Biografische Parallelen zwischen Gahmuret und Parzival (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Bei der Lektüre von Wolframs Parzival fällt auf, dass sich einige Ereignisse wiederholen oder zumindest stark gleichen. Dies gilt auch für die Lebensgeschichten von Gahmuret und Parzival. Der folgende Artikel unterzieht diese Parallelen zwischen Vater und Sohn einer genaueren Betrachtung und stellt Gemeinsamkeiten sowie eventuelle Differenzen heraus.

Auszug in die Fremde

Nachdem Gahmurets Vater, König Gandin, stirbt, erhält der ältere der beiden Söhne das gesamte Erbe und Gahmuret geht leer aus. Dem Vorschlag des Bruders, als Hausgenosse an dessen Hof zu bleiben, folgt er nicht und beschließt, stattdessen in die Fremde hinauszuziehen und Rittertaten zu vollbringen. Seine Mutter und sein Bruder statten ihn mit kostbaren Gütern, wie etwa Kästen voller Edelsteine sowie einer Menge Gold in Klumpen („mangen guldinen kloz“, 10,5[1] ) aus. Außerdem bekommt er Pferde und Knappen. Die Mutter, zu der er ein enges Verhältnis pflegt, ist sehr traurig darüber, dass ihr Sohn fort reitet. Ihr Abschiedsschmerz bei Gahmurets Aufbruch sowie ihr späterer „Tod an gebrochenem Herzen“,[Bumke 2004: S. 45] da ihr älterer Sohn Galoes stirbt, können als Vorboten für das Schicksal von Herzeloyde, der Mutter Parzivals, gedeutet werden. [Bumke 2004: Vgl. S. 45]

Auch Parzival verlässt seine Mutter, um ein ruhmreicher Ritter zu werden, jedoch fällt Herzeloyde in Ohnmacht, als er ihr seinen Wunsch mitteilt (125,30–126,3). Als sie wieder zu Bewusstsein kommt, erklärt Parzival ihr seine genauen Pläne und fordert zudem, sie möge ihm ein Pferd geben. Herzeloyde steht seinem Wunsch aufzubrechen nun nicht mehr im Weg und stattet ihn, wie zuvor Gahmurets Mutter, für seine Reise mit Pferd und Kleidung aus. Im Unterschied zu Gahmurets Mutter, die für ihren Sohn nur die edelsten Gegenstände und Pferde auswählt, gibt Herzeloyde ihrem Sohn nur ein sehr schlechtes Pferd und Narrenkleidung mit. So hofft sie, er würde verspottet werden und zu ihr zurückkehren.

si dâhte ‘in will im niht versagn: Sie dachte: „Ich will es ihm nicht verweigern,
ez muoz abr vil boese sîn.' es muss aber ein ganz schlechtes sein“.
do gedahte mêr diu künegîn Da fiel der Königin noch etwas ein:
'der liute vil bî spotte sint. „Viele Leute spotten gern.
tôren kleider sol mîn kint Mein Kind soll Narrenkleider
ob sîme liehten lîbe tragn tragen über seinem lichten Leib.
wirt er geroufet und geslagn, Wenn man ihn an den Haaren zerrt und prügelt,
so kumt er mir her wider wol.’ so kommt er gewiss zu mir zurück“.

126,22–29

Darüber hinaus erhält Parzival von ihr einige, wenn auch fragwürdige, Hinweise über richtiges Verhalten (127,11–128,2) mit auf den Weg. Parzival reitet los und seine Mutter läuft ihm nach. Als sie ihn aus den Augen verliert, bricht sie tot zusammen (128,13–22). Parzival bemerkt dies allerdings nicht. Erst bei dem Einsiedler Trevrizent erfährt er, dass seine Mutter bei dem schmerzvollen, tränenreichen Abschied gestorben ist. Hierin unterscheidet sich Wolframs Parzival von der französischen Vorlage, denn Chrétien lässt seinen Perceval zurückblicken. Der Held des Conte du graal sieht seine Mutter am Boden liegen, kehrt jedoch nicht um, sondern gibt seinem Pferd die Sporen (620–629).[Chrétien 1991: S.101] Dieses Detail ist sehr wichtig, denn es verändert die Charakterisierung des Protagonisten. So zeichnet Chrétien einen egoistischeren, gar skrupelloseren Helden als Wolframs Parzival.

Zusammenfassend lässt sich sowohl in der Lebensgeschichte des Vaters als auch in der des Sohnes ein schmerzvoller Abschied von der Mutter, zu der ein enges Verhältnis besteht, ausfindig machen. Beide beschließen fortzugehen, da sie Rittertaten bestreiten wollen und lassen eine traurige Mutter zurück. In beiden Fällen stirbt die Mutter an gebrochenem Herzen. Allerdings ist der Fortgang des Sohnes für Herzeloyde ein noch tieferer Schlag als für Gahmurets Mutter. Schließlich hat sie jahrelang versucht, Parzival vom Rittertum fern zu halten und lebte deshalb mit ihm in der Abgeschiedenheit von Soltane ein Leben in armuot, fernab der höfischen Gesellschaft. Sie bemerkt, dass ihr Sohn staunend den Vögeln und deren Gesang lauscht und tötet diese Vögel in der Angst deren Laute könnten Parzivals art[2] und seine gelust wecken (118,7–30). Aber dennoch ist es ihr nicht gelungen, die edle Abstammung Gahmurets in ihrem Sohn zu unterdrücken.

Umgang mit Frauen

Die erste Frau, der Parzival nach dem Auszug von der Mutter begegnet, ist Jeschute. Die Anweisungen der Mutter in Bezug auf das weibliche Geschlecht (127,25–30) nimmt Parzival wörtlich: Er überfällt sie stürmisch und reißt gewaltvoll ihren Ring sowie ihre Spange an sich. Zudem erzwingt er noch einen Kuss von ihr (131,3–132,24). Parzival bemerkt nicht, dass er die Ehre der jungen Frau verletzt hat und diese sich darüber sorgt, wie ihr Ehemann reagieren wird. Parzival reitet ahnungslos mit seinem Diebesgut davon. Der Erzähler lässt kurz darauf verlauten, dass sich Gahmuret in dieser Situation anders verhalten hätte:

het er gelernt sîns vater site Hätte er vom Vater das Betragen,
die werdelîche im wonte mite, das dem als einem rechten Ritter eigen war, gelