Gawans Geheimdiplomatie (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

Aus MediaeWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der Ritter Gawan betreibt im 12. Buch des Parzival, nachdem er das Abenteuer auf Schastel marveile erfolgreich bestanden hat, eine seltsame Geheimdiplomatie mit König Artus, Orgeluse, den Verwandten, welche er auf Schastel marveile befreit hat, und weiteren Personen. Für den Leser sind seine Handlungen nur schwerlich nachzuvollziehen, da der Nutzen seiner Heimlichkeit auf den ersten Blick nicht erkennbar ist und die Situation durch sie eigentlich nur verkompliziert wird. Vom Erzähler erhält der Leser auch keine weiteren Informationen, welche ihn über das seltsame Verhalten aufklären. Dieser Artikel soll die verschiedenen Geheimhaltungshandlungen Gawans aufzeigen und die dazugehörigen Forschungsmeinungen darstellen.


Inhaltlicher Kontext

Gawan, der vorbildliche Ritter der Tafelrunde, hat das Abenteuer auf Schastel marveile erfolgreich bestanden und ist nun neuer Herr dieser Festung, mitsamt Ländereien und Gefolge. Er hatte gehofft dadurch seinem Ziel, der Heirat mit Orgeluse, der Herzogin von Logroys, näher zu kommen. Doch diese hat noch weitere Prüfungen für ihn bereit und er muss gegen weitere Kämpfer antreten. Zuletzt trifft er auf Gramoflanz, den Erzfeind Orgeluses, welcher sein letzter Gegner vor der Erfüllung seines Wunsches sein soll, und er vereinbart mit diesen einen Zweikampf in Joflanze, bei welchem der ganze Artushof zugegen sein soll. Gawan sendet einen Boten an König Artus und dieser erscheint auch mit dem gesamten Gefolge am angewiesenen Ort. Dort kommt es, abgesehen von einigen Kämpfen, auch zur Wiedervereinigung einiger Verwandten. Gawan hat nämlich Arnive, die Mutter von König Artus, Sangive, der Tochter von Arnive, damit Artus Schwester und gleichzeitig Gawans Mutter, zusätzlich deren Töchter Itonje und Cundrie, die Schwestern Gawans, von der Gefangenschaft auf Schastel marveile befreit und mitgebracht.


Gawans Geheimhaltungen

Gawan gibt sich, nach Befreiung seiner Angehörigen, diesen nicht zu erkennen, sondern verhält sich förmlich und distanziert. (Vgl. Parzival. 590,17ff.) Zudem verbietet er Orgeluse, welche seinen Namen kennt, diesen anderen Leuten zu verraten:

dô sprach er >frouwe, tuot sô wol, Er sagte: >Herrin, seid so gut,
ob ich iuch des biten sol, falls ich euch darum bitten darf -
lât mînen namen unrekant gebt nicht meinen Namen preis

(Parzival. 620,1-3.)

König Artus gegenüber, dem er einen Boten schickt, welcher ihn bitten soll beim Zweikampf in Joflanze zu erscheinen, teilt Gawan die wichtige Information nicht mit, dass er inzwischen Herr von Schastel marveile geworden ist und zudem die lang vermissten Verwandten von Artus befreit hat. (Vgl. Parzival. 625,16-626,8.) Er schickt den Boten auch nicht direkt zum König, sondern befiehlt ihm, den nicht versiegelten Brief zuerst zur Königin zu bringen und keinem zu sagen, dass es einen neuen Herrn von Schastel marveile gibt. (Vgl. Parzival. 626,16-22.) Der Bote inszeniert nach Absprache mit Königin Ginover eine angebliche Erstübergabe des Briefes an König Artus vor dessen Hofgesellschaft. (Vgl. Parzival. 646,23-652,2.)

Zudem verschweigt Gawan seinem königlichen Onkel, dass er sich im Dienst der Orgeluse von Logroys befindet und nimmt dadurch billigend in Kauf, dass es auf der Reise des Artushofs nach Joflanze zu unnötigen Kämpfen zwischen arturischen Rittern und solchen, welche Orgeluse dienen, kommt. (Vgl. Parzival. 664,17f.)

Hinzukommend verschweigt Gawan Orgeluse und den Bewohnern von Schastel marveile, dass König Artus wegen ihm nach Joflanze und an ihrer Festung vorbeiziehen wird. Als nun das arturische Heer an Schastel marveile vorbeikommt, verhält er sich so, als würde er dieses Heer nicht kennen, lässt den Fährmann sämtliche Boote anketten, das Burgtor verschließen und zum Kampf rüsten, falls ein solcher anfallen sollte.(Vgl. Parzival. 663,10-30.)

