Medizin im Parzival (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Neben anderen Wissensfeldern, wie etwa Geografie oder Astrologie, streut Wolfram von Eschenbach an mehreren Stellen auch Kenntnisse über die Medizin und Heilkunde in seinen Parzivalroman ein. Der folgende Artikel zeigt auf, in welchen Passagen eine medizinische Thematik zu finden ist, ob Wolfram hierbei auf fundiertes Fachwissen zurückgreift, sowie welche Bedeutung die Einführung dieses Themenbereichs für den Roman hat.

Allgemein

Die Einbettung von sowohl naturwissenschaftlichem als auch medizinischem Wissen findet sich in mehreren Werken der mittelhochdeutschen Literatur, wie etwa bei Hartmann von Aue und bei Gottfried von Straßburg.[Haage 1990: vgl. S. 301] Jedoch enthalte kein anderes Werk dieser Zeit "so viel medizinisches Fachwissen wie der Parzival Wolframs".[Haferlach 1991: S. 55] [Haage 1992: vgl. S. 203] Wie Haage betont, fundieren Wolframs Kenntnisse nicht nur auf enzyklopädischem Wissen, sondern an einigen Stellen, wie etwa bei der Behandlung Urjans, zeige sich, dass Wolfram darüber hinaus im Besitz eines spezifischen Fachwissens gewesen sein muss. Eventuell habe er selbst eine medizinische Ausbildung absolviert.[Haage 1992: vgl. S. 204] Allerdings gilt es an dieser Stelle anzumerken, dass die Person Wolfram von Eschenbach historisch nicht belegt ist und alles, was über ihn bekannt ist, aus seinen Texten entnommen wurde. Aufgrund dessen können keine genauen Aussagen über seine Bildung gemacht werden.[Bumke 2004: vgl. S. 5]

Medizin im Mittelalter

Die Medizin und Heilkunde des Mittelalters basiert auf unterschiedlichen Quellen: Zum einen war die antike Medizin mit den Schriften von Hippokrates und Galenos von Bedeutung, zum anderen wurde der arabischen Medizin großes Interesse entgegengebracht. Hinzu kam die allgemeine Volksmedizin sowie die in den Klöstern praktizierte Heilkunde.[Haferlach 1991: vgl. S. 22] Diese unterschiedlichen Einflüsse wurden in den sich bildenden Universitäten "zu einer mittelalterlichen Medizin unter scholastischem Disput amalgamiert".[Haferlach 1991: S. 22] Entgegen der heutigen medizinischen Praxis, in der der Patient das Zentrum der Therapie und Forschung bildet, erklärte die scholastische Medizin das Buch zum Mittelpunkt ihrer Wissenschaft. So wurde die Medizin insbesondere zur Zeit der Hochscholastik als reine Geisteswissenschaft begriffen. Aufgrund dessen wurden praktische Tätigkeiten hauptsächlich von Wundärzten und anderen Personen, die mit der Heilkunde vertraut waren, ausgeführt. "Durch die von der Kirche veranlasste Abkopplung der Chirurgie von den anderen medizinischen Bereichen kam es zu einer bis ins 19. Jahrhundert anhaltenden Trennung der studierten Mediziner und der chirurgisch tätigen Bader, Barbiere etc.".[Haferlach 1991: S. 23]

Medizin im Parzival

Anfortas' Verwundung

Um ein Bild über die Verletzung des Gralkönigs sowie die Heilungsversuche zu erlangen, wird auf diesen Abschnitt verwiesen.

Gawan als Wundarzt (504,7–525,10)[1]

Der Ritter Gawan tritt in den meisten Artusromanen als Vorzeigeritter auf, da er die beiden hochgeschätzten Tugenden Tapferkeit und Klugheit in sich vereint.[Bindschedler 1985: vgl. S. 208] Im Parzivalroman wird er diesem Idealbild nicht immer vollkommen gerecht, da er insbesondere in Bezug auf die Minne einige Schwächen aufweist. So wirft ihm etwa Keie vor, dass Gawan sich stets lieber an eine Frau binden würde, anstatt sich ritterlichen Bewährungsproben zu stellen (299,3–6).[Bumke 2004: vgl. S. 167] Jedoch gibt es auch zahlreiche Partien in denen er musterhaft handelt und durch Intelligenz, Taktgefühl und Diskretion besticht. Im X. Buch tritt zudem seine Hilfsbereitschaft deutlich hervor und er erscheint in der Rolle eines Arztes:

Gawan reitet durch den Wald und sieht ein Schild am Boden liegen, was ihn darauf hinweist, dass hier ein Kampf statt gefunden hat. Kurz darauf erblickt er eine weinende Frau, die an eine Linde gelehnt am Boden sitzt. Ein verwundeter Ritter, den ein Sperr durchstochen hat, liegt in ihrem Schoß. Gawan fragt, ob der Mann noch am Leben sei und bietet seine Hilfe an. Sogleich bemerkt er, dass das Blut des Verwundeten nicht nach außen abfließen kann, denn „[d]as Blut drückt ihm aufs Herz“ („daz bluot ist sînes herzen last“, 506,11). Er sagt, er könne dem verletzten Ritter helfen, wenn er ein Röhrchen zur Hand hätte (506,6–7). Daraufhin bricht er einen kleinen Ast der Linde ab, nutzt die Basthülse des Zweiges als Rohr, schiebt es in die Wunde des Ritters und bittet die Frau daran zu saugen bis das Blut heraus fließt (506,12–17). Der Erzähler weist darauf hin, dass sich Gawan im Umgang mit Verletzungen auskennt („im Umgang mit Wunden kannte er sich aus“, „er was zer wunden niht ein tôr“, 506,14). Somit handelt es sich nicht um ein spontanes Experiment Gawans, den Verletzten zu heilen, sondern es scheint als greife er auf medizinische Kenntnisse zurück. Haage nimmt die Wundbehandlung Gawans zum Anlass, darüber zu spekulieren, ob Wolfram eine chirurgische Ausbildung genossen habe.[Haage 1992: S. 204] Zumindest habe Wofram die "Chirurgia des Abulkasim, die damals zum Modernsten im Bereich der Wundarznei gehörte",[Haage 1990: S. 307] fachwissenschaftlich korrekt zur Ausgestaltung dieser Szene verwendet.

In der Forschungsliteratur wird Gawans Eingriff mehrfach zum Anlass genommen ein klares Krankheitsbild des Ritters nachzuzeichnen: So kommt etwa Haferlach, der sehr detailliert und in komplizierter Fachsprache die Verletzung des Ritters zu diagnostizieren versucht, schließlich zu dem Schluss, dass Gawan eine Herzbeuteltamponade vorgenommen habe. Als Punktionsnadel diente Gawan das Lindenrohr. Wie Haferlach konstatiert, sei es nicht überraschend, dass der Patient nach nur kurzer Zeit wieder bei vollem Bewusstsein ist und zu Gawan spricht (506,18-23), denn bei einer Verletzung des Herzbeutels verbreite sich das austretende Blut nicht im gesamten Brustkorb. Es handele sich lediglich um eine Blutansammlung im Herzbeutel, die durch eine Punktion entfernt werden könne.[Haferlach 1991: vgl. S. 61f.] Anders als Haferlach, konstatiert Haage, es handle sich bei der Verleztung um einen Hämatothorax.[Haage 1992: S. 119] Zusammenfassend ist es, wohl angesichts der kurzen Beschreibung der Wunde durch den Erzähler, gar nicht möglich eine eindeutige Diagnose zu stellen. Hinzu kommt, dass es sich bei Wolframs Parzival um fiktionale Literatur handelt, die nicht die Absicht verfolgt, Fachwissen bis ins Detail überprüfbar zu transportieren.[Riha 2004: vgl. S. 135] Riha kritisiert Haages Diagnoseversuch, da er versuche "in der Belletristik Rückgriffe auf eine außerliterarische Realität zu erkennen".[Riha 2004: S. 134] Er erkenne nicht, dass es sich dabei jedoch lediglich um eine Übertragung unserer Realität auf die Zeit des Mittelalters handele.[Riha 2004: vgl. ebd.]

Einen anderen Aspekt hebt Bindschedler hervor: So konstatiert sie, dass es in der höfischen Dichtung sehr ungewöhnlich sei, „dass ein Ritter sich persönlich um einen Verletzten kümmert und ihn fachkundlich behandelt“.[Bindschedler 1985: S. 212] Denn „[z]u dieser Zeit wurde eine Wundbehandlung meistens den Badern und Scherern überlassen, einem wenig geachteten Stand. Allenfalls vertraute man die Verletzten auch jenen Frauen an, denen man Zauberkünste nachsagte[...]“.[Bindschedler 1985: ebd.] So hat die Szene in dem von Kämpfen und aventiuren durchzogenen Roman einen geradezu „lächerlichen Aspekt“.[Bindschedler 1985: ebd.] Haage deutet die Tatsache, dass der edle Ritter Gawan eine Wundversorgung vornimmt auf andere Weise, denn er vermutet, dass Wolfram mit dieser Episode "den Wert arabischer Chirurgie herausstellen"[Haage 1992: S. 204] und Wundärzte gesellschaftlich aufwerten wolle.[Haage 1992: vgl. ebd.] Der schlechte Ruf, dem diese Berufsgruppe ausgesetzt ist, spiegelt sich auch in einer an späterer Stelle erfolgenden Äußerung Orgeluses wieder (523,6–9).

In der Begegnung Gawans mit dem Verwundeten lassen sich Parallelen zu Parzivals erster (138,9–141,30) und zweiter Begegnung (249,11–255,30) mit Sigune herstellen. Denn auch Parzivals Cousine hält einen leblosen Ritter in ihrem Schoß und sitzt bei der zweiten Begegnung auf einem Lindenbaum. Zwar ist Sigunes Geliebter bereits tot, jedoch wäre Parzival auch nicht in der Lage gewesen, ihn zu heilen, wohingegen Gawan über medizinische Kenntnisse verfügt und ihm helfen kann.[Bindschedler 1985: vgl. S.212] Somit wird bei einem Vergleich der Szenen auch ein Unterschied der Romanhelden deutlich: Gawan tritt als klug, mutig und selbstsicher auf, wohingegen Parzival dem Leser sehr jung und unerfahren erscheint, als er sagt:

’ich han hie jaemerlichen funt „Das ist ein trauriger Fund,
in iwerm schoze funden. den ich hier finde in Eurem Schoß.
wer gap iun ritter wunden?’ Wer hat euch den Ritter da hingelegt mit seinen Wunden?“

138,28–30

Kurze Zeit später stellt Gawan sein Wissen über Heilkunde erneut unter Beweis: Er sieht auf einer Heide ein Kraut [2] wachsen und gräbt es samt Wurzel aus, da es gegen Verletzungen helfe (516,23–27). Orgeluse reagiert darauf mit einer spöttischen Bemerkung, indem sie sagt:

’kan der geselle mîn arzet unde rîter sîn, „Mein Kavalier kann Bader sein und Ritter dazu
Er mac sich harte wol bejagn, So wird er sich freilich immer gut durchs Leben schlagen;
gelernt er bühsen veile tragen.' jetzt muss er bloß noch lernen, mit seinen Büchsen zu hausieren.“

516,29–30

Gawan verteidigt sich gegen Orgeluses hämische Rede, indem er erklärt, er wolle mit der Wurzel des Krauts den verletzten Ritter heilen. Orgeluse findet Gawans Interesse, einem Verwundeten zu helfen, für einen Ritter sehr unpassend und führt ihren Spott fort (517,9–10). Gawan und Orgeluse gehen zu dem „Patienten“ und Gawan bindet das Kraut auf dessen Wunde. Die Fürsorglichkeit des Ritters wird schamlos ausgenutzt, denn der Geheilte überlistet ihn, stiehlt Gawans Pferd und macht sich mit seiner Frau davon (522,8–30). Dies hat zur Folge, dass Orgeluse in schallendes Gelächter ausbricht und von Schadenfreude erfüllt sagt:

’für einen rîter ich iuch sah „Zuerst habe ich euch für einen Ritter gehalten.
dar nâch in kurzen stunden Danach hat es nicht lange gedauert,
wurdt ir arzet für die wunden Und ihr seid Wundarzt geworden.
nu müezet ir ein garzûn wesn’. Jetzt müsst ihr Knappe sein“.

