Ritter als Rastlose in Wolframs Parzival

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Hinweis: Dieser Artikel entsteht im Rahmen des Haupt- und Oberseminars zu Wolframs Parzival (Sommersemester 2015). Er beinhaltet eine Auflistung von Figuren aus dem Parzival, die gerne noch weiter vervollständigt werden kann.

Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, warum Ritter meist in Bewegung beschrieben werden. Welche Vorteile hat die Rastlosigkeit? Und welche Nachteile? Wie wird sie bewertet? Und wie kommt sie anderen wichtigen Aufgaben in die Quere? Wie steht Gott dazu?

Analyse

Ritter werden in Wolframs Parzival [1] fast immer in Bewegung beschrieben. Im Folgenden soll genau analysiert werden, warum Ritter scheinbar das Leben als rastloser Abenteurer bevorzugen. Indem sie sich dauernd bewegen verbinden die Ritter Räume und lassen so den Rezipienten die Landkarte leichter erschließen. Was in diesem Kontext Heimat bedeutet und wie die einzelne Ritter die Rastlosigkeit erleben soll im Folgenden analysiert werden.

Gahmuret

Gahmuret benutzt, sobald er beim Baruc im Orient in den Dienst getreten ist, einen Anker als Wappen. Kellner sieht den "Anker als Zeichen der Hoffnung auf ein Ziel" [Kellner 2009: 29]. In diesem Kontext kann davon ausgegangen werden, dass Gahmuret hier noch nach einem Ankommen oder einem Zuhause strebt, nachdem er als Zweitgeborener Anschouwe freiwillig verlässt. Der Anker als Wappen erlaubt also zunächst nicht ihn als rastlosen Ritter zu bezeichnen.

mittelhochdeutsch Übersetzung
der hêrre plac mit gernden siten Der Herr führte, von seiner Hoffnung getrieben
ûf sîne kovertiure gesniten auf seiner Couvertüre zugeschnitten
anker lieht hermîn: einen Anker aus weißem Hermelin:

(14, 15f.)

Jedoch wird direkt im Anschluss ausführlich darauf eingegangen, dass Gahmuret seinem Wappen nicht gerecht wird:

mittelhochdeutsch Übersetzung
sîn anker heten niht bekort Sein Anker hatte aber nichts gefunden
ganzes lands noch landes ort, weder ein ganzes Land noch einen Ort,
dane wârn si ninder în geslagen: denn sie hatten nirgendwo festgemacht:
der hêrre mouse fürbaz tragen Der Herr musste immer weiter tragen
disen wâpenlîchen last des Wappens Last.
in manegiu lant, der werde gast, In vielen Ländern bleib er Gast
Nâch dem anker disiu mâl, trotz des Ankers als Wappen.
wand er deheiner slate twâl Er hielt sich nirgends
hete ninder noch gebite. und machte nirgends Rast.

(14, 29ff.)

Der Rezipient erfährt durch diesen Erzählerkommentar, dass Gahmuret trotzdem er den Anker als Wappen trägt, rastlos auftritt. Es lässt sich also ein Diskrepanz zwischen dem implizit kommunizierten Vorhaben Gahmurets, dem Bleiben, das durch die Wahl des Wappens ausgedrückt wird und dem explizit beschrieben Handeln feststellen. Durch die mehrfache Beschreibung des Ankers (vgl. 23, 4-6 und 36, 16-20) wird aber die mit dem Anker verbundene Hoffnung im Übertragenen Sinne aufrecht erhalten. Die Diskrepanz wird im Folgenden aufgelöst, zunächst wendet sich alles zum Guten: Gahmuret heiratet nachdem er ihr in einer Schlacht aushalf Belacâne und findet damit scheinbar ein Zuhause. Er legt das Wappen den Ankers erst nach der Heirat ab und übernimmt das schwarz-weiße Wappen von Zazamanc, welches auch für seinen noch ungeborenen Sohn Feirefîz steht, dessen Haut schwarz-weiß gefleckt ist. Jedoch löst sich diese Erfüllung der Heimatsuche bereits kurz nach der Heirat auf: Gahmuret tritt auch als Ritter in den Dienst Belacânes und hinterlässt ihr nach seiner heimlichen Abreise lediglich einen Brief, in dem er erklärt, dass er sie verlassen muss und sie ihn nur im Falle ihrem Übertritts zum Christentum wiedergewinnen kann.

mittelhochdeutsch Übersetzung
frouwe, wiltu toufen dich, Frau, willst du dich taufen lassen,
du maht ouch erwerben mich. kannst du auch mich erwerben.