All diese Handlungen werden im Text nicht begründet und erscheinen daher etwas befremdlich. Die Forschungsmeinungen gehen diesbezüglich auch auseinander.

Interpretationsansätze

Gawans Stolz

Eine mögliche Interpretation der Motivation für diese Handlungen ist Gawans Stolz (vornehmlich vetreten von Poag: "I believe the motivation lies in Gawan's pride.")[Poag 1977: S. 71] Demnach wäre Gawan zu unterstellen, dass seine "ganze Geheimnistuerei auf die Überraschung angelegt" sei um König Artus und den versammelten Artushof zu beeindrucken und als großer Befreier und mächtiger Ritter dazustehen.[Bumke 2004: S. 158] Im anbetracht der Kämpfe zwischen den arturischen Rittern und denen von Orgeluse und der damit einhergehenden Opfer bzw. Verletzen wirft das freilich kein gutes Licht auf ihn. Dem widerspricht jedoch, dass Gawan die Befreiung der Verwandten in Artus Zelt dem König offenbart und nicht vor versammeltem Hofe. (Vgl. Parzival. 672,1-14.) Zudem wäre eine Demonstration der eigenen Taten und Macht für Gawan am einfachsten gewesen zu dem Zeitpunkt, als das arturische Heer vor seiner neuen Residenz Schastel marveile vorbeikam. Dort aber verhält er sich gegenteilig und hält sich versteckt.(Vgl. Parzival. 663,10-30.)

Die hinausgezögerte Überraschung für König Artus seine Verwandten wieder zu sehen, könnte auch erzähltechnisch mit einer Klimax begründet werden, um diese Überraschung als erste in eine Reihe von Überraschungen zu stellen: "[T]he suprise scene itself, when taken from the point of view of the whole work is actually only the first in a series of surprising events - the duels between Gawan and Parzival, Gramoflanz and Parzival, Feirefiz and Parzival - culminating in the great surprise, the arrival of Cundrie with the announcement of Parzival's election to the grail kingship."[Johnson 1958: S. 291]

Des weiteren wäre es möglich, dass Gawan sich seinen Verwandten nicht zu erkennen gibt, um auf jeden Fall gegen Gramoflanz kämpfen zu können, welcher als einziger seinem Ziel, der Vereinigung mit Orgeluse, noch im Weg steht. "It is clear, that Gawan must kill Gramoflanz, if he is to receive Orgeluse's love."[Poag 1977: S. 72] Da dieser jedoch in einer Liebesbeziehung zu Gawans Schwester Itonje steht, würde diese, beim Bekanntwerden der Kämpfer, sicher dem Zweikampf im Wege stehen, was auch schlussendlich passiert. Eine Verheimlichung er eigenen Identität aus diesem Grunde würde erneut ein schlechtes Licht auf den Vorzeigeritter Gawan werfen. Doch auch diesem widerspricht die Tatsache, dass Gawan seinen Angehörigen die eigene Identität vorenthält, bevor er überhaupt von dem Zweikampf mit Gramoflanz weiß. Zudem besteht er gar nicht auf den Zweifkampf, sondern eine Versöhnung wäre ihm lieber, was er selbst ausspricht und auch eher zu seinem bekannten Wesen passt:

mirst dennoch morgen alze fruo, Bin ich zu diesem Kampf gezwungen -
sol ich des kampfes grîfen zuo. der wär mir morgen noch zu früh!
wolt michs der künec erlâzen, Ersparte ihn mir Gramoflans,
des jæhe ich im gein mâzen. so würd ich sagen: Sehr vernünftig!

(Parzival. 708, 17-20.)


Gawans politische Vorsicht

Eine weitere mögliche Interpretation, die Niesner sehr plausibel darstellt, ist die Möglichkeit, dass "[d]ie einzelnen Maßnahmen Gawans insgesamt dem Ziel [dienen], zwischen der angestammten Identität des Artusritters Gawan und seiner neuen Rolle als Herrscher von Schastel marveile zu trennen."[Niesner 2007: S. 42] Und dies zu dem Zweck, dass Artus als ideale Herrscherinstanz nicht in Frage gestellt wird. Um dies deutlich zu machen, muss etwas weiter ausgeholt werden.

