Höfische Normen und Normverletzungen
Im folgenden Artikel soll der Umgang ausgewählter Figuren mit höfischen Normen untersucht werden.
Höfische Normen
Die erzählte Welt des Parzival ist geprägt von Verhaltensregeln, die das Miteinander regeln. Diese werden an manchen Stellen von verschiedenen Figuren explizit genannt, zum Teil beruhen sie auf den höfischen Werten. Man kann also unter höfischen Normen Regeln verstehen, deren Einhaltung von der Gesellschaft erwartet werden. Immer wieder kommt es zu Normverletzungen der handelnden Figuren. Diese geschehen aus ganz unterschiedlichen Situationen und Motivationen heraus.
Bewusste Normverletzungen
Immer wieder überschreiten oder nutzen Figuren bewusst und reflektiert gesellschaftliche Normen, um ihr Handlungsziel zu erreichen.
Condwiramurs
Als Pelrapeire, die Burg Condwiramurs, belagert wird, taucht Parzival als möglicher Retter in der Not auf.(179,13ff)[1] Statt die Königin zu begrüßen, schweigt er, wie der Erzähler erklärt, weil "in der werde Gurnemanz von sîner tumpheit geschiet unde im vrâgen widerriet" (188,16-18), ohne zu überlegen, ob dieses Gebot für diese Situation angemessen ist. [*Münkler 2008: S. 499.] Condwiramurs dagegen wägt ab, was dieses ihr gegenüber unangemessene Verhalten auslösen könnte. Der Rezipient erfährt durch Innensicht der Figur ihren Gedankengang:
188,26-189,5 | Neuhochdeutsch |
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"ich wæn, mich smæhet dirre man | "Ich glaube fast, dass dieser Mann sich schämt, |
durch daz mîn lîp vertwâlet ist. | sich mit mir abzugeben, nur weil mein leib so abgehärmt ist und zerquält. |
nein, er tuotz durch einen list: | Ach nein, er ist gut erzogen und denkt sich was dabei: |
er ist gast, ich pin wirtîn: | Er ist der Gast, ich bin hier daheim |
diu êrste rede wære mîn. | - es ist an mir, ihn anzureden. |
dar nâch er güetlîch an mich sach, | Er sieht mich schon die ganze Zeit lang mit so viel Freundlichkeit an, |
sît uns ze sitzen hie geschach: | seit wir hier Platz genommen haben: |
er hât sich zuht gein mir enbart. | Feinheit und Taktgefühl hat er mich sehen lassen. |
mîn rede ist alze vil gespart: | Viel zu viele Worte habe ich schon versäumt, |
hie sol niht mêr geswigen sîn." | Ich darf jetzt nicht länger schweigen." |
Condwiramurs kommt zu dem Schluss, dass ihr Gast nur höflich sein will und erhält eine Bestätigung dieser Vermutung durch ihre Beobachtung, Parzival schaue freundlich. Sie zeigt sich hier als eine Figur, die die höfischen Verhaltensregeln kennt, denn sie erwartet nach der angemessenen Begrüßung (187,2-187,6)ein Gespräch. Aber sie zeigt auch ihre Fähigkeit, sich in die Lage ihres Gegenübers hineinzuversetzen und sein Verhalten aus seiner Sicht zu beurteilen. Dieser bewusste Umgang mit den Verhaltensnormen wird noch deutlicher als sie sich entschließt, nachts in die Kammer von Parzival zu schleichen, um ihn um Hilfe zu bitten (192,1-30). Der Erzähler greift vor, indem er, bevor Condwiramurs Handeln beschrieben wird, erklärt, dass sie keusch bleibt(192,3). So wird klar, dass zwar eine Normverletzung duch das Betreten der Schlafkammer Parzivals stattfindet, jedoch nicht aus unsittlichen Motiven, sondern aus Sorge um die Lage ihrer Stadt. Condwiramurs geht noch einen Schritt weiter und legt sich sogar zu Parzival ins Bett, versucht aber sich abzusichern, indem sie ihm das Versprechen abnimmt, "daz ir mit mir ringet niht"(194,1). Sie beruft sich auf die mâze, einer ritterlichen Tugend, um sich zu schützen. Einerseits überschreitet sie also Normen, um an ein Ziel zu gelangen, dass sie höher einschätzt als ihre eigene Sicherheit, andererseits nutzt sie eine Norm, um ihre Jungfräulichkeit zu erhalten. Münkler fasst das Verhalten folgendermaßen zusammen: "Sie greift also in einer völlig normwidrigen Situation reflektiert auf bestimmte Normen höfisch-ritterlicher Interaktionen zurück..."[*Münkler 2008: S.502.]