(56, 25f.)

Obwohl sie sich dazu bereiterklärt (vgl. 58), bekommt sie keine Möglichkeit mehr dazu, da der Ritter bereits heimlich mithilfe des Fährmanns abgereist ist. Erst ihr Sohn Feirefîz erfüllt diesen Wunsch quasi eine Generation später, denn Belacâne stirbt vor Trauer. Die Abreise kommt für den Rezipienten nicht unerwartet, denn schon vorher wurde darauf hingewiesen: "dâ was der stolze küene man, / unz er sich vaste senen began." (54, 18f.) Gahmuret zieht mit einem Zelt aus Zazamanc, welches für die mitgeführte Quasi-Heimat stehen kann, weiter kämpfend und Abenteuer suchend nach Spanien, als er schließlich im Turnier von Kanvoleis auch Herzeloydes Herz gewinnt. Hier erhebt er zwar zunächst Einspruch gegen das Verlangen der Königin nach der sofortiger Heirat, die für den Gewinner des Turniers aussteht:

mittlehochdeutsch Übersetzung
do sprach er 'frouwe, ich hân ein wîp: Da sprach er: 'Frau, ich habe eine Ehefrau:
diu ist mir lieber danne der lîp. Die ist mir lieber als mein Leib.

(94, 5f.)

Jedoch heiratet er Herzeloyde schließlich, aber auch sie verlässt er vor der Geburt seines Sohnes Parzival zugunsten vieler Reisen. Die Erlaubnis für diese ausgedehnten Reisen, auch in den Orient, war seine Bedingung vor der Hochzeit, die erst durch einen Richterspruch durchgesetzt wird. Seine letzte Reise wird ihm den Tod fernab von Heimat oder Familie bringen. Gahmuret stirbt in einer Schlacht für den Baruc und wird dort beerdigt:

mittelhochdeutsch Übersetzung
Er wart geleit zu Baldac. Er wurde in Baldac zu Grabe gelegt.
diu kost den bâruc ringe wac. [...] Die Kosten achtete der Bâruc wenig.
gebalset wart sîn junger rê [...] Einbalsamiert hatte man seine jungen toten Leib.
uns wart gevolget hie mite: Unserer Bitte hatte man nachgegeben:
ein kriuze nâch der marter sîte, Ein Kreuz nach der Sitte der Marter,
als uns Kristes tôt lôste, als und Christus Tot erlöste,
liez man stôzen im ze trôste, ließ man stoßen, ein Zeichen der Zuversicht,
ze scherm de sêle, überz grap. [...] zum Schirm der Seele, übers Grab.
ez betent heiden sunder spot Die Heiden beteten Gahmuret ganz ohne Spott
an in als an ir werden got, an als ihren Gott.

(106, 29 - 107, 20)

Bei der Grablegung ist nun eine Vermischung von Eigenem und Fremden zu erkennen: Gahmurets Leichnam wird nach der Tradition der Heiden einbalsamiert und aufgrund seiner großen Taten als Gott angebetet, zur Erinnerung an seinen christlichen Ursprung steht ein Kreuz auf seinem Grab. Seine Lanze und den tödlichen Speer veranlasste er zu Herzeloyde zu bringen (vgl. 106, 23f.), wo die Dinge im Münster beerdigt werden (vgl. 111, 30 - 112, 4). Gahmuret wird also, wie Kellner schreibt "gewissermaßen zweimal bestattet, [...] in der Ferne und in der Heimat." [Kellner 2009: 33] Ob man Kanvoleiz als Heimat Gahmurets bezeichnen kann ist für mich durch aus nicht unproblematisch, denn seine Heimat wäre ja eigentlich Anschouwe. Kanvoleiz kann eher als ein temporärer Wohnsitz bezeichnet werden, den er ja quasi gleich nach der Hochzeit wieder verlässt. Wichtig ist in diesem Kontext aber vor allem, dass Gahmuret selbst im Tod kein Zuhause findet: Er wird weit weg Anschouwe, Zazamanc und Kanvoleiz beerdingt und das Hemd der Herzeloyde, das er immer mit sich führte, wird ihm im Tod entrissen und zurückgeschickt. So ist selbst der Tod Gahmurets von einer gewissen Rastlosigkeit geprägt.