Bedeutung von Schastel marveile für den Artushof

Bereits beim Turnier von Kanvoleis wird erwähnt, dass der junge König Artus nicht teilnehmen kann, weil er auf der Suche nach seiner Mutter ist, die von einem Zauberkundigen entführt wurde.(Vgl. Parzival. 65,30-66,9.) Später wird klar, dass es sich bei diesem um den Zauberer Clinschor handelt, welcher nicht nur Arnive, Artus Mutter, sondern später auch noch Sangive, seine Schwester, und deren Töchter entführte. Die Tatsache, dass erst Gawan all diese Frauen befreit, lässt die Vermutung zu, dass Artus bei seinem Befreiungsversuch gescheitert ist. Als die Gralsbotin Cundrie im sechsten Buch auf die Gefangenschaft der edlen Damen hinweist, zeigt weder König Artus noch irgendjemand sonst eine Reaktion und das obwohl es sich um direkte Anverwandten des Königs handelt! (Vgl. Parzival. 318,11-319,21.) "So scheint es in der Artusgesellschaft einen - naturgemäß unausgesprochenen - Konsens zu geben, den Landfriedensbruch Clinschors nicht mit der Person des Königs in Verbindung zu bringen und überhaupt soweit als möglich über ihn zu schweigen" um nicht den Gesichtsverlust von Artus zu riskieren und somit seine Legitimation zu beschädigen.[Niesner 2007: S. 44] Denn ein König sollte eigentlich in der Lage sein, Land und Leute zu schützen, was sich der Artushof ja auch als Aufgabe gestellt hat. Wenn man es also genau nimmt, ist König Artus, genauso wenig in der Lage seine Gesellschaft zu regieren, wie der kranke Gralkönig Anfortas, was auch die "chaotischen Zustände" der ersten Szene des Artushofes erklären könnte.[Bumke 2004: S. 62 und 87] Da die arturische Herrschaft auf dessen Idealität beruht und nicht auf Lehnsherrschaft,[1] wird deutlich, dass derjenige, der die aventiure von Schastel marveile besteht, durchaus die Nachfolge von König Artus antreten könnte. Eine derartige politische Umwälzung würde jedoch einige kriegerische Konflikte hervorrufen. Wenn Gawan solche Ambitionen fernliegen, so muss er sehr vorsichtig mit der Offenbarung seiner bestandenen aventiure sein. Diesbezüglich lassen sich auch die einzelnen Geheimhaltungen erklären.

Die Botschaft an König Artus

Gawan hat mit Gramoflanz vereinbart, dass König Artus dem Zweikampf in Joflanze beiwohnen wird. Die Einladung eines Herrschers mit seinem gesamten Gefolge an einen bestimmten Ort war im Mittelalter jedoch dem höher stehenden Herrscher vorbehalten.[Michael 1888: Vgl. S. 7.] "Damit Gawans Einladung nicht als bewusste Provokation, ja als Anmeldung eines neuen Herrschaftsanspruches erscheint", formuliert er seine Botschaft äußerst vorsichtig und begründet sie damit, dass er in Not sei:[Niesner 2007: S. 48-49]

er enbôt ze Löver in daz lant König Artus und Gemahlin
Artûse unt des wîbe (die im Lande Leuver waren)
dienst von sîme lîbe erwies er seine Reverenz
mit triwen unverschertet: mit ungebrochner Loyalität,
und het er prîs behertet, und wenn er Ruhm erworben hätte,
der wære an der werdekeite tôt, so wäre seine Würde tot,
sine hulfen im ze sîner nôt, falls sie - er sei in Not - nicht hülfen,
daz si beide an triwe dæhten indem sie treue Bindung zeigten
unt ze Jôflanze bræhten und die gesamte maison du roi
die massenî mit frouwen schar: samt Damen nach Joflance brächten,
und er kœme ouch selbe gein in dar wohin er selber kommen werde
durch kampf ûf al sîn êre. zu einem Kampf um seine Ehre.

(Parzival. 625,16-27.)

Er bittet also Artus um Hilfe in der Not und appelliert an seine "triwe", als würden sie in einem Lehnsverhältnis stehen. Zudem markiert er durch den Hinweis, dass er selbst auch nach Joflanze kommen wird, dass er Artus nicht zu sich zitiert, sondern einen "neutralen dritten Ort" als Treffpunkt vorschlägt.[Niesner 2007: S. 40] Zudem wird in der Botschaft nicht erwähnt, dass Gawan neuer Herrscher von Schastel marveile ist. Da er aber nicht nur die Einwilligung des Königs braucht, sondern auch darauf angewiesen ist, dass dessen gesamtes Gefolge, die "massenî", dem Aufruf ohne Argwohn folgen, ist die Inszenierung der Erstüberbringung der Botschaft mitsamt ihrer "komödiantischen Effekte" notwendig.[Dallapiazza 2009: S. 71.][2]

Gawans Verheimlichung seiner Identität und sein Verstecken auf Schastel marveile

Gawans Bedürfnis die Machtverhältnisse der arturischen Gesellschaft nicht in Aufruhr zu versetzten mag auch ein Grund für die Verheimlichung seiner Identität sein. Hätte er sich seinen befreiten Verwandten offenbart, so wäre es durchaus möglich gewesen, dass sich die Gerüchte verbreiten würden, wer denn neuer Herr auf Schastel marveile ist. Deswegen auch die Bitte an Orgeluse niemandem zu offenbaren wer er sei. Doch die Gefahr, dass seine neue Rolle dem Artushof bekannt und seine Verwandten auf seiner Burg seine Identität erfahren, stellt sich erneut, als das arturische Heer vor Schastel marveile lagert. Deswegen hält sich Gawan auch auf Schastel marveile versteckt, schließt das Tor und lässt die Boote anketten, damit kein Kontakt zu diesem Heer hergestellt wird.(Vgl. Parzival. 663,10-30.) Der Erzähler kritisiert Gawan für seine Heimlichkeit in dem Sinne, dass er Orgeluse nicht über seinen Plan informiert hat, denn diese hätte die Kämpfe zwischen ihren Rittern und denen König Artus' unterbinden können. Doch später wird deutlich, dass Gawan nicht mit Kämpfen zwischen diesen gerechnet hat, da Orgeluse als Witwe (und somit auch ihr Gefolge) eigentlich unter dem prinzipiellen Schutz der Artusgesellschaft stehen sollte. (Vgl. Parzival. 672,25-673,1.)

Inszenierung von König Artus als Friedensstifter

Das Arnive und ihre Nachkommen von Gawan befreit wurden, offenbart dieser seinem Onkel Artus in Joflanze unter Auschluss der Öffentlichkeit im Zelt Königs.(Vgl. Parzival. 672,1-21.) Doch kein Wort des Dankes wird gesprochen, noch wird Schastel marveile irgendwie erwähnt. Dem Volk öffentlich bekannt wird die Befreiung erst bei der Versöhnung von Orgeluse mit Gramoflanz und der mehrfachen Hochzeit. Der Erzähler selbst hebt den wichtigen Umstand hervor, dass bei dieser Zeremonie die befreiten Damen zugegen sind:

Arnîve diu guote, Artus hatte schon zuvor
Sangive unt Cundrîê, die gütige Arnive,
die hete Artûs gebeten ê Gundrie und Sangive
an dirre suone teidinc. zum Versöhnungsakt gebeten.
swer prüevet daz für kleiniu dinc, Wer dies für Bagatellen hält,
der grœze swaz er welle. der blähe auf, was ihm gefällt.

(Parzival. 729, 2-7.) [3]

"[König Artus] führt die drei Frauen somit in einem Moment der Gesellschaft wieder zu, in dem er selbst, der dem Landfriedensbruch Clinschors machtlos gegenüberstand, Gelgenheit erhält, sich vor großem Publikum als Friedensstifter zu bewähren."[Niesner 2007: S.64] Gawan selbst hält sich in dieser Szene komplett zurück. Seine Geheimdiplomatie diente demnach also dazu den Gesichtsverlust von König Artus zu vermeiden und die gesellschaftlichen und hierarchischen Zustände zu einem gewissen Grad zu wahren, bis ein geeigneter Zeitpunkt erreicht ist, um die Befreiten wieder dem öffentlichen Leben zuzuführen.

Quellennachweise

  1. Dies wird in der Szene deutlich, in welcher Gawan sich Parzival vorstellt und seinen König beschreibt: Parzival, 303,15-24.
  2. Keie ist tatsächlich voller Argwohn und unterstellt Gawan, dass dieser mit Artus seine Spielchen treiben würde, indem er ihn nach Joflanze bittet: Parzival. 651, 7-12.
  3. Itonje befand sich bereits in besagter Runde.


Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Dieter Kühn. Kommentiert von Eberhard Nellmann, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main, 2006.


[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36).

[*Dallapiazza 2009] Michael Dallapiazza: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2009.

[*Johnson 1958] Johnson, Sidney M.: Gawan's surprise in Wolfram's Parzival. In: Germanic Review, 33:4, 1958, S. 285-292.

[*Niesner 2007] Niesner, Manuela: Swes got an mir gedâchte, daz biutet dienst sîner hant: Gawans Geheimdiplomatie in Wolframs Parzival, in: Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur, hg. von K. Donhauser, K. Grubmüller und J.-D. Müller, Vol. 129, Issue 1, Tübingen 2007, S. 38-65.

[*Poag 1977] Poag, James F.: Gawan's surprise, In: Wolfram Studien IV, Hrsg. von Werner Schröder, Berlin 1977, S. 71-76.