Der zerissene Held (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Die Erziehung durch Herzeloyde

Kennzeichnend für Parzivals Kindheit ist, dass er nicht bloß an "küneclicher fuore betrogn (118, 2)", also um die ihm seiner Abstammung her eigentlich zustehenden königlichen Lebensart gebracht wurde, sondern auch, dass er verborgen im Wald ohne jede Erziehung aufwächst. Die Notwendigkeit einer frühen Erziehung im Sinne der Zeit, die als Minimalausstattung eine Unterweisung über die christliche Heilsgeschichte, eine Ausbildung des Unterscheidungsvermögens zwischen Gut und Böse, eine Anleitung zur Zügelung der Willenskräfte braucht, sieht seine Mutter Herzeloyde in ihrer eigentümlichen Art der Erziehung nicht. [Bumke 2001: S. 358] Bei seinem ersten Auftritt, als er die Vögel totschießt, ist Parzival noch ein Kind. Er schnitzt Pfeile und Bogen selbst und trifft die Ziele mit erstaunlicher Sicherheit (118, 4-6). Später schießt er ebenso zielsicher auf Hirsche. Anschließend zeigt er jedoch Mitleid mit jenen Geschöpfen und weint über deren Tod (118, 7ff). Zu diesem Zeitpunkt hat er noch nie das Wort Gott gehört und besitzt offenbar keinerlei Kenntnisse über sich und die Welt. Später nach seinem Aufbruch zum Artushof sind es allein diese ungezügelten und unreflektierten Gewaltakte gegen Tiere und schließlich auch Menschen, die ihn kennzeichnen. Er will Artusritter werden, er will von Jeschute einen Ring haben, er will Ithers Rüstung, und es kümmert ihn wenig, wie viele Menschen dabei zu Schaden oder gar zu Tode kommen. Er hat nie gelernt, seinen Willen zu kontrollieren; er weiß nicht, was Gut und Böse, was Recht und Unrecht ist. Und er kann seinen Verstand nicht gebrauchen. Das zeigt die Art und Weise, wie er die Lehren der Mutter umsetzt. Eine rationale Sichtweise auf sich und seine Umwelt fehlt ihm vollends.

Parzivals art

Parzival ist als ein leeres Gefäß konstruiert, in dem sich nur das befindet, was ihm angeboren ist: Schönheit, Adel, Größe, Stärke, Geschicklichkeit und Gesundheit. Zudem ist es die art, die ihm von väterlicher und mütterlicher Seite angeboren ist.


sîn jûgent het ellen unde kraft. Seine Jugend hatte Heldenstzolz und Kraft:
der junge süeze âne bart, den jungen, süßen Mann, dem noch kein Bart gewachsen war,
den twanc diu Gahmuretes art jagte die Art Gahmurets
und an geborniu manheit, und angeborener Mannesmut,
daz ors von rabbîne er reit daß er das Roß anrennen ließ
mit volleclîcher hurte dar, mit aller Macht,

(174, 22-27)[1]


sît Herzeloyd diu junge Die junge Herzeloyde
in het ûf gerbet triuwe, hatte ihm Treue vererbt;
sich huop sîns herzen riuwe. die machte, daß schmerzliche Reue aufstand in seinem Herzen.

(451, 6-8)


Das väterliche Erbe ist ein angeborener Mannesmut, während die Mutter triuwe auf ihn vererbt hat. Da er in seiner bisherigen Jugend ohne weitere Erziehung keine anderen Eigenschaften ausgebildet hat, bestimmt das Elternerbe seine art, also seine Identität.

Dieses Erbe seiner Eltern ist zwiespältig; die vom Vater geerbte Mannhaftigkeit äußert sich bei Parzival als ein gewaltsamer Drang nach außen, der dazu führt, das Parzival Tiere und Menschen tötet und dass sein späteres Leben aus einer Folge von Kämpfen besteht. Das Muttererbe der triuwe wirkt dagegen als ein Drang von innen, der sich vor allem als Mitleid äußert. Diese beiden unterschiedlichen Seiten Parzivals ziehen sich durch die gesamte Geschichte: Sein Selbstbewusstsein ist durch die Siege im Kampf geprägt, ebenso konstant sind seine Mitleidsregungen, die aus der angeborenen triuwe fließen. Beides zusammen prägt die Parzivalhandlung, sowie die Kontinuität der tumpheit.

Parzivals tumpheit ist eine Folge seiner kindlichen Erziehung. Er hat nie gelernt rational zu denken und zu hinterfragen. Doch diese tumpheit ist nicht bloß als ein Mangel zu sehen, sie hat auch positive Züge, denn sie ist stets gepaart mit einer Steuerung, die von innen kommt. Die Unfähigkeit zu eigenständigem reflexiven Denken zeigt sich in der Art, wie er mit den Ratschlägen umgeht, die ihm im Laufe der Erzählung seine Mutter, Gurnemanz und Trevrizent geben. Es scheint, sobald er seinen Verstand gebraucht, handelt er verkehrt. Innerlich jedoch fühlt er intuitiv, was richtig ist: Als Gurnemanz ihn ermahnt, nicht so viel von seiner Mutter zu sprechen, folgt Parzival dieser Weisung äußerlich, innerlich jedoch folgt er seinem Herzen.


sîner muoter er gesweic, Von seiner Mutter schwieg er still,
mit rede, und doch in dem herzen niht; mit Worten jedenfalls, in seinem Herzen nicht:
als noch getriwem man geschiht. Ein treuer Mann hält fest an denen, die er liebhat.

(173, 7-10)


Auch beim Besuch auf der Gralsburg hätte er instinktiv seinen Gefühlen nachgeben sollen. Die Umstände auf Munsalvaesche, die offensichtlichen Leiden des Gralskönig können ihm nicht verborgen geblieben sein. Aber Parzival hatte eine Lektion des Gurnemanz verinnerlicht (171, 17), die er falsch deutete. Streng strebte er seitdem danach, die höfliche Diskretion zu wahren, ist jedoch nicht in der Lage, gleichzeitig zwischen einem moralisch richtigen und falschen Handlen abzuwägen, da es Parzival an moralischer Intelligenz fehlte. Sein Verstand gebot ihm unreflektiert auf die Ratschläge zu hören, diese verabsolutierte er vorher in seiner hilflosen tumpheit, was dazu führte, dass er nicht Mitleid und menschliche Empathie als Maß für sein Handeln genommen hat. In der Absicht alles richtig zu machen, machte Parzival alles falsch. [Herkommer 2004: S. 139.] Er schwieg, als er mit der Stimme seines Herzens hätte sprechen sollen, spontan und ungeschützt fragend.

Parzivals zwivel

Das schwere Versäumnis der Mitleidsfrage vor der Gralsgesellschaft, die als Erlösungsfrage magisch wirken sollte, indem sie Anfortas geheilt und Parzival das Gralskönigtum übertragen hätte, legitimiert die Verdammung Parzivals durch Cundrie. Parzival hattes es bereits tief gereut, daz er vragens was so laz (256, 1), dass er also zu träge zum Fragen war und geistig nicht wendig genug, die Situation zu erkennen und zu ergreifen. Nun ist er durch die Verfluchung traumatisiert. Er verlässt den Artushof und erfährt dabei Trost und Zuspruch von den Anwesenden. Gawan küsst ihn zum Abschied. Doch als dieser sein Adieu, sein ´Gott befohlen´ als Segenswunsch an Parzival richtet -"da geb dir got glücke duo" (331, 27)- wird ersichtlich, was Cundries Verfluchung angerichtet hat. Sie hatte bei Parzival eine Lebenskrise in Gestalt einer Glaubenskrise ausgelöst, in der Gott, das Schlüsselwort der mittelalterlichen Weltanschauung, sich zu einem fatalen Reizwort verkehrte:


Der Waleis sprach ´we was ist got? Da sprach der Waleise: "Weh, was ist Gott?
waer der gewaldec, sohlen spot Wäre er doch nur ein großer Herr!
het er uns peden niht gegebn, er hätte uns beide nicht so zum Gespött gemacht,
Kunde gotmit Kräften lebn. wenn er mit Macht zu herrschen wüsste."

(332, 1-4)


Die Theodizee-Frage nach der Vereinbarkeit der Allmacht und Güte Gottes mit dem Übel in der Welt bezog Parzival auf sein ureigenes persönliches Schicksal, das zwar nicht seinen Glauben an die Existenz Gottes erschütterte, wohl aber sein überkommenes Gottesbild aus den Angeln hob. Denn sein Gott war die Projektion eines überweltlichen Feudalherren, dem der Gläubige wie ein treuer Vasall untertan ist, während ihm der göttliche Gefolgsherr im Gegenzug seine unverbrüchliche ´Huld` garantiert. [Herkommer 2004: S. 141] Der Vasall ist dem Herrn gegenüber zu Gehorsam und Dienst - vor allem zum Waffendienst - verpflichtet und der Herr dem Vasallen gegenüber zur Gewährung von Schutz und Unterhalt. Das irdische Lehnswesen lieferte also hier das Modell für das auf Wechselseitigkeit beruhende Vertragsverhältnis zwischen Gott und Mensch. Nachdem Parzivals Ritterexistenz dermaßen ungeschützt der Entehrung preisgegeben wurde, waren für ihn die lehnsrechtlich eingefärbten Geschäftsbedingungen im Umgang mit seinem Gott hinfällig geworden, so dass er sich im Recht fühlte, seine fromme Vasallenbindung aufzulösen:


ich was im diens undertan, Ich habe ihm immer treu gedient,
sit ich genaden mich versan seit ich weiß, was das ist: die Huld des Herrn.
nu wil i´m dienst widersagn: Jetzt sage ich mich los von ihm.
hat er haz, den wil ich tragn. Wenn er Hass hat, den will ich tragen.

(332, 5-8)


Schon als kleiner Junge hatte Parzival seine Mutter gefragt: oje muoter, was ist got? (119, 17) Darauf hatte ihm die Mutter Herzeloyde einen kurzen Religionsunterricht erteilt, der Gottes lichtvolles Wesen, seine Menschwerdung, sein getreues Erbarmen ebenso ansprach wie den treulosen schwarzen Gegenspieler, wobei sie ihrem Sohn besonders einschärfte, nicht zu viel zwifelzu verfallen.

Die psychologischen Folgen des zwifels formulieren die Eingangsverse des Prologs: "Ist zwifel herzen nachgebur,/ daz muoz der sele werden Sur." (1, 1) Wenn Zweifel anh beim Herzen wohnt, dass muss der Seele sauer werden.

Der Sinn dieses mittelhochdeutschen Wortes word in der Forschung breit diskutiert. Die weite Definition des Grimmschen Wörterbuchs wird der Offenheit des alten Begriffs am ehesten gerecht:

"Zweifel als gemütszustand, in dem der mensch keine eindeutige entscheidung treffen kann, die für sein urteilen, glauben, handeln, erwarten usw. bestimmend wirkt, sondern zwischen zwei entgegengesetzten haltungen wechselt, weil die zu entscheidende sache kein sicheres urteil über ihre möglichkeit, zweckmäßigkeit oder wahrheit an die hand gibt, oder weil der mensch die fähigkeit zum entschlusz nicht aufbringt." (nach: Deutsches Wörterbuch von J. u. W. Grimm, S. 997)

Der so gedeutete zwifel, der die Entscheidungsfähigkeit und die mit ihr einhergehende Zerissenheit beschreibt, bildet das zentrale Problem auf dem Lebensweg des helden. [Herkommer 2004: S. 143f]

Forschungsliteratur

<HarvardReferences> [*Herkommer 2004] Herkommer, Hubert: Der zerissene Held und seine Heilung im Gespräch. Parzivals Einkehr beim Einsiedler Trevrizent, in: Graf, Michael; Mathwig, Frank; Zeindler, Matthias (Hrsg.): "Was ist der Mensch?". Theologische Anthropologie im interdisziplinären Kontext. Wolfgang Liebmann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2004, S. 137-161.

[*Bumke 2001] Bumke, Joachim: Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Peters, Ursula: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450, Stuttgart 2001, S. 355-370.




Literatur

<references>

  1. Alle folgenden Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.