Parzival

Der Suche nach Abenteuern und damit der Rastlosigkeit möchte Herzeloyde, die Mutter Parzivals, durch die Erziehung in der Einöde von Sôltane aktiv entgegenwirken, allerdings kann diese Voraussicht nicht verhindern, dass auch ihr Sohn in die Welt auszieht. Nach dem ersten Kontakt mit Rittern, die er wegen ihrer glänzenden Rüstungen mit Gott gleichsetzt, will auch er ausziehen, um an den Arthushof zu gelangen, von dem ihm ebendiese Ritter erzählt haben (vgl. 121, 13 - 124, 24). Er reist über viele Stationen an den Hof, vor dem er den roten Ritter Ither, einen Verwandten, tötet, um an seine Rüstung zu gelangen; nur um am Artushof weiter an Gurnemanz verwiesen zu werden. Karg sieht darin einen Zwang der Erforschung der Fremde, die aus der Kindheit in Sôltane resultieren. [Karg 1993: 23f.] Bei Parzival ist tatsächlich eine Veränderung zu bemerken: Er zieht nicht zu Minnezwecken aus, sondern weil er versucht zu lernen und Ritter zu werden. Schließlich kann er durch einen Turniergewinn in Belrapeire als Ritter in den Dienst Condwîr âmurs treten, die er daraufhin auch ehelicht. Aber schon bald erbittet er eine Art Urlaub um seine Mutter besuchen zu können und verlässt somit Herzeloyde - anders als Gahmuret seine Frauen - legitim. Hierauf folgen viele Tjoste, viele Auseinandersetzungen, die Ankunft in Munsalvaesche, der Gralsburg, auf der er die entscheidende Frage und ein damit verbundener Lernprozess. Bei Parzival ist im Unterschied zu Gahmuret jedoch eine Art Heimweh auszumachen, was in der Blutstropfenszene am Plimozoel seinen Höhepunkt erreicht. Parzival wird hier an seine Frau erinnert und kann sich deshalb nicht auf einen Kampf konzentrieren. Hier wird die Wichtigkeit der Heimat deutlich: Parzival ist, bedingt durch viele Zufälle, schon so lange von Herzeloyde getrennt, dass er regelrechtes Heimweh verspürt. Heimat wird somit nicht als etwas verzichtbares beschrieben, wie es noch bei Gahmuret schein, der Anschouwe so leichtgläubig verlässt. Die Blutstropfenszene könnte als Verbesserung des Rastlosigkeitsverhalten Parzival gegenüber dem Gahmurets darstellen, allerdings zieht Parzival aus den Visionen keine Konsequenzen. Die Zusammenführung der Familie erfolgt erst später durch die gottgewollte Berufung Parzivals zum Gralskönig. Cundrîe überbringt die Botschaft:

mittelhochdeutsch Übersetzung
daz epitafjum ist gelesen: Das Epitafium ist gelesen:
du solt des grâles hêrre wesen. Du sollst er Herr des Grâls sein.
Condwîr âmûrs daz wîp sîn Côndwîr âmûrs, deine Frau
und dîn sun Loherangrîn und dein Sohn Lohenangrîn
sint beidiu mit dir dar benant. sind beide mit dir berufen.
dô du rûmdes Brôbanz daz lant, Als du das Land Brôbanz verließest,
zwên süne si lenbendec dô truoc. da trug sie im Leib zwei lebendige Söhne.
Kardeiz hât och dort genuoc. Kardeiz wird dort ein großer Herr sein.

