Die Vermählung Parzivals mit Condwiramurs - Trinoctium Castitatis

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Gegenstand dieses Artikels ist die Bedeutung der ersten ehelichen Begegnung zwischen Condwiramurs und dem Protagonisten Parzival im gleichnamigen Roman[1] von Wolfram von Eschenbach. Analysiert wird die Frage, inwiefern die Enthaltsamkeit in den ersten drei Nächten ihrer Ehe ihren Ursprung in der asketisch-kirchlichen Vorschrift der "Tobiasnächte" hat. Dabei wird zunächst die Begrifflichkeit der Trinoctium Castitatis geklärt, um darauf aufbauend ausgewählte Textstellen im Roman zu analysieren.

Trinoctium castitatis - die Vorschrift der "Tobiasnacht"

Der Brauch der Enthaltsamkeit in den ersten drei Ehenächten - auch "Tobiasnächte" genannt - hat seinen Ursprung nicht nur im jüdisch-christlichen Glauben, sondern ist auch bei Naturvölkern zu finden. Die Angst vor "schädlichen Zaubereinflüssen" [Schuhmacher 1967: 40] und die auch schon in den Naturvölkern vorhandene Furcht vor Verunreinigung durch den Koitus sind Gründe für diesen Brauch. Niedergeschrieben ist diese Vorstellung im Buch Tobit (oder auch Tobias) des alten Testaments (Vulgata: Tobias 6, 18), wo es religiös motiviert ist [Wettlaufer 1998: 206] [Schuhmacher 1967: 40]. Diese Sitte ist "eine abgeleitete Regel des Volksglaubens (...), um Unglück von dem Bräutigam und der Ehe im Ganzen abzuwenden" [Wettlaufer 1998: 206]. Die Vorschrift der Enthaltsamkeit in den ersten Ehetagen stammt aus frühchristlicher Zeit. Die Dauer der Kontinenz ist nicht festgeschrieben, in den meisten Fällen wird jedoch von zwei bis drei Nächten gesprochen. Weit verbreitet in der Bevölkerung war der Glaube, dass diese Enthaltsamkeit Schutz bietet vor dem Einfluss böser Geistern und schädlicher Zauber. Die "offizielle" Begründung der Kirche war jedoch die Achtung des kirchlichen Segens. "Diese Anordnung erwuchs aus dem Gedanken, daß die biologischen, erbsüdlich belasteten Gegebenheiten des Ehelebens schändlich, verunreinigend und mit dem Übernatürlichen unvereinbar sind" [Schuhmacher 1967: 40]. Im Mittelalter wurde dieser Ritus zwar nicht aufgehoben, der Rat war jedoch eher unverbindlicher Natur. Im späten Mittelalter rückte es dann wieder mehr in den Vordergrund. Es ist davon auszugehen, dass zu Lebzeiten Wolfram von Eschenbachs die Sitte der "Tobiasnächte" dem Publikum und dem Dichter selbst geläufig war [Schuhmacher 1967: 41].

Die Szene der ersten ehelichen Begegnungen zwischen Parzival und Condwiramurs

Schon die ersten Begegnungen von Parzival und Condwiramurs vor ihrer Ehe zeugen von Zuneigung und tiefem Vertrauen. Parzival ist ihr Retter in der Not und ihr Vertrauen in den Helden beweist sie während ihres nächtlichen Besuches nach dem ersten Kennenlernen. Erfüllt von Sorge über den Krieg sucht sie Rat und Trost bei Parzival (V.192, 5ff). Der Erzähler betont, dass das Mädchen keine sexuellen Hintergedanken hat (V.192, 10ff). Auch als Parzival sie auffordert sich zu ihm zu legen (V.194,4), denken beide dabei nicht an sinnliche Freuden [Emmerling 2003: 299] [Schuhmacher 1967: 38]. Der Protagonist übernimmt die Rolle des Beschützers und siegt im Zweikampf gegen den Belagerer Kingrun. Condwiramurs verspricht ihrem Helden und neu gewonnenen Freund daraufhin die Ehe (V.200, 6ff). Der Autor beschreibt das Verhalten der frisch Vermählten in ihrer Hochzeitsnacht anfangs als scheu und zögernd.

