Jungfräulichkeit im Parzival: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Geschlechtsverkehr nach der Hochzeit wird somit als gesellschaftliche Konvention anerkannt. Doch hierbei ist nicht immer die Defloration mitinbegriffen.
Der Geschlechtsverkehr nach der Hochzeit wird somit als gesellschaftliche Konvention anerkannt. Doch hierbei ist nicht immer die Defloration mitinbegriffen.
[[Die Gralsbotin Cundrîe (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|Cundrîe]], die hässliche Gralsbotin, wird von der minne ausgeschlossen. Hier ist die Jungfräulichkeit eine von außen erzwungene Ausgrenzung aus der höfischen Welt.


== Die Erbsünde ==
== Die Erbsünde ==

Version vom 12. Juli 2015, 22:29 Uhr

Jungfräulichkeit wird im Parzival[1] unterschiedlich dargestellt. Nicht nur Frauen sind jungfräulich, sondern auch Männer. Wie sieht die Wertung von Jungfräulichkeit bei Männern und bei Frauen aus? Ist eine Defloration positiv oder negativ konnotiert?

Bedeutung von Jungfräulichkeit

Im Gespräch mit Parzival spricht Trevrizent nicht nur Parzivals Sünden und deren Wiedergutmachung an, sondern auch was Jungfräulichkeit und Keuschheit innerhalb der erzählten Welt bedeutet:

mittelhochdeutsch Übersetzung
in der werlt doch niht sô reines ist, In der Welt gibt es nichts so reines
sô diu magt ân valschen list. wie eine Jungfrau ohne falsche Listigkeit.
nu prüevt wie rein die meide sint: Nun prüft wie rein die Mädchen sind.
got was selbe der meide kint. Gott selbst war Kind der Jungfrau.
von meiden sint zwei mennisch komn. Von Jungfrauen sind zwei Menschen entstanden.
got selbe antlütze hât genomn Gott selbst hat Gestalt angenommen
nâch der êrsten meide fruht: nach der Frucht der ersten Jungfrau,
daz was sînr hôhen art ein zuht. das war

(464, 23 - 30)

Trevrizent stellt mit dieser Aussage die Jungfräulichkeit einer Frau mittels der Abgrenzung von Bösartigkeit her: Das Epitom der Reinheit stellt die Jungfrau ohne hinterlistige Gedanken dar. Ihre Reinheit wird dadurch begründet, dass Gott (hier wahrscheinlich Jesus) selbst aus der Jungfräulichkeit entstanden ist und keinen geschlechtlichen Akt als Voraussetzung hat. Auch Adam, dessen Mutter die Erde ist, ist ohne geschlechtliche Fortpflanzung entstanden:

mittelhochdeutsch Übersetzung
diu erde Adâmes muoter was: Die Erde war Adams Mutter:
von erden fruht Adâm genas. Adam entstand aus der Frucht der Erde.
dannoch was diu erde ein magt: Dennoch war die Erde eine Jungfrau.

(464, 11 ff.)

Auch durch die Erschaffung Evas wird weiterhin keine Entjungferung durchgeführt, da Gott „von Adâms verhe […] Even brach“ (463, 19). Der moderne Leser würde annehmen, dass dies spätestens bei der Zeugung von Kain und Abel geschieht, doch bei Trevrizent ist Jungfräulichkeit kein körperlicher Zustand, da bereits von Adam und Eva „von in zwein kom gebürte fruht“ (463, 23). Jungfräulichkeit ist hier eine Wegnahme der Unschuld und der Freiheit von Bösartigkeit und eher ein abstrakter Begriff, der nicht auf den Akt der Defloration verweist. Die Defloration geschieht durch Kain, der seinen Bruder Abel tötet:

mittelhochdeutsch Übersetzung
dô uf die reinen erdenz bluot Da blutete es viel auf die reine Erde,
viel, ir magetuom was vervarn: ihre Jungfräulichkeit war vorüber:
den nam ir Adâmes barn. die nahm ihr Adams Sohn.

(464, 18 ff.)

An dieser Stelle lässt sich die Entjungferung zwar sowohl auf die Mutter Erde als auch auf Eva beziehen, jedoch bezieht sich Trevrizents Lehre auf die Entjungferung der Erde(vgl. 463, 25 f.).

Die Defloration als tatsächlich körperlicher Akt wird in Zusammenhang mit den Hochzeiten, insbesondere beim ersten Beischlaf von Belacâne und Gahmuret, aufgegriffen. Belacâne erlebt hier einen Entwicklung von „magt“ zu „wîp“ (45, 25). Auch nach der Hochzeitsnacht von Parzival und Condwiramurs, in der sie keinen Geschlechtsverkehr hatten, weist der Erzähler daraufhin, dass die Königin immer noch „maget“ ist und dass sie davon ausgeht, dass sie Parzivals „wîp“ (202, 23) sei. Im Anschluss daran werden auch die normativen Zustände einer verheirateten Frau offensichtlich:

mittelhochdeutsch Übersetzung
dô gap im bürge unde lant Da gab ihm Burg und Land
disiu magetbaeriu brût: diese jungfräuliche Braut,
wand der was ir herzen trût. denn er war ihr von Herzen lieb.

(202, 26 ff.)

Der Geschlechtsverkehr nach der Hochzeit wird somit als gesellschaftliche Konvention anerkannt. Doch hierbei ist nicht immer die Defloration mitinbegriffen.

Cundrîe, die hässliche Gralsbotin, wird von der minne ausgeschlossen. Hier ist die Jungfräulichkeit eine von außen erzwungene Ausgrenzung aus der höfischen Welt.

