*Sieburg 2010] Siegburg, Heinz: Literatur des Mittelalters. Berlin 2010. <br /> | [*Sieburg 2010] Siegburg, Heinz: Literatur des Mittelalters. Berlin 2010. <br /> | ||
[*Bolta 2012] Bolta, Eva: Der chimärische Hybridkörper im Artusroman, in: (De)formierte Körper, Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen 2012. | [*Bolta 2012] Bolta, Eva: Der chimärische Hybridkörper im Artusroman, in: (De)formierte Körper, Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen 2012. |
Aktuelle Version vom 22. April 2024, 09:59 Uhr
Die Gralsbotin Cundrîe tritt an einer zentralen Stelle im Parzival auf und überbringt Parzival eine Botschaft, die ihn in den Gotteshass und den Hintergrund der Handlung stößt. Hier soll aufgezeigt werden, dass die Figur der Cundrîe als Botin der Gralsgesellschaft eine wesentliche Rolle im Rahmen der gesamten Dichtung einnimmt, da sie den Wendepunkt in Parzivals Lebensweg zum Gralskönig markiert.
Voraussetzungen
Wer ist Cundrîe?
Cundrîe la surziere ist die Botin der Gralsgesellschaft.[1] Ihr erster Auftritt ist am Artushof, während sie Parzival, der gerade mit Artus und seinem Hof an der Tafelrunde Platz genommen hat, eine Botschaft von der Gralsburg überbringt – und dass zu einem Zeitpunkt, der mit Verweis auf den Inhalt jener Botschaft nicht schlimmer hätte sein können. Denn nachdem Parzival auf seiner aventiure dem Artushof immer wieder von seinen Taten berichten lässt, ist er nach seiner Ankunft dort in den ritterlichen Kreis aufgenommen und so nam sîn werdekeit dâ lôn (309,17)[2]. Mitten in dieses höfische Fest, bricht nun Cundrîe mit ihrer Nachricht, die tet vil liuten leit (312, 5). Noch bevor die Botschaft wiedergegeben wird, erfährt man von Cundrîes außergewöhnlicher Gelehrsamkeit und ihrer magischen Fähigkeit sowie von ihrem tierähnlichen Aussehen. Diese abstoßende Hässlichkeit passt zwar zur Botschaft und der darauf folgenden Katastrophe für Parzival, jedoch nicht zur eigentlich so vornehmen Gralsgesellschaft. Erst später gibt Wolfram eine Art Rechtfertigung für ihr fremdes Aussehen, denn sie und ihr Bruder Malcrêature waren ein Geschenk der indischen Königin Secundille an Anfortas (519, 2 - 26). Hier soll jedoch nicht die sehr detaillierte Beschreibung der Hässlichkeit Cundrîes im Vordergrund stehen, sondern weshalb sie dadurch überhaupt erst die Voraussetzungen für eine Botin erfüllt und somit zu dieser wichtigen Figur werden kann.
Äußere Hässlichkeit und innere Schönheit
Trotz ihrer äußeren Hässlichkeit beweist sie triuwe, zuht und herzen riuwe (318, 9ff). Durch die Betonung dieser inneren Werte und zeigt sie dementsprechend auch die eigentliche Trivialität der äußerlichen Schönheit auf. „Ihr äußergewöhnliches Erscheinungsbild steht in ausdrücklicher Beziehung zu Parzvials innerer Unvollkommenheit“. [Bolta 2012: S. 56.] Diese Gegensätzlichkeit spricht Cundrîe direkt an: ich dunke iuch ungehiure, / und bin gehiurer doch dann ir. (315, 24f.). Im Kontext der Szenerie an der Tafelrunde wertet sie dadurch schon implizit Parzival ab und sich selbst auf.
Cundrîe als Botin
Als Botin hat Cundrîe außerdem eine Art Zwischenstellung. Zwar ist sie beispielsweise durch das sichtbare Gralswappen auch dem Gral zugeordnet, dennoch ist sie bei den verschiedenen Handlungen in der Gralsburg nie anwesend. Sie scheint sich im Gegensatz zu den anderen Frauen, die wegen drohender Minne die Gesellschaft der Gralswelt nicht verlassen dürfen, kaum auf der Burg aufzuhalten. Sie hebt sich durch ihr Aussehen so negativ von den anderen Frauen ab, dass sogar ausdrücklich gesagt wird, dass für sie niemand kämpfen würde. Als Frau besteht außerdem nicht die Verlockung der aventiure und somit sind die Hässlichkeit und Weiblichkeit – die sie in einen starken Kontrast zu Parzival stellt – unabdingbare Voraussetzungen für die Figur, die einen Wendepunkt herbeiführen kann. Die innere Schönheit durch ihr Wissen, dass sich in der Kenntnis mehrerer Sprachen und der artes liberales äußert, steht ebenfalls dem geistig immer noch unerfahrenem Parzival gegenüber. Hinzu kommt, dass ihre Funktion auf Kommunikation aufgebaut ist, für die die Sprachen wichtig sind. Die Tatsache, dass sie Parzival über seine Eltern, Feirefiz und den Brudermord an Ither aufklärt, lässt außerdem auf ihre Kenntnis über die alles durchziehenden Verwanschaftsverhältnisse schließen, was ihr eine übergeordnete Sicht ermöglicht. Wolfram lässt hier also eine Figur entstehen, die in jeglicher Hinsicht auf ihre Aufgabe den Wendepunkt zu markieren passend ist. Denn sie ist nicht nur eine kompetente Botin, sondern auch so gegensätzlich in Bezug auf Parzival, dass nur sie die Voraussetzungen erfüllt. Eine solche Szene kann nicht ohne eine starke und extreme Figur funktionieren.
Wendepunkt durch Cundrîes Botschaft
An der Tafelrunde sitzend hat Parzival sich den Wunsch erfüllt Ritter zu werden und in Artus' Tafelrunde aufgenommen zu werden. Der Weg dorthin ist allerdings durchzogen mit „unbeabsichtigter und unbewusster Schuldverstrickung“. [Sieburg 2010: S. 153.] Dazu lässt sich nach Sieburg schon das durch seine Mutter veranlasste Töten der Vögel zählen sowie die Entehrung der Jeschutes, die Tötung Ithers und die nicht gestellte Erlösungsfrage auf der Gralsburg. [Sieburg 2010: vgl. S. 153.] Die Tragik hierbei ist das mangelndes Bewusstsein Parzivals über seine Vergehen. Cundrîe überbringt mit der Botschaft und der Verfluchung Parzivals am Ende auch die schockartige Bewusstwerdung seiner Schuld. Nach dieser Szene ändert sich die Erzählstruktur des Romans: Die Perspektive geht über zu Gawan und dessen aventiure (338, 1-4), während Parzival durchs Land zieht und sich seinem einsetzenden Gotteshass hingibt (331, 1-8). Er taucht nur noch am Rande der Haupthandlung durch kurze Verweise auf einen roten Ritter auf. Cundrîe markiert also einerseits für die Figur Parzivals einen Wendepunkt durch die Bewusstwerdung der Schuld sowie seiner Identität. Andererseits zeigt sich der Wendepunkt im Gesamtzusammenhand der Erzählstruktur wieder, die sich nun nach einem zweiten Protagonisten richtet.
Fazit – Warum gerade eine solche Figur für Wendepunkt?
Die Figur der Cundrîe ist gekennzeichnet durch ein tierähnliches, hässliches Aussehen sowie ihre Gelehrsamkeit und ihre Heilkünste. Auf mehreren Ebenen steht sie damit in Kontrast zu Parzival – gerade im Moment des Wendepunktes, da es Parzival zu diesem Zeitpunkt noch an innerer Schönheit mangelt. Doch auch wenn man Cundrîe nicht unter dem oppositionellen Aspekt bezüglich Parzival untersucht, ist sie eine starke und exotische Figur in der mittelalterlichen literarischen Welt. Allein um ihrer Aufgabe als Botin gerecht zu werden, hat sie zahlreiche Voraussetzungen zu erfüllen, was ihr durch ihre Exotik und Einzigartigkeit gelingt. Der Wendepunkt des Romans, der Gawan in die Rolle des Protagonisten schiebt und Parzival zurück auf eine psychische und physische Reise schickt, braucht eine außergewöhnliche Drehachse, welche in Cundrîe ihre Personifikation findet.
Ausblick
Zuletzt soll darauf hingewiesen werden, dass Cundrîe nicht nur zentral für den Wendepunkt des Romans ist, sondern sie überbringt eine weitere Botschaft, die das Ende einleitet und ebenfalls für hôhiu mære gilt: Sie verkündet während eines Festes zu Ehren Feirefiz' die Berufung Parzivals zum Gralskönig. Wieder informiert sie ihn über seine Familienverhältnisse, denn seine Gattin Condwiramurs hat inzwischen Zwillinge geboren. Oppositionell zur ersten Botschaft überbringt sie nun die freudigste Botschaft schlechthin. Dass die beiden Szenen miteinander zu verknüpfen sind, macht auch Parzivals Vergleich deutlich, indem er sagt: done wasez et dennoch niht mîn heil: nu gebt ir mir sô hôhen teil (783, 15f.). Man kann in diesem Zusammenhang sogar von zwei Wendepunkten sprechen, die vor allem in Bezug auf Parzival seinen Lebensweg entscheidend verändern und sich dabei beide Male um Cundrîe wenden. Nochmals ist herauszustellen, wie wichtig diese Figur für die Strukturierung der Erzählung ist.
Fußnoten
- ↑ Hierbei sei auf folgende ausführliche Artikel verwiesen: Die Gralsbotin Cundrîe sowie Schönheit und Hässlichkeit.
- ↑ Alle Angaben stammen aus: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text. Nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. 2. Auflage. Berlin/New York 2003.
Quellennachweise
[*Sieburg 2010] Siegburg, Heinz: Literatur des Mittelalters. Berlin 2010.
[*Bolta 2012] Bolta, Eva: Der chimärische Hybridkörper im Artusroman, in: (De)formierte Körper, Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen 2012.