(781, 15-22)

Hier wird deutlich, dass die Zusammenführung der Familie rein auf Organisation anderer beruht. Gleichzeitig aber auch, dass es sich nicht um eine vollkommene Zusammenführung handelt, denn die Familie wird gleichzeitig auch getrennt: Kardeiz wird nicht mehr bei seiner Mutter und seinem Bruder aufwachsen. Die Konstellation der Familie unterliegt hier der Herrschaftsorganisation: Kardeiz bleibt in Brôbanz, damit das Reich nicht in fremde Hände fällt. Das gottberufene Ende der Rastlosigkeit Parzivals ist also kein familiäres Happy-End, was zeigt, dass Rastlosigkeit und Familie zwar zusammenhängen, Familie in der Hierarchie aber dennoch unter der Herrschaftsexpansion steht. Die Bedeutung der Herrschaft wird auch in der Figur des Loherangrîn deutlich (siehe unten).

Feirefîz

Über Parzivals Halbbruder Feirefîz erfährt der Rezipient zunächst wenig. Erst nach der Zusammenkunft der beiden Brüder wird über sein Leben erzählt, vielmehr erzählt er Parzival davon:

mittelhochdeutsch Übersetzung
ich saeh doch gern den selben man: Trotzdem möchte ich diesen Mann gern kennen lernen.
mir ist ze wizzen getân Man hat mir versichert,
daz nie bezzer rîter wart: dass es nie einen besseren Ritter gab.
nâh im ist kostenlîch mîn vart.' Um ihn zu finden, habe ich diese Reise mit großem Aufwand unternommen.'

(750, 27-30)

Man erfährt also, dass er aufgrund der Suche nach seinem Vater ein rastloses Leben führt. Ähnlich wie Gahmurets Reisen sind auch seine von Minne geprägt. Bei der Zusammenkunft mit der Artusgesellschaft erzählt er stolz davon:

mittelhochdeutsch Übersetzung
gein rîterschefte het ich mout: Mein Herz hatte Lust auf Rittertaten:
swelch lant was werlîch unde gout, Alle Länder, die mir mächtig und reich genug waren
daz twang ich mîner hende, zwang ich unter meine Hand,
unz verre inz ellende. so trieb ich es bis ganz weit in die Fremde.
dâ werten mich ir minne Da schenkten mir ihre Liebe
zwuo rîche küneginne, zwei gewaltige Königinnen:
Olimpîe und Clauditte. Olimpîe und Clauditte.
Secundille ist nu diu dritte. Secundille ist nun die dritte.
ich hân durch wîp vil getân: Den Frauen zuliebe habe ich große Taten vollbracht.

(771, 11-19)

Hier wird deutlich, dass die Suche nach seinem Vater zwar der Auslöser für Feirefîz' Rastlosigkeit war, die Minne diese allerdings förderte. Denn die Liebe einer Frau verheißt noch keine Heimat und kein Familienleben, sondern vielmehr sich weiter beweisen zu müssen. Bei Feirefîz ist jedoch auffällig, dass er nach seiner Taufe und der Heirat mit der Gralsprinzessin Repanse de Schoye wieder zurück in seine Heimat, den Orient reist und sich dort niederlässt. Feirefîz ist damit der einer der wenigen, die wieder in ihre Heimat zurückkehren und in keiner neuen Heimat sesshaft werden, wie etwa Parzival. Er verbessert die Rastlosigkeit seines Vaters also dahingegen, dass er den Begriff der Heimat klar sieht und auch als nicht austauschbar. Allerdings sieht er es als seine Aufgabe den Orient zu missionieren, womit man seine Reise zurück in die Heimat nicht als Sesshaftigkeit bezeichnen kann:

mittelhochdeutsch Übersetzung
Feirefîz hiez schrîben Mit seinem Brief und Siegel
ze Indyâ übr al daz lant, machte Feirefîz im ganzen Land Indien bekannt,
wie kristen leben wart erkant: wie mann in der Observanz der Christen lebt.

(822, 28-30)

Die Rastlosigkeit steht hierarchisch also auch unter der Missionierung des Abendlandes.


Der Artushof

Auch der Hof um König Artûs scheint häufiger auf strategischen Reisen zu sein, als in beschaulicher Idylle zu leben. Jedoch schwärmen teilweise auch nur bestimmte Ritter auf um Aufgaben zu erfüllen.

Gâwân

Gâwân heiratet zunächst nicht und als gegen Ende der Erzählung Orgeluse umwirbt und schließlich ehelicht bricht die Erzählung der Handlung ab. Er ist zwar auch rastlos, aber dafür dabei alleine und hat nicht eine (oder mehrer Familien), die auf ihn warten, wir Gahmuret oder Parzival. Seine Befreiung des Schastel Marveiles kann auch als Schaffung eines neuen Zuhauses gesehen werden. Denn er befreit die Burg von den mystischen Fluch, der über ihr liegt und macht sie damit bewohnbar. Später wird sie damit auch für ihn zu neuen Heimat, nach dem er die Herzogin von Lôgroys, nämlich Orgeluse heiratet. Für diese, also wiederum im Kontext der Minne, macht er sich jedoch noch einmal extra auf, um einen Zweig aus Gramoflanz' Garten zu brechen und den ehemaligen Liebhaber Orgeluse damit herauszufordern (vgl. 604, 7 - 611, 15). Zu den vereinbarten Tjost in Jôflanze lässt er den Artushof anreisen und gewährt sich damit Unterstützung durch seinen Heimathof. Hier wird deutlich, dass die Bedeutung einer Heimat nicht durch das Herumreisen verringert wird, sie wird sogar dadurch, dass sie nicht immer zugänglich ist noch mehr geschätzt. Auszumachen ist dies an der Freude, die Gâwân empfindet als er dem Botschaft mit der Zusage erhält:

mittelhochdeutsch Übersetzung
Gâwâns sorge gar geswant: Gâwâns Sorgen zergingen ganz,
niht wan freud er im herzen vant. er fand nichts anderes mehr in seinem Herzen als Glück.
Gâwân ûz sorge in fröude trat. Gâwâns ganze Sorge wurde zu Freude.
den knappen erz verswîgen bat. Er bat seinen Knappen um Verschwiegenheit.
al sîner sorge er gar vergaz, All seine Sorgen waren ihm genommen.

(654, 23-27)

Hier wird deutlich, wie wichtig die Anwesenheit der Artusgesellschaft in Jôflanze für Gâwân ist. Es scheint, als möchte er hier die Zusammenführung seiner alten und neuen Heimat bewirken.

Artûs

Artûs selbst ist auch rastlos, er nimmt seine Familie und die Hofgesellschaft aber immer mit: Dadurch wird, ähnlich wie bei Gâwân, weniger der Anschein einer Problematik aufgrund der Rastlosigkeit erweckt. Gerade bei der Vorbereitung auf das Turnier in Jôflanze wird deutlich, dass Artûs sich für eine Reise des gesamten Hofstaates einsetzt: "Artûs warp herzenlîche / zer messenîe diese vart" (651, 2f.). Gleichzeitig kann hier aber auch festgehalten werden, dass es eine Überzeugungsleistung benötigt und wirklich alle zum Reisen anzuregen. Wahrscheinlich wird auch deshalb das Gefühlt vermittelt, die Rastlosigkeit der Artusgesellschaft berge Harmonie, was dazu führt diese nicht negativ zu konnotieren. Vielmehr erfolgt eine positive Konnotation dadurch, dass die Unterstützung der Heimat verlagert werden kann. Wie am Beispiel Gâwâns ersichtlich wird, ist damit verbunden Unterstützung sehr wichtig und verhilft zum Über-sich-Herauswachsen. Ob die Rastlosigkeit der gesamten Hofgesellschaft jedoch gänzlich positiv ist, lässt sich bezweifeln, da das Finden der Zielperson auch problematisch werden kann. So kann es auch zum unwissentlichen Kampf zwischen zwei Artusrittern kommen, die nichts voneinander wissen.

Munsalvaesche

Der Grâl versieht die Rastlosigkeit der Ritter von Munsalvaesche nach der Taufzeremonie für Feirefîz mit einem strengen Reglement, das bestimmt Probleme unterbinden soll. Es heißt:

mittelhochdeutsch Übersetzung
nâch der toufe geschihte Nachdem die Taufzeremonie beendet war,
ame grâle man geschriben vant, sah man am Grâl eine Schrift:
swelhen templeis diu gotes hant Wenn die Hand Gottes einen Tempelritter
gaeb ze hêrren vremder diete, fremden Leuten zum Herren gebe,
daz er vrâgen widerriete so solle der sie davor warnen zu fragen
sînes namen od sîns geslehtes, nach seinem Namen oder seinem Abkunft,
unt daz erin hulfe rehtes. und er solle jedem sein Recht zukommen lassen.
Sô diu vrâge wirt gein im getân, Sobald jemand ihn frage,
sô mugen sis niht langer hân. dürfen sie ihn nicht länger bei sich behalten.

(818, 25 - 819, 2)

Diese Regel, die besagt, dass die Herkunft von Gralsrittern, die ausreiten und heiraten verschwiegen werden muss. Damit wird die Heimat dieser Ritter geschützt. Die Möglichkeit der Rückkehr bei Nicht-Achtung dieser Regel zeigt, dass Ritter wann immer nach Munsalvaesche zurückkehren dürfen.

Anfortas

Anfortas war Minneritter, der sich ähnlich wie Gahmuret verhielt, was der Rezipient, wie auch Parzival selbst erst durch Trevrizent (vgl. 472, 21 - 474, 22) erfahren.

mittelhochdeutsch Übersetzung
sîner jugent unt sîn rîcheit Seine Jugend und seine Macht
der werlde an im fouget leit, haben ihn und damit die ganze Menschheit geschlagen,
unt daz er gerte minne und dass er auszog um Liebe zu gewinnen,
ûzerhalp der kiusche sinne. von unreiner Leidenschaft getrieben.

(472, 27-30)

Das Streben nach Minne wird Anfotas hier als Verhängnis attestiert. Der Gralskönig warb um die Herzogin von Lôschroys, Gawans späterer Frau. Im Kampf wurde er von einer vergifteten Lanze in den Hoden getroffen, eine schwelende Wunde ist das Ergebnis. Der Grâl verdammt Anfortas dazu, die Qual solange zu ertragen, bis ein Unwissender ihn von alleine nach seinem Wohlergehen fragt (vlg. 483, 19-28). In diesem Kontext kann von einer Art göttlichen Strafe gesprochen werden, jedoch ist zu bedenken, dass die vergiftete Lanze von einem Heide geworfen wurde. Trevrizent erzählt auch, dass "der lebe heiden was gewis, / sîn ellen solde den grâl haben." (479, 18f.). Dies erklärt das oben bereits beschriebene Frageverbot, das von Grâl nach Freirefiz Taufe angeordnet wird. Allerdings weist das folgende Leiden des Gralskönigs explizit auf die durch Minne verursacht Problematik der Rastlosigkeit hin. Brunner sieht auch deshalb eine Entwicklung von Minneritern weg hin zu Artusrittern, die über die Generation Gahmuret/Parzival gebrochen wird. [Brunner 2009: 46] Parzival kann also auch als Verbesserer in Tradition der Gralskönige gesehen werden, weil er bereits eine Familie hat, als er Gralskönig wird; nicht nur in genealogischer. Die Minnehandlung wird bei Parzival somit quasi vorverlegt, womit er sich klar auf seine Aufgaben als Herrscher konzentrieren kann.