V. 201,21 -23: er lac mit sölhen fuogen, Und als er bei ihr lag, war er so fein und bescheiden,
des nu niht wil genuogen daß so manche von den Damen, die jetzt hier sitzen,
mangiu wîp, der in sô tuot. mit ihm unzufrieden wäre, wenn einer ihr das antäte

Intimitäten tauschen die beiden in ihren ersten gemeinsamen Nächten als Ehepaar nicht aus. Erst in der dritten Nacht vollziehen sie die Ehe und schlafen miteinander (V.203, 6ff).

Das zögerliche Verhalten und die Dauer der Kontinenz stimmen mit dem Brauch der Tobiasnächte überein. Die Beweggründe scheinen jedoch nicht zu der asketisch-kirchlichen Vorschrift zu passen. Es finden sich keine Anzeichen in der Szene, dass die Enthaltsamkeit als Schutz vor bösen Geistern oder schlechten Zaubereinflüssen dient. Auch der religiöse Aspekt, wie er im alten Testament zu finden ist, kann nicht durch den Text begründet werden. "Alles Geschehen und Erleben verbleibt hier im Bereich des Zwischenmenschlichen, Diesseitigen" [Schuhmacher 1967: 41]. Welchen Sinn haben nun die enthaltsamen Nächte? Drei Mögliche Erklärungen werden im Folgenden dargestellt und diskutiert.

Die Naivität der Vermählten

Die augenfälligste Begründung ist die Naivität und die Unerfahrenheit des Paares mit der körperlichen Liebe, wie Emmerling sie vertritt. Dass Parzival in dem weiblichen Geschlecht in vielerlei Sicht noch sehr unbedarft ist, zeigen seine ersten Begegnungen mit Frauen[2], durch die er sich jedoch auch weiter entwickelt. Dennoch zeigt er bei allen drei Frauen seine kindliche Unerfahrenheit und seine Unberührtheit [Schuhmacher 1967: 41f]. Auch Condwiramurs zeigt ihre Unbedarftheit in der Hochzeitsnacht, da sie offenbar glaubt, nun sei die Ehe vollzogen:

V. 202,23 -25: sie wânde iedoch, si wær sîn wîp: Sie glaubte aber, sie wäre nun seine Frau.
durch sînen minneclîchen lîp Sein liebenswerter Leib war ihr Grund genug, sich für verheiratet zu halten.
des morgens si ir houbet bant. Am Morgen band sie sich deshalb die Haube.

Schon ihre Begegnung in der Nacht zuvor vermittelt das Bild zweier Menschen, die noch etwas kindlich und unerfahren zu sein scheinen. Auch wenn Parzival schon einen großen Schritt von dem tumpen'' Knaben hin zu einem weisen Ritter gemacht hat, so zeigt sich, dass seine Entwicklung[3] noch nicht abgeschlossen ist.

Die Betonung der geistlich-seelischen Beziehung

Ein weiterer Aspekt dieser verzögerten körperlichen Liebe könnte die Betonung der geistlich-seelischen Beziehung des Paares sein. Es ist eine langsame Steigerung von freundschaftlicher Annäherung und Vertrauen - dargestellt durch die ersten Treffen - über seelische Verbundenheit, bis hin zur sinnlichen Verwirklichung. Die sinnliche Liebe soll dabei keinesfalls entwertet werden [Schuhmacher 1967: 42]. In der dritten Nacht, in der das Paar die Ehe vollzieht, zeugt Parzivals Verhalten nicht von einer zwanghaften Triebhaftigkeit, sondern von einer gewissen Einsicht:

V. 203,2 -5: von im dicke wart gedâht Oft dachte er daran,
umbevâhens, daz sîn muoter riet: was seine Mutter vom Umarmen gesagt hatte,
Gurnemanz im ouch underschiet, und Gurnemanz hatte ihn auch gelehrt,
man und wîp wærn al ein. Mann und Frau seien eins.

Der Erzähler betont auch Condwiramurs reine Gesinnung, indem er sie von den Frauen abgrenzt, die zwar vor fremden Leuten Keuschheit vortäuschen, doch ihren Geliebten gegenüber aufdringlich sind (V.201, 24ff). Schuhmacher sieht ebenso ihr Verhalten nach der Hochzeitsnacht als ein Zeichen ihrer Reinheit und nicht ihrer Unbedarftheit bzw. Naivität. Durch die keusche und reine Art der Annäherung beweise das Paar ihre Eignung für das Gralskönigtum, da es damit eine wichtige Voraussetzung der Gralsberufung - nach Trevrizent und Titurel - erfülle. Sie seien durch die fehlende Triebhaftigkeit und dem Fokus auf die geistlich-seelische Beziehung dem Gralskönigtum würdig [Schuhmacher 1967: 43]. Emmerling stellt diese Schlussfolgerung in Frage: "Die Überordnung einer gefühlsmäßigen Bindung über die sinnliche Komponente (...) bedeutete jedoch vor dem Hintergrund des hohen Stellenwerts, den der 'Parzival'-Dichter in seinem gesamten Roman der körperlichen Nähe zuschreibt, zweifellos eine Fehleinschätzung von Wolframs Modell einer idealen Minnegemeinschat und würde den Text überstrapazieren" [Emmerling 2003: 301].

Der getriwe staete man als Ideal?

Idem Wolfram während seiner Erzählung der enthaltsamen Nacht zu einem Gleichnis vom treuen und vorbildlichen Liebhaber wechselt, schafft er Raum für weitere Interpretationen der trinoctium castitatis. Der getriwe stæte man (V.202, 3), den der Erzähler beschreibt, der nach vielen Jahren Minnedienst zu seiner Geliebten zurück kehrt, entscheidet sich bewusst gegen die körperlichen Zärtlichkeiten und für einen rein geistigen Austausch mit seiner Geliebten (V.202, 9ff). Mit diesem Minnediener ist keinesfalls Parzival gemeint, da die Anmerkungen nicht auf ihn passen. Weder der jahrelange Minnedienst, noch die reflektierte Haltung stimmen mit dem Protagonisten überein. Dieser Einschub hat die Funktion eines Vergleiches: "sus lac der Wâleise" (V.202, 19). Parzival lag so da, er verhielt sich so wie der getriwe stæte man [Wesle 1950: 19f]. Äußerlich passt Parzivals Verhalten, seine Enthaltsamkeit, mit dem des Gleichnisses überein. Die Rahmenhandlung, die Motivation und die geistige Haltung sind jedoch unterschiedlich.

Welchen Sinn diese Sequenz während ihrer ersten enthaltsamen Hochzeitsnacht hat, ist in der Literatur verschieden diskutiert worden. Schumacher sieht in dem imaginären Ritter das Ideal eines Liebhabers, der rücksichtsvoll und einfühlsam auf die Empfindungen und Neigungen seiner Partnerin eingeht, und gleichzeitig seine eigenen Belange zurückstellt. Vergleicht man die beiden Männer, so handelt Parzival aus unbewusster reiner Gesinnung und naiver Unerfahrenheit im Gegensatz zum imaginären Liebhaber, der aus "reflektierter Beherrschung und höfisch-erotischeem Feingefühl" [Schuhmacher 1967: 44] handelt. Die Zurückhaltung resultiert bei Parzival aus seiner Naivität und bei dem Minneritter aus seiner Selbstkontrolle, die seine triebhaften Neigungen unterdrückt. Es ist nicht das Bild eines derben Mannes, der auf seine Rechte als Ehemann pocht, sondern das eines vorbildlichen, kultivierten Liebhabers, der den Maximen der höfischen Minnekultur folgt. Diese anfängliche Enthaltsamkeit schafft Raum für eine viel feinere und sinnlichere erotische Beziehung und zeigt die besondere Hinwendung zum Partner [Schuhmacher 1967: 44ff]. Nach Schumacher wechsle Wolfram über das Tertium comparationis - hier das äußere Verhalten beider Männer - auf die Ebene der Reflexion, zu der die frisch Vermählten nicht fähig seien, und führe so auf diesem Weg eine neue Geisteshaltung ein [Schuhmacher 1967: 44f] [Emmerling 2003: 302]. "Die theozentrische Sinngebung der enthaltsamen Ehenächste ist im Zeitalter des beginnenden Individualismus einer anthropozentrischen Deutung gewichen" [Schuhmacher 1967: 46].