523,6–9

Doch dies ist noch nicht genug. Gawan muss noch eine weitere Schmach über sich ergehen lassen: Der Pferdedieb kehrt um und gibt sich als jener Ritter Urjan zu erkennen, der wegen einer Vergewaltigung von Artus angeklagt wurde. Gawan hatte ihm damals zu einer milderen Strafe verholfen und Urjan wurde dank Gawans Hilfe nicht zum Tode verurteilt, sondern musste lediglich vier Wochen lang gemeinsam mit den Hunden essen (524,9–30). Trotz seiner Klugheit wird Gawan überlistet und statt Wertschätzung für seine Hilfe erhält er lediglich Spott. Aufgrund seiner nahezu naiven Fürsorglichkeit, die ihn nicht bemerken lässt, dass Urjan ihm sein Pferd rauben will, erscheint der üblicherweise als idealer Ritter gepriesene Gawan in dieser Passage in einem neuen Licht. Denn er fällt einem Betrug zum Opfer, da er aufgrund seiner vollkommenen Höflichkeit die listige Art Urjans übersehen hat.[Bindschedler 1985: vgl. S.208] In gewisser Weise erinnert Gawans ahnungsloses Verhalten an den zu Beginn stets unerfahrenen, tumpen Parzival.

Gawan als "Seelenarzt"

Weitet man die medizinische Thematik auch auf die Wissenschaft der Psychologie und Psychiatrie aus und folgt man der Argumentation Bindschedlers, ist es notwendig, Gawans psychologische Fähigkeit sowie sein Auftreten in der Doppelrolle als Wundarzt und "Seelenarzt"[Bindschedler 1985: S. 218] an dieser Stelle anzuführen.

So zeigt sich in der Blutstropfenszene, dass Gawan über ein immenses Einfühlungsvermögen verfügt. Denn er erkennt als Einziger, dass es die Minne ist, die Parzival in einen Trancezustand versetzt hat (282,20-302,4). Ihm gelingt es durch Abdecken der drei Blutstropfen im Schnee, die Parzival an seine Frau Condwiramurs erinnern, den Liebestrunkenen aus seinem Zustand zu befreien (301,26–302,4). Gawan hat die Fähigkeit, sich in Parzival hineinzuversetzen und erinnert sich, wie die Minne auch ihm einst seinen Verstand raubte:

'waz op diu minne disen man "Wer weiß, ob es nicht die Liebe ist,
twinget als si mich dô twanc, die diesen Mann hier fesselt, so wie mich damals.
und sîn getriulîch gedanc Und vielleicht sind es Gedanken der Treue,
der minne muoz ir siges jehen?' die der Liebe zu ihrem Sieg verholfen haben".

301,22–25

Neben der Befreiung Parzivals aus seiner Trance, kann auch in Bezug auf Orgeluse von einer Art Heilung durch Gawan gesprochen werden. Denn ihm gelingt es, sie von ihrer Rachsucht zu breifen. [Bindschedler 1985: vgl. S. 216] Die Tötung ihres Geliebten hat Orgeluse in tiefe Rachegedanken gestürzt, was zur Folge hatte, dass sie die späteren Liebesbewerber für ihre Pläne missbraucht und sie ins Verderben gestürzt hat. So erlitt auch Anfortas aufgrund der Beziehung zu ihr seine schwere Verwundung. Gawan erträgt die anfänglichen Demütigungen und Spötteleien durch Orgeluse (515,11–16) mit großer Souveränität, [Dallapiazza 2009: vgl. S. 64] [Bumke 2004: vgl. S. 166] denn er bewahrt Ruhe und glaubt fest daran, dass sie seine Liebe einst erwidern wird (515,17–23). Sein Konflikte vermeidendes Verhalten kann somit nicht als Unterwürfigkeit oder gar Stumpfsinnigkeit interpretiert werden. Vielmehr handelt er nach einem klaren System, welches schließlich auch den gewünschten Erfolg bringt: Orgeluse vertraut sich ihm an (612,21–614,17) und ihr zu Beginn abweisender, harter Charakter erfährt durch Gawan eine Veränderung. [Bindschedler 1985: vgl. S. 216] So ist Gawan nicht lediglich an einem erfolgreichen Werben um seine Minnedame bemüht, sondern er hat die Absicht, ihre spröde, bösartige Art aufzubrechen und sie wieder in das von ihr vehement verneinende Liebesleben zurückzuführen.[Emmerling 2003: vgl. S. 92]

Gawans Heilung durch Arnive (578,4–582,30)

Königin Diptam und Arnive versorgen den verwundeten Gawan (UB Heidelberg, Codex Manesse, 425v.)

