Das Motiv des Niemandslands im Parzival (Funktion und Bedeutung)

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Hinweis: Dieser Artikel entsteht derzeit im Rahmen des Haupt- und Oberseminars zu Wolframs Parzival (Sommersemester 2015) und bedarf der Überarbeitung.Einzelne Unterkapitel werden kontinuierlich mit Inhalt gefüllt.

Raum und Raumstrukturen bilden zusammen mit den Figuren und deren Handlung die strukturgebenden Elemente aller Epik. Herman Meyer bemerkt dazu, dass "Raum in der Dichtung nicht bloß eine faktische Gegebenheit bildet, sondern vor allem ein eigenständiges Gestaltungselement, das zusammen mit verschwisterten Elementen wie Zeit, Erzählperspektive, Figur und Handlungsfolge den intendierten Gehalt verkörpert und die Struktur des Werkes bestimmt." [Meyer 1975: 231] Glaser betont, dass "Raumimaginationen im Artusroman meist nicht-mimetisch" sind und zudem "auf einen höheren Sinn verweisen" [Glaser 2004: 189]. Daher liegt es nahe, nicht nur danach zu Fragen, wo Räume geografisch verortbar sind, sondern auch, welcher Raumkategorie sie angehören und welche Funktion sie für das literarische Werk haben.

Im Parzival tauchen immer wieder Episoden auf, in denen sich die Protagonisten sozusagen im Niemandsland zwischen zwei geografisch nachvollziehbaren Orten befinden. Dieser Artikel gibt einen Überblick über eine Reihe von Szenen, die sozusagen "zwischen den Orten" stattfinden und fragt nach der Funktion und Bedeutung dieser Zwischenorte.

Die hier besprochenen Orte grenzen sich also von den geografisch nachvollziehbaren Orten im Parzival ab. Es wird somit weniger die Frage geklärt, wo genau die jeweiligen Szenen stattfinden, sondern nach der Funktion und der Bedeutung des Niemandslands für die jeweilige Szene und den Handlungsverlauf gefragt. Basierend auf Armin Schulz' umfassender Übersicht über verschiedene Konzeptionen von Raum und Zeit [Schulz 2012: 292-316] und Andrea Glasers Analyse des Parzival bezüglich verschiedener literarischer Raum- und Bewegungskonzeptionen [Glaser 2004], versucht dieser Artikel, die semantische und handlungsbezogene Struktur der jeweiligen Zwischenorte im Parzival zu analysieren.

Mit Parzivals Verschwinden während der Gawan-Passage, beschäftigen sich folgende Artikel: Transzendenz und Immanenz - Parzivals Verschwinden während der Gawan-Passage und Das Motiv der Doppelung. Die sehr komplexe und spezielle Raum- und Bewegungsstruktur dieser Szenen wird in diesem Artikel nicht behandelt werden, da sie den Rahmen sprengen würde.


Raumkonzeptionen

Sämtliche hier aufgeführte Raumkonzeptionen sind den Arbeiten von Armin Schulz [Schulz 2012: 292-316] und Andrea Glaser [Glaser 2004] entnommen. Im Folgenden wird versucht, ausgewählte Szenen des Parzival in diese einzufügen und zu analysieren.

Sonderräume

Sonderräume sind nach Schulz prägend "als Gegenwelten, als Räume der Fremdheitserfahrung, in denen der Held mit dem kategorial 'Anderen' der eigenen Kultur konfrontiert wird". [Schulz 2012: 310] Einen solchen Sonderraum stellt die Einöde Soltane dar, in der Herzeloyde Parzival aufzieht. Ein zentrales Merkmal von Soltane ist die räumliche Distanz zum Hof, da diese Distanz auch eine Distanz zwischen Natur und Kultur darstellt. Bei Schulz heißt es dazu: "Raum und Zeit sind funktional den Erfordernissen der Handlung unterworfen; innerhalb der dargestellten Welt sind sie offensichtlich nicht absolut bestimmbar, sondern nur Relationen." [Schulz 2012: 315] Soltane als nicht genau örtlich definierbarer Sonderraum, soll als Zufluchtsort dienen, in dem Herzeloyde versucht, ihren Sohn von allem Höfischen und fernzuhalten. Herzeloyde will damit verhindern, dass Parzival dem ritterlichen Vorbild und Schicksal seines [Gahmuret als Ritter (Wolfram von Eschenbach, Parzival)| Vaters Gahmuret]] folgt, sie verlässt und möglichweise auch im Kampf getötet wird. Auffällig ist jedoch, dass obwohl Herzeloyde gerade die Distanz zum Hof sucht, sie trotzdem mit ihrer Lebensart in der Einöde an der höfischen Kultur festhält.