Trevrizent

Trevrizen übt Reue für seinen Bruder Anfortas: Er ist als ehemalig rastloser Ritter in der Klause heimisch geworden und verlässt diese schlichtweg nicht. "dô zoch ich mich dâ her: / swachiu wünne ist mîner jâre wer." (484, 19f.). Diese Aussage, die nach der Leidensgeschichte Anfotas' steht, zeigt klar, dass er die Vergiftung seines Bruders als Zeichen Gottes gehen seinen Lebensstil sieht. Jedoch spielt sicherlich die schon erwähnte Geheimhaltung des Grâls eine große Rolle: Denn das Frageverbot des Grâls verbietet ja nicht das Ausziehen der Ritter, nur die Auskunft über die Herkunft. Somit kann die Rastlosigkeit der Ritter nicht direkt von Gott verurteilt werden, die Bestrafung des Anfortas lässt allerdings die Vermutung zu, dass in der falschen Ordnung der Hierarchien die Problematik liegt. Trevzizent macht klar, dass Minne allgemein von Grâl nicht verboten wurde:

mittelhochdeutsch Übersetzung
swelch grâles hêrre ab minne gert Wenn aber der Herr des Grâls Verlangen hat nach Liebe,
anders dan diu schrift in wert, die ihm nicht jene Schrift ausdrücklich erlaubt hat,
der mouz es komen ze arbeit dann muss ihm das Kummer bringen
und in siufzebaeriu herzeleit. und Seufzen und Schmerzen.

(478, 13-16)

Jedoch zeigt sich, dass die Gewichtung von Minne, Herrschaft und Glaube bei Anfortas wohl nicht richtig eingestellt war und er sich wohl zu sehr auf die Minne konzentrierte.


Die folgende Generation

Wolfram erlaubt einen kurzen Blick auf die folgenden Generationen, explizit auf die Nachkommen von Gahmuret. Dieser zeigt, dass beide wahrscheinlich bedingt rastlos leben und beide große Herrscher werden. Leider ist nicht erwähnt wie sie diese Herrschaft praktizieren, ob sie wie Atrûs mit ihrem ganzen Hof reisen, oder alleine.

Loherangrîn

Loherangrîn ist der Sohn Parzivals, der mit Herzeloyde auf die Gralsburg berufen wurde.

mittelhochdeutsch Übersetzung
Loherangrîn wuohs manlîch starc: Loherangrîn wuchs zu seinem starken Man heran.
diu zageheit sich am im barc. Wenn in ihm Feigheit war, hatte sie sich tief verborgen.
dô er sich rîterschaft versan, Als er zu ritterlichen Sinnen kam,
ins grâles dienste er prîs gewan. erkämpfte er im im Dienst des Grâls viel Ehre.

(823, 27-30)

In der kurzen Textpassage, in der auf ihn eingegangen wird, wird deutlich, dass auch er als Ritter in die Welt zieht. Jedoch findet auch er, ähnlich wie Parzival recht schnell eine Fürstin, die Fürstin von Brâbant, die er heiratet. Hier greift aber das Frageverbot des Grâls, denn die Fürstin kann sich trotz Instruktion nicht zurückhalten und fragt nach seiner Herkunft. In der Konsequenz heißt es "er four wazzer unde wege, / unz wider in des grâles pfelge" ( 826, 23f.). Der Begriff der Heimat wird hier also definiert als Ort, an den man immer zurückkehren kann und freudig aufgenommen wird. Es scheint, als wäre nicht die eine latente Rastlosigkeit von Gott verflucht, sondern lediglich ein falscher Umgang mit derselben. In Wolframs Parzival bleibt allerdings offen, ob Loherangrîn seinen Vater als Gralskönig beerben wird.

Jôhan

Jôhan ist der Sohn Feirefîz, der die Missionierung des Orients vorantreibt (vgl. 822, 21 - 823, 10). So kann man festhalten, dass wahrscheinlich auch sein Leben von Rastlosigkeit geprägt sein wird.

Vergleich mit anderen mittelhochdeutschen Texten

Iwein

Auch in Hartmann von Aues Iwein[2] begibt sich der Protagonist Iwein nach seiner Hochzeit mit Laudine auf aventîure. Iweins Aufbruch wird ausgelöst durch den Ratschlag Gaweins, der Iwein davon abhalten will sich mit seinem wîp [zu] verligen (2790: Frau zu verliegen), wie dies Erec passiert ist. Hier besteht eine Angst vor Ehrverlust in der Zurückgezogenheit einer Ehe, die verhindert dass der Ritter weiterhin auf aventîure geht. Iwein nimmt sich den Rat Gaweins zu Herzen und bittet seine Frau um urloup, die diese ihm widerwillig gewährt. Nachdem Iwein sein Versprechen gegenüber Laudine gebrochen hat, wird er vor dem Artushof durch Laudines Zofe Lunete bloßgestellt und entehrt. Dies ist die Ursache für seinen Wahnsinn, der sich in seiner Nacktheit und seinem schmutzigen Körper darstellt und Assoziationen der Wildnis und Fremdheit hervorrufen.

Fazit

In der vorangehenden Analyse wurde deutlich, dass jeder Ritter sich unterschiedlich verhält. Gahmuret und Anfortas ritten auf der Suche nach Liebe und Erfolg wirklich alleine rastlos durch die Welt. Artûs dagegen ist zwar auch rastlos, wird aber immer von seinem Hofstaat begleitet, sodass hier kein egoistisches Streben zu erkennen ist. Gâwân reitet auch durch die Welt, bindet sich aber weniger schnell familiär als etwa Parzival oder Feirefîz. Die beiden Söhne Gahmurets zeichnen sich durch eine latente Beruhigung der Rastlosigkeit im Vergleich zu ihrem Vater aus, werden jedoch auch nicht wirklich sesshaft. Trevrizent ist der Einzige, der der Rastlosigkeit gänzlich entsagt und einsam in einer Klause lebt. Bei der Analyse der Rastlosigkeit ist eine gewisse bestehende Hierarchie aufgefallen, dessen Nichtbeachtung hart bestraft wird. So ist nicht die Rastlosigkeit an sich verwerflich, denn sie ist auch strategisch nötig um große Herrschaftsgebiete regieren zu können oder zu missionieren. Auch wird nicht etwas das Zusammensein einer Familie als wichtigstes Gut betrachtet, vielmehr ist das richtige Leben im immanenten wie transzendenten Bereich erstrebenswert. Wird zu sehr in eine Richtung gewichtet, etwa in die der Minne, erfährt der Ritter meist eine Strafe oder Rüge. Die Rastlosigkeit wird somit also nicht als Idealbild der Ritterschaft dargestellt, aber als durchaus legitim und nötig um bestimmte, auch gottgewollte, Ziele erreichen zu können. Wie schwierig jedoch die angesprochene Gewichtung zwischen Handlungen ist, zeigt, dass im Parzival kein Idealbild zu finden ist: Bei jedem der hier analysierten Ritter kann festgestellt werden, dass die ideale Gewichtung noch nicht gefunden wurde.

Anmerkungen

  1. Es wird unter Angabe von Strophen und Verszahl zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. zitiert unter Angabe der Verszahl nach: Hartmann von Aue: Iwein. Mittelhochdeutscher Text mit Übersetzung von Rüdiger Krohn. Kommentiert von Mireille Schnyder, Stuttgart 2012.

Literaturverzeichnis

  • [*Brunner 2009] Brunner, Horst 2008: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Besonders "Artûs der wîse höfsche man. Zur immanenten Historizität der Ritterwelt im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach, S. 38-49.
  • [*Karg 1993] Karg, Ina 1993: Bilder von Fremde in Wolframs von Eschenbach Parzival. Das Erzählen von Welt und Gegenwelt. In: Berger, Günther und Kohl, Stephan (Hrsg.): Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. S. 23-43.
  • [*Kellner 2009] Kellner, Beate 2009: Wahrnehmung und Deutung des Heidnischen in Wolfram von Eschenbachs "Parzival". In: Grenzmann, Ludger, Haye, Thomas: Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit Bd. 1: Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden)(Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. PhilologischHistorische Klasse, NF 4, 1). S. 23-50.

Weiterführende Literatur

  • Lotman, Jurij M., 1993: Die Struktur literarischer Texte.
  • Bumke, Joachim, 1992: Parzival und Feirefiz - Priester Johannes - Loherangrin. Der offene Schluß des Parzival von WvE, DVjs 65, S. 236-264.

Kategoire: Ritter