Gawan trägt von seinem Kampf auf Schastel marveile „fünfzec oder mêre („fünfzig Wunden oder mehr“, 579,7) Verletzungen davon. Seine Großmutter Arnive kümmert sich um Gawan, indem sie eine Pflanze namens Dictam, warmen Wein sowie ein Stück blauen Zindel herbeischafft, damit seine Wunden abtupft und anschließend einen Verband anlegt (579,11–16). Die Beulen an Gawans Kopf erhalten eine andere Behandlung: sie werden mit einer Salbe bestrichen, die bereits bei Anfortas angewandt wurde. Cundrîe, durch die Arnive ihre medizinischen Kenntnisse erlangt hat, brachte diese Salbe aus Munsalvaesche mit (579,20–30). Anschließend wird Gawan weich gebettet und seine Großmutter legt ihm ein Schlafkraut in den Mund.

eine wurz sie leite in sînen munt: Eine Wurzel legte sie in seinen Mund,
dô slief er an der selben stunt. da schlief er sofort ein;

580,27–28

Im Schlaf überkommt ihn zeitweilig ein Kälteschauer, was zur Folge hat, dass er niest und sich räuspert (581,3-4). Der Erzähler betont ausdrücklich, dass Gawans Frösteln „von der Kraft der Salbe“ („allez von der salben kraft, 581,5) herrührt. Nach Haage könne "eine derartige Symptomatik [...] nur Schüttelfrost anzeigen".[Haage 1990: S. 304] Gawan würde fiebern und da "die Temperatursteigerung auf die Salbe zurückgeführt wird, m[üsse] die Therapie Arnives als künstliches Heilfieber angesehen werden".[Haage 1990: ebd.] Die Tatsache, dass Wolfram "therapeutisch indizierte[s] Fieber"[Haage 1990: ebd.] darstelle, sei aus medizinhistorischer Perspektive außerordentlich, denn in der Fachliteratur tauche diese Behandlungsmethode lediglich ein einziges Mal gegen Ende des 12. Jahrhunderts auf.[Haage 1990: vgl. ebd.] Wie bereits bei der Heilung Urjans zu beobachten war, sollten allerdings auch diese Äußerungen der Forschungsliteratur lediglich als medizinische Spekulationen betrachtet werden.

Die Bedeutung der medizinischen Thematik

Eine medizinische Thematik findet sich sowohl in der Parzivalhandlung, durch die Verletzung Anfortas', als auch in den Gawan-Büchern. Jedoch kann ein Unterschied in dem Erfolg der Therapien und auch in der medizinischen Vorgehensweisen ausgemacht werden: Bei Anfortas scheinen die zahlreichen Heilungsversuche nicht die erhoffte Wirkung zu zeigen (481,5–484,18), wohingegen "die ärztliche Kunst in den Gawan-Büchern ihre heilende Kraft entfalten" [Bumke 2004: S. 95] kann. Dies liegt darin begründet, dass Anfortas' Wunde als eine Bestrafung Gottes gilt und daher mit vom Menschen erschaffenen Mitteln nicht geheilt werden kann. So berichtet auch Trevrizent seinem Neffen Parzival, dass alle Mittel, welche die Gelehrten mit Hilfe ihrer Kenntnisse über Kräuterkunde und Chemie herstellten, nicht anschlugen, denn "Gott selber will es uns nicht gönnen" ("got selbe uns des verbunde", 481,18). Auf der Gralsburg wird man mit Hilflosigkeit konfrontiert, wohningegen auf Schastel marveile die "Blitzkur"[Bindschedler 1985: S. 217] durch Arnive gelingt. Damit steht der Unterlegenheit des Willen Gottes und der daraus resultierenden Erfolglosigkeit der Therapien, ein überlegtes, sich auf Erfahrung und Verstand berufendes Verfahren in Schastel marveile gegenüber. Durch die Salbe, mit der sowohl Anfortas, als auch später Gawan behandelt wird und welche die Gralsbotin zu Arnive bringt, wird allerdings eine Verbindung zwischen den beiden Burgen Schastel marveile und Munsalvaesche geschaffen. Abgesehen von dieser Salbe unterscheiden sich die in den beiden Burgen angewandten Behandlungsmethoden jedoch stark: Zwar wird Anfortas auch mit aus Pflanzen gewonnenen Arzneimitteln behandelt, dennoch wird mit zahlreichen anderen Methoden, die sich auf transzendentes Gedankengut stützen, versucht, ihm zu helfen. So erhoffte sich die Gralsgesellschaft etwa durch die "vier Wasser, die vom Paradies her fließen" ("die vier wazzer ûzem paradîs", 481,23) Hilfe und sie verschaffen sich das Blut des pellicânus, dem ebenso auf nicht genau erklärbare Weise eine heilende Wirkung zugesprochen wird (482,12–23). So kann durch die Erfolgsquote der heilkundlichen Vorgehen ein Rückschluss auf die Gesellschaften gezogen werden. Denn die Gralsgesellschaft unterliegt lediglich der Gottesherrschaft, womit irdische Heilungsversuche von Beginn an zum Scheitern verurteilt sind.