Orgeluse
Um Rache für den Tod ihres Ehemanns Cidegast zu erlangen, der von Gramoflanz im Kampf getötet wurde, bedient sich Orgeluse des Minnedienstes. Dieser ist ein normiertes Verhalten, bei dem der Ritter für seine Dienste die Zuneigung der Dame erhält, oft auch ihre Hand und ihr Land. Die Art und Weise, in der Orgeluse mit Gawan spricht, ist von Anfang an nicht angemessen und steht dem entgegen, was von einer höfischen Dame erwartet wird. So vespottet sie Gawan beispielsweise als ir gans (515,13). Gawan bleibt trotz der schlechten Behandlung standhaft bei seiner Entscheidung Minnedienst zu leisten (515,19-22). Sie erklärt, dass sie nicht bereit sei, den Minnedienst zu entlohnen und sich an geltende Verhaltensmuster zu halten.
510,9-12 | Übersetzung |
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dient nâch minne iwer hant, | Wenn Eure Hand um Liebe dient, |
hât iuch âventiure gesant | wenn die Aventiure Euch nach Liebe hinausgeschickt hat |
nâch minne ûf rîterlîche tât, | zu ritterlichen Taten, |
des lônes ir an mir niht hât: | von mir jedenfalls bekommt Ihr den Lohn nicht. |
Nachdem Gawan alle aventiuren überstanden hat, gelangt Orgeluse zu der Einsicht, dass sie falsch gehandelt hat (611,24-26) und erklärt anschließend ausführlich, warum sie so gehandelt hat. Alle Mittel waren ihr Recht, um ihr Rachebdürfnis an Gramoflanz zu stillen (616,3-7). Rache zu üben, war nicht Sache der Frauen, deshalb stellt dies eine weitere Normverletzung dar. Dies führt auch dazu, dass Anfortas für sie in den Dienst tritt und sich dabei seine unheilbare Wunde dabei zuzieht. Die Abkehr von ihrem früheren Verhalten erfolgt sehr plötzlich und ist keinem äußeren Anlass geschuldet, denn Gawan hat auf Schastel marveil auch schon große Gefahren überstanden, ohne dass dies einen Gesinnungswandel in Orgeluse hervorgerufen hätte. Haug[*Haug 2008: S.147] sieht den Grund solcher Brüche in der Notwendigkeit sich an das Handlungsschema zu halten. Gawan hat nach dem Kampf mit Lischoys Gwelljus, der Eroberung von Schastel Marveil und dem Holen des Kranzes die drei Abenteuer überstanden, an deren Ende die Erfüllung der Minne steht. Auch Baisch [*Baisch 1999: S.33] sieht diesen Bruch als Teil der Textkonstruktion, mit der Handlungen und Handlungsfreiheit der Figuren verdeutlicht werden sollen. Orgeluse kann also nur so lange eine Machtposition gegenüber Gawan und auch in ihrem Land innehaben, so lange es das Handlungsschema erlaubt.[*Baisch 1999: S.20] Das Verhalten von Orgeluse steht auch im Kontrast mit anderen Frauenfiguren. Im Gegensatz zu Condwiramurs, die die Normverletzung begeht, um Hilfe in ihrer Notlage zu erhalten, nutzt Orgeluse die höfische Norm des Minnedienstes, um Rache zu üben. Dies entspricht nicht dem üblichen Verhalten einer Frau. Als Position am anderen Ende der Möglichkeiten auf den Tod eines Geliebten zu reagieren, steht Sigune, die bis zu ihrem Tod um Schianatulandurs trauert.
Gawan
Gawan ist eine Figur, die sehr überlegt und reflektiert handelt. Durch seine Erziehung und Ausbildung kennt er von Anfang an die höfischen Normen und Verhaltensregeln, anders als Parzival. Diese kann er aber situationsgerecht anwenden, indem er durch eigene Beobachtungen die Lage erfasst und sein Verhalten danach ausrichtet. Am deutlichsten wird dies in der Blutstropfenszene (300,1-302,16) als Parzival von den drei Blutstropfen im Schnee gebannt ist. Gawan vertraut nicht auf die Aussagen von Segramors und Keie, die vor ihm zu Parzival ritten und dadurch, dass sie ebenfalls zum Artushof gehören, vertrauenswürdig sind, sondern verschafft sich selbst ein Bild der Lage. Diese Verhalten stellt einen Normverletzung dar, denn die Artusritter sollten als geschlossene Gemeinschaft auftreten.[*Münkler 2008: S.505] Als Parzival auf wiederholtes Ansprechen nicht reagiert, bezieht Gawan eigene Erfahrungen in sein Handeln ein. Durch eine Innensicht der Figur, kann der Rezipient dem Gadankengang Gawans folgen:
301,21-27 | Übersetzung |
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dô dâhte mîn hêr Gâwân | Mein Herr Gawan dachte da: |
"waz op diu minne disen man | "Wer weiß, ob es nicht liebe ist, |
twinget als si mich dô twanc, | die diesen Mann hier fesselt, so wie mich damals. |
und sîn getriulîch gedanc | Und vielleicht sind es Gedanken der Treue, |
der minne muoz ir siges jehen?" | die der Liebe zu ihrem Sieg verholfen haben." |
er marcte des Wâleises sehen, | Er gab acht auf des Waleisen Blick, |
war stüenden im diu ougen sîn. | wo seine Augen hingingen. |
Der Rezipient kennt die Gründe für Parzivals Verhalten und "weiß, dass Gawans Verhalten das einzig angemessene und zielführende ist".[*Münkler 2008: S.506] Es wird dadurch gezeigt, dass ein reflektierter Umgang mit den höfischen Normen sich als sinnvoll erweist, während die reine Anwendung nicht zu einem guten Ergebnis führt. Gawan zeigt auch in seiner Fähigkeit zu kommunizieren, dass er geltende Verhaltensregeln auslegen kann. Als er Schastel Marveil erblickt, stellt er sowohl der Tochter (554,30-555,1) als auch dem Fährmann(556,6-9) so lange Fragen, bis er eine Auskunft bekommt(557,1-14), was sich für sein Abenteuer als hilfreich erweist, da er wichtige Informationen erhält.[*Urscheler 2002: S.149] Gawan verletzt so die Verhaltensnorm, nicht unmäßig Fragen zustellen und so die Gastgeber zu belästigen, wie sie in Gurnemanz Lehre(171,17) deutlich wird. Aber indem er die Norm nur als Richtschnur für sein Verhalten nimmt und ihr nicht im Wortlaut folgt, besteht er das Abenteuer erfolgreich.
Unbewusste Normverletzung
Parzival
Parzival verletzt immer wieder höfische Normen und Regeln. Zu Beginn der handlung liegt der Grund für Parzivals tumpheit in seiner Erziehung: mangelnde Erfahrung und Wissen führen dazu, dass er sich nicht standesgemäß Verhält (siehe hierzu: Parzivals Erziehung durch Herzeloyde). Doch auch als er die höfische Erziehung nachgeholt hat und in den Artushof aufgenommen wurde, fällt auf, dass er gegen die Regel der Kampsansage verstößt. Diese Verhaltensnorm dient dazu, den Kampf unter Verwandten auszuschließen und den Grund für den Kampf zu klären.[*Urscheler 2002: S.225] Parzival hat sich diese Regel nicht zu eigen gemacht, er kämpft beispielsweise gegen seinen Halbbruder Feirefiz, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln(738,28-744,24). Um Parzival an einem weiteren Verwandtenmord zu hindern, muss die Gnade Gottes helfen. Er ist sich nicht bewusst, dass er eine Norm verletzt. Parzival will, um Erlösung zu finden, Ritterdienste leisten und kämpfen. Aber erst durch die Gnade Gottes wird es Parzival möglich die geltenden Normen eigenständig anzuwenden. Aals er von Cundrie la Surziere zum Gral(781,12-14) berufen wird, erlebt er, wie ein Kampf verbal entschärft wird: Cundrie weist Parzival und Feirefiz auf die Schilder und Fahnen hin, die zeigen , das die Ritter zur Gralsgemeinschaft gehören(793,11-12).
Fazit
Bibliographie
<HarvardReferences/>
- [*Baisch 1999] Baisch, Martin: Orgeluse. In: Schwierige Frauen - schwierige Männer. Hg.Haas, Alois M.; Kasten, Ingrid. Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften. Bern, 1999
- [*Haug 2008] Haug, : Positivierung von Negativität: Letzte kleine Schriften. Niemeyer. Tübingen, 2008
- [*Münkler 2008] Münkler, Marina: Inszenierung von Normreflexivität und Selbstreflexivität in Wolframs von Eschenbach Parzival. In:Zeitschrift für Germanistik,Vol.18, N.3 (2008),S.497-511.
- [*Urscheler 2002: S.149] Urscheler, Andreas: Kommunikation in Wolframs "Parzival". Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften. Bern, 2002
Kategorien:
- ↑ Alle Textangaben zu Parzival beziehen sich auf: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe, 2. Auflage. 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht. Walter de Gruyter, Berlin: 2003.