Die Erbsünde

Trevrizent weist hierbei die Schuld für die Entstehung des Bösen Eva und Kain zu. Eva, die durch die Verführung der Schlange die Vestoßung aus dem Garten Eden verschuldet, gebiert Kain, der mit dem Mord an seinem Bruder die Jungfräulichkeit der Erde nimmt. Denn obwohl die Erde Adams Mutter ist, findet hier eine Geburt ohne Zeugung statt. Kains Vergehen defloriert die jungfräuliche Erde:

mittelhochdeutsch Übersetzung
dô ûf die reinen erdenz bluot Als auf die reine Erde Blut fiel
viel, ir magetuom was vervarn: war ihre Jungfräulichkeit verloren,
den nam ir Adâmes barn. die nahm ihr Adams Kind.

In Trevrizents Erzählung werden hier Genealogie, Jungfräulichkeit und die Entstehung des Bösen stark miteinander verknüpft.

Sexualität in der Gralsfamilie

Der Keuschheit wird innerhalb der Gralsfamilie eine besondere Bedeutung beigemessen. Mit Ausnahme des Gralkönigs müssen sich alle Hüter des Grals der Keuschheit verpflichten. Doch nicht nur die tatsächlichen Hüter des Grales (z. B. Repanse de Schoye) sind durch ihre Keuschheit ausgezeichnet, sondern auch Sigune, die zwar zur Gralsfamilie, aber nicht zu den Hütern des Grals gehört ist eine Jungfrau. Die Missachtung dieser Tradition kann auch verheerende Folgen haben, wie Anfortas Leiden zeigt.


Trevrizent selbst hat sich auch der Keuschheit verschrieben, um dem bösen zu widerstehen. Hier gehört allerdings nicht nur die Abkehr von der minne dazu, sondern der Verzicht auf jegliche irdische Gelüste. Er verzichtet auf "môraz, wîn, und ouch dez prôt [...] vische [...] fleisch, [alles] swaz truüege bluot" (452) mit Gottes Hilfe. Obwohl Trevrizent unter diesem Verzicht leidet, kann er doch nur so dem Teufel widerstehen. Die Sexualität wird hierbei als verführendes Mittel dem Teufel zugeschrieben.

Gahmuret bindet sich zweimal: Beide Frauen übernehmen dabei die aktive Handlung - eine konventionelle Werbung betreibt er nicht. Nach der jeweiligen Hochzeitsnacht wird die eingegangene Verbindung durch die Frau verkündet. Beide Frauen werden jedoch auch von Gahmuret verlassen, worin sich seine vorweggenommene Rastlosigkeit bestätigt.

Die Verknüpfung mit der Keuschheitseinschränkung für den Gralsherrscher und der beständigen Suche nach minne ist eine Gegenüberstellung der Ziele der heidnischen und christlichen Ritter. Während das Ziel einer aventîure heidnischer Ritter darin besteht, minne zu finden, begeben sich christliche Ritter auf aventîure, um Gott zu dienen. Hierbei werden die beiden Weltauffassungen gegenüber gestellt und die heidnische Variante wird denunziert. Das Christentum wird als reine Opposition der heidnischen Verfahrensweise aufgebaut. In diesem Zusammenhang wird das Christentum auf- und das Heidentum abgewertet.

Bisweilen wird auch das Heidentum als eine Verlockung des Teufels beschrieben, was nicht nur eine Nähe zur Verführungskraft des Teufels herstellt, sondern auch eine Abwertung gegenüber dem Christentum darstellt.


Warum wird der Jungfräulichkeit hier eine derart große Bedeutung beigemessen? Die Gralsgesellschaft legt besonderen Wert auf die Keuschheitsvorgaben des Grales. Gâwân, der nicht zur Gralsfamilie gehört, ist eindeutig promiskuitiver als Parzival. Doch nicht nur bei ihm wird flexibler mit Restriktionen umgegangen, auch Feirefîz ist freizügig mit seinen Affektionen. Erst wirbt er um die Heidenkönigin A., dann heiratet er Secundille, die er schließlich für die jungfräuliche Gralshüterin Repanse de Schoye verlassen will. Dass diese jedoch zuvor stirbt, kommt ihm zu Gute, da somit jegliche Besitzstreitereien verhindert werden. Worin liegt die unterschiedliche Darstellung einer ausgelebten Sexualität begründet? Auch im Parzival wird eine Unterscheidung zwischen Gottes- und Minneritter getroffen. Diese Grenze, die normalerweise eher zwischen Heiden und Christen getroffen wird, wird insbesondere durch das jeweilige Verhältnis zur Sexualität vertieft. Während die Gralsritter bestraft werden, weil sie gegen das Keuschheitsgebot verstoßen oder sich der Keuschheit verpflichten müssen, um dem Teufel zu widerstehen, können Feirefîz und Gâwân ihre Sexualität mit all ihren Konsequenzen urteilsfrei ausleben.

An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass es die Frauen sind, die unter der den Beziehungen ihrer Männer leiden. Belacâne stirbt, nachdem sie von Gahmuret verlassen wurde, Sigune ... Bereits die Möglichkeit, dass Jeschute Ehebruch begangen haben könnte, wird durch den Erzähler lächerlich dargestellt und sie leidet den Verlauf der Erzählung über unter den Vorwürfen. Parzivals Belästigung hingegen wird als Teil seines Entwicklungs- und Lernprozesses verstanden und nicht geahndet.



VerlinkungDas Ritual der Hochzeit in der höfischen Literatur und im Parzival

Fazit

Anmerkungen

  1. Es wird unter Angabe von Strophen und Verszahl zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.