Eine ausführliche Beschreibung von Parzivals Kindheit und Erziehung in Soltane findet sich an anderer Stelle.

Diskontinuierliche Räume

Insulare Räume

Bewegungsräume

Die Konzepte Bewegungsraum und Schwellenraum sind selten streng voneinander abgrenzbar. Meist kann ein Raum beiden Kategorien zugeordnet werden, da in ihm die Bewegung die Überwindung einer Schwelle beinhaltet. Aus diesem Grund sind auch die Beispiele dieses Artikels nicht streng an eine der Kategorien gebunden, sondern können auch der jeweils anderen zugeordnet werden. Glaser unterscheidet jedoch die Bewegung von Figuren im Raum und von Räumen, die sich mit Figuren mitbewegen (zum Beispiel der Artushof). [Glaser 2004: 19]

Schwellenräume

Als Schwellenräume kann man diejenigen räumlichen Strukturen bezeichnen, die den Bereich zwischen zwei unterschiedlichen Sphären markieren. [Glaser 2004: 50] Wird die Sphäre des Artushofs verlassen, so tritt man in die Sphäre der Natur oder des Magischen ein. Der Übergang von einer Sphäre zur anderen kann durch einen Raum führen, der durch besondere Eigenschaften gekennzeichnet ist. Das Land um die Gralsburg, Terre de Salvaesche, ist ein solcher Schwellenraum. Hier trifft Parzival im Laufe des Romans dreimal auf Sigune (138,9 – 142,2; 249,11 – 255,30 und 435,1 – 442,26).

Sigune am Felsenhang

Das erste Treffen findet an einem Felsenhang statt, nachdem Parzival von Jeschutes Zelt mit dem Ziel des Artushofs in Nantes weggeritten ist. Jeschute, von Orilus verstoßen, reitet Parzival nach. Dieser trifft die ihm noch unbekannte Sigune wehklagend an einem Felsenhang sitzend, den toten Schîânatulander in ihrem Schoß wiegend:

sus kom unser tœrscher knabe __________ So kam unser närrischer Knabe
geriten eine halden abe. __________ einen Abhang herabgeritten.
wîbes stimme er er hôrte __________ Die Stimme einer Frau hörte er -
vor eines velses orte __________ er wollte gerade um die Spitze eines Felsens biegen. __________ (138,9-12)

Sigune eröffnet dem ahnungslosen Knaben seinen Namen und klärt ihn über seine Herkunft und Familie auf (140,15 ff.).

Wo genau sich der Ort befindet, an dem dieses Aufeinandertreffen passiert, lässt sich nicht sagen. Es kann jedoch nicht weit entfernt von Orilus' und Jeschutes Zeltlager sein, da im Text keinerlei Anzeichen für einen längeren Ritt oder jegliche Indikatoren für Distanz gegeben zu finden sind. Erst nachdem Parzival aufbricht, um Sigunes und sein eigenes familiäres Unglück, über das sie ihn nun aufgeklärt hat, im Kampf zu rächen, ist davon die Rede, dass er einer befestigten, breiten Straße folgt:

eine strâze er dô gevienc __________ So kam er auf eine Straße,
diu gein den Berteneysen gienc: __________ die zu den Berteneysen ging,
diu was gestrîcht unde breit. __________ die war gepflastert und breit. __________ (142,3-5)