Eine andere Interpretation des Gleichnisses liefert Emmerling, die nicht das Bild einer idealen Minnebeziehung teilt. Diese Beziehung sei nichts anderes als "die Perversion des Konzeptes der Hohen Minne: Die Liebenden sind sich durch die jahrelang aufgezwungene Distanz so fremd, dass sie im Moment der Erfüllung mit ihren Wünschen nicht umgehen können" [Emmerling 2003: 302]. Das Gleichnis sei überhaupt nicht notwendig, um Parzivals Rücksichtnahme als ideale Grundlage einer Minnebeziehung darzustellen, sondern es thematisiere vielmehr die Fremdheit der Minnepartner. Die Unterschiedlichkeit der Motive und Geisteshaltung weise viel eher auf die Andersartigkeit von Parzivals Verhaltensmustern hin [Emmerling 2003: 302]. Damit soll laut Emmerling verhindert werden, dass die Zurückhaltung als reflektierte Handlung interpretiert wird.

Fazit

Die im Mittelalter übliche Sitte der Enthaltsamkeit in den ersten drei Ehenächten stimmt nur rein äußerlich mit der Beschreibung der ersten Nächte von Parzival und Condwiramurs als Ehepaar überein. Die frisch Vermählten verhalten sich zurückhaltenden und vollziehen die Ehe erst in der dritten Nacht. Die religiösen und asketischen Bewegründe für die Enthaltsamkeit finden sich jedoch nicht Wolframs Werk. Der Autor gibt den Tobiasnächten, gesetzt den Fall ihm haben diese als Grundlage gedient, neue Motive. Welche Motive hinter dem enthaltsamen und zurückhaltendem Verhalten des Paares stehen, wird in der Literatur diskutiert. Die augenfälligste Begründung, wie sie Emmerling vertritt, ist die Naivität und die Unerfahrenheit des Paares, wenn es um die körperliche Liebe. Ein weiterer, teils kritisch betrachteter, Deutungsansatz von Schuhmacher ist die Betonung der seelisch-geistlichen Beziehung, die Vorrang vor der körperlichen Liebe hat. Das Verhalten wird hier nicht als naiv oder unerfahren gedeutet, sondern es zeugt von der keuschen und reinen Art des Paares.

Das Gleichnis des treuen, beständigen Minnediener schafft weiteren Raum für Interpretationen. Dass es sich bei diesem Ritter nicht um Parzival handelt, ist unzweifelhaft. Wozu Wolfram jedoch an genau dieser Stelle die Geschichte eines Minneritters erzählt, der nach jahrelangem Dienst zu seiner Geliebten zurückkehrt und sich dann gegen die körperliche Liebe entscheidet, ist umstritten. Das Bild des Ritter als Ideal eines Liebhabers, der rücksichtsvoll handelt und auf die Gefühle seiner Partnerin eingeht, steht dem des entfremdeten Minnepartners gegenüber. Die Frage, ob Wolfram eine ideale Minnebeziehung oder die Perversion des Konzeptes der Hohen Minne darstellt, bleibt offen.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

<Harvardreferences />

[*Parzival] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003

Sekundärliteratur

[*Emmerling 2003] Emmerling, Sonja: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des "Parzival". Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell. Tübingen: Niemeyer 2003.

[*Schuhmacher 1967] Schuhmacher, Marlis: Die Auffassung der Ehe in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach. Heidelberg: Winter 1967.

[*Wesle 1950] Wesle, Carl: Zu Wolframs Parzival. PBB. Heft 72, Band 1950, 1-38.

[*Wettlaufer 1998] Wettlaufer, Jörg: Das Herrenrecht der ersten Nacht. Hochzeit, Herrschaft und Heiratszins im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 1998.

Fußnoten

  1. Im Folgenden stets zitierte Ausgabe: [Parzival].
  2. Näheres hierzu: Minnebegegnungen - Parzival und die Frauen
  3. Näheres zur Entwicklung Parzivals: Adoleszenz in der Ritterwelt