Ferner bringt Bumke das "Arztmotiv mit dem gesellschaftlichen Heilungsprozess in Zusammenhang, von dem in den Büchern X–XIV erzählt wird".[Bumke 2004: S. 95]

Eine andere Möglichkeit ist es, die Einbettung einer medizinischen Thematik in Hinblick auf Wolframs Erweiterungsstreben, in Bezug auf die französische Vorlage, den Conte du Graal zu interpretieren. Demnach fügt Wolfram Elemente aus seinem breiten Wissensschatz in den Parzival ein, mit der Absicht, sich von der Vorlage abzugrenzen und zudem eine größere Komplexität des Erzählstoffes zu schaffen.

Des Weiteren kann die Tatsache, dass der Ritter Gawan neben seiner Intelligenz, seines Mutes und seiner Hilfsbereitschaft darüber hinaus noch medizinische Kenntnisse aufweisen kann, als eine Art Abrundung seines heldenhaften Auftretens gedeutet werden. Somit erscheint er in kontrastiver Stellung zu Parzival, der insbesondere zu Beginn wenig heldenhaft anmutet.

Fazit

Wie dargestellt wurde, finden sich im Parzival mehrfach Partien, in denen ein Heilungsvorgang beschrieben wird. Es hat sich außerdem gezeigt, dass Wolfram über enzyklopädische Kenntnisse im Bereich der Medizin verfügt. Ob er tatsächlich eine chirurgische Ausbildung genossen hat, wie Haage vermutet, ist fraglich. Mit Sicherheit behauptet werden kann allerdings, dass eine Anhäufung von medizinischer und naturwissenschaftlicher Thematik im Parzival auszumachen ist. Zudem hat sich gezeigt, dass die Therapieversuche in Munsalvaesche und Schastel marveile unterschiedlichen Erfolg haben. Dies lässt Rückschlüsse auf die dort befindliche Gesellschaft und Herrschaftsform zu.

Literaturverzeichnis

[*Bindschedler 1985] Bindschedler, Maria: Der Ritter Gawan als Arzt oder Medizin und Höflichkeit, in: Mittelalter und Moderne. Gesammelte Schriften zur Literatur, hg. von André Schnyder, Bern/Stuttgart 1985, S. 207–220.

[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004. (Sammlung Metzler Bd. 36).

[*Dallapiazza 2009] Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival , Klassiker Lektüren 12, Berlin 2009

[*Emmerling 2003] Emmerling, Sonja: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des Parzival, Tübingen 2003

[*Haage 1990] Haage, Bernhard Dietrich: Hartmann, Gottfried, Wolfram und die Medizin, in: Levense Bijdragen, Tijdschrift voor Germaanse Filologie, (79) 1990, S. 301–315.

[*Haage 1992] Haage, Bernhard Dietrich: Studien zur Heilkunde im "Parzival" Wolframs von Eschenbach, Göppingen 1992 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 565).

[*Haage 2010] Haage, Bernhard Dietrich: Schöllkraut im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach (Pz. 516,21–27), in: Leuvense Bijdragen-Leuven Contributions in Linguistics and Philology (96) 2010, S. 121–129.

[*Haferlach 1991] Haferlach, Thorsten: Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten, Heidelberg 1991.

[*Riha 2004] Riha, Ortrun: Lüge, Selbstbetrug und die Wahrheit des Möglichen. Die Erfindung (in) der mittelalterlichen Medizin, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Zeitschrift des Mediävistenverbandes, hg. von Ulrich Ernst, Bd. 9, Heft 2 (2004), S. 123–138.

  1. Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. Haage vermutet, dass Wolfram hierbei an Schöllkraut gedacht hat. Allerdings kann dies nicht mit Sicherheit festgestellt werden.[Haage 2010: vgl. S. 128.]