Es ist auffällig, dass auf dem Weg zu Sigune keinerlei örtliche Angaben gemacht werden, wohingegen die Straße auf der er Sigune verlässt, explizit beschrieben wird. Dies dient dem Zweck, Sigunes Erscheinen mit einer Aura von Unnahbarkeit und Heimlichkeit zu umgeben. Sigune und die Orte ihrer "Erscheinung" sind dem Mystischen zuzuschreiben und tauchen immer nur an Stellen im Roman auf, wo Parzival mithilfe der Providenz geleitet werden muss. Sigune versucht zwar, ihn durch Weisen der falschen Richtung vor Unheil zu bewahren, trotzdem führt die Straße ihn zielgerichtet zum Artushof nach Nantes. Der Ort am Felsenhang, an dem Parzival Sigune trifft, ist insofern ein Schwellenraum, in dem Parzival die Grenze zwischen dem mystisch-magischen Gralsland Terre de Salvaesche und seiner verwunschenen Burg überschreitet, um in die Sphäre der ritterlich-höfischen Artusgesellschaft überzutreten.

Der Weg nach Munsalvaesche

Parzivals Ritt von Pelrapeire nach Munsalvaesche erfolgt mit großer Schnelligkeit, ohne dass der Reiter dies bewusst wollte, denn Parzival war in Gedanken bei seiner Frau Condwiramurs (224,1-30). Ohne auf Wegen zu reiten (da er dem Pferd die Führung überlassen hat), kommt Parzival innerhalb eines Tages bis an einen See, wo er auf einen Fischer trifft. Der Rezipient erfährt nichts über das Verhältnis zur geographischen Lage zu Pelrapeire, außer dass die Strecke weiter ist als von Graharz nach Brobarz (224,27-30). So entsteht eine semantische Verunsicherung, die noch durch die fehlenden Beschreibungen des Sees und der vagen Beschreibung der Burg verstärkt wird.[Glaser 2004: 71-76]

mit gewalt den zoum daz ros __________ Das Pferd hatte sich zum Herren des Zügels gemacht
truog über ronen und durchez moz: __________ und führte ihn über Baumstämme und durch das Ried;
wandez wîste niemend hant. __________ denn niemandes Hand gab ihm die Richtung. __________ (224,19-21)

Der Weg fort von Munsalvaesche

Nachdem Parzival den Fauxpas des Frageversäumnisses auf der Gralsburg begangen hat, verlässt er die menschenleere Burg (247,1 ff.). Dabei begreift er weder, was dort geschehen, noch wo genau er eigentlich gewesen ist. Er folgt Hufspuren (247,10-12), die er im Hof und außerhalb der Burg entdeckt hat, die sich aber schlussendlich im Nichts verlieren:

Parzivâl der huop sich nâch __________ Parzivâl machte sich in Eile auf den Weg,
vast ûf die slâ dier dâ sach __________ immer den Spuren nach, die er da eingetrampelt sah. __________ (248,17-18)


do begunde krenken sich ir spor: __________ Ihre Spuren wurden immer schwächer:
sich schieden die dâ riten vor. __________ Sie hatten sich getrennt, die dort vor ihm geritten waren.
ir slâ wart smal, die ê was breit: __________ Ihre Fährte, die zuerst breit gewesen war, wurde schmal,
er verlôs se gar: daz was im leit __________ und schließlich verlor er sie ganz. __________ (249,5-8)


Die Tatsache, dass sich die Spuren verlieren, verstärkt wiederum die mystisch-magische Aura von Munsalvaesche und der umliegenden Terre de Salvaesche und bewirkt zudem, dass die Burg von Nicht-Eingeweihten nicht gefunden werden kann. Hier zeigt sich, "dass die Raumvorstellungen im Artusroman noch stark von mythischem Substrat, besonders von der keltischen Vorstellung der 'Anderen Welt', beeinflusst sind." [Glaser 2004: 20] Munsalvaesche und das umgebende Gralsland können dementsprechend als dieser "Anderswelt" zugehörig gesehen werden.

Sigune auf der Linde

Unweit von Munsalvaesche - Parzival nennt die Distanz von ein mîle oder mêr (250,13 eine Meile oder mehr) - trifft der Held erneut unerwartet auf seine nun merklich gealterte Cousine Sigune, die diesmal auf einer Linde sitzt (249,11 – 255,30). Sie klärt Parzival über den Fauxpas auf, den er begangen hat und nennt ihm den Namen der Burg und ihrer Bewohner.

Parzival reitet von Sigune fort und trifft alsbald wieder auf frische Fußspuren, denen er folgt und die ihn erneut zu Orilus und Jeschute leiten.

Der Rezipient erhält auch im weiteren Verlauf der Geschichte nur spärliche visuelle Informationen über das Gralsland. Sigune erklärt, dass innerhalb von 30 Meilen um die Gralsburg nur bewaldetes Land zu finden ist, weder Dörfer noch bebautes Land (250, 20-30).[Glaser 2004: Vgl.84]

Sigunes Klause

Trevrizents Klause

Sowohl die Klause von Sigune als auch die Klause von Trevrizent befinden sich auf der Schwelle zur Terre de Salvaesche (Vgl. auch: Die Figur des Aussteigers aus der höfischen Welt im Parzival). Die Schwierigkeiten und die semantischen Verunsicherungen zeigen dem Rezipienten die große Bedeutung des Raums und seine Andersartigkeit gegenüber dem Artushof. [Glaser 2004: 84]

Trevrizent fungiert als Parzivals Berater und Lehrer, erklärt und deutet ihm die Ereignisse um das Gralsritual auf der Gralsburg Munsalvaesche. Seine Einsiedlerklause - als Ort zwischen den Haupthandlungsorten Munsalvaesche und Artushof - bietet eine ideale, distanzierte Beobachterposition. Hier kann Trevrizent seinen Erinnerungen an die Zeit auf Munsalvaesche nachgehen und Parzival davon berichten. Trevrizent ist Munsalvaesche hier in seinen Gedanken einerseits nah, andererseits aber zeitlich und örtlich entfernt genug, um aus der Distanz Parzival zu unterrichten und zu beraten. Parallel dazu ist auch der "Zwischenort" seiner Klause Munsalvaesche gleichzeitig örtlich nah und fern. Parzival kann hier wichtige Lektionen über den Gral und das Leben im Allgemeinen lernen, bevor er auf das Artuslager und die höfische Gesellschaft stößt.

Fazit

Die Szenen im Parzival, die jenseits von geografisch verortbaren Räumen stattfinden, sind nicht einfach willkürlich gesetzt. Wolfram nutzt das Motiv des Niemandslands vor allem als Mittel, um den Übergang der Protagonisten von einer Sphäre mit einer speziellen Ordnung zu einer gänzlich anderen zu unterstreichen. Schulz verweist darauf, dass die Ordnung der Welt meist in einfachen gegensätzlichen Kontrastpaaren aufgemacht werden kann: "'oben vs. unten' [...] 'Diesseits vs. Jenseits'", aber auch "'Gewöhnlichem vs. Außergewöhnlichem', dem Eigenen und dem Fremden, dem Höfischen und dem Nicht-Höfischen [...] etc." [Schulz 2012: 293]. Im Parzival geht es dabei vor allem um die Differenz zwischen dem Bereich der Gralsburg, also um die Sphäre der Natur, der Magie und der Mytik, und dem Bereich des Artushofs, also der Welt des Hofes, der Kultur und der Ritter. Der Eintritt von einem Raum in den anderen, wird deutlich gemacht durch das Überschreiten einer räumlichen und meist gleichzeitig "semantischen Grenze" in der Narration [Schulz 2012: Vgl. 293-294]. Besonders in der mittelalterlichen Erzähltradition werden solche "Transgressionen [...] weitaus häufiger topographisch markiert als in neueren Texten" [Schulz 2012: 294].

Literaturverzeichnis

Textausgabe

Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York, 2003.

Sekundärliteratur

<HarvardReferences/> [*Glaser 2004] Glaser, Andrea: Der Held und sein Raum. Frankfurt am Main, 2004.
[*Meyer 1975] Meyer, Herman: Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst. In: Ritter, Alexander [Hg.]: Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt, 1975. S. 208-231.
[*Schuler-Lang 2014] Schuler-Lang, Larissa: Wildes Erzählen - Erzählen vom Wilden. Parzival, Busant und Wolfdietrich D. Berlin, 2014.
[*Schulz 2012] Schulz, Armin: Räume und Zeiten. In: Braun, Manuel/ Dunkel, Alexandra/ Müller Jan-Dirk: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin/Boston, 2012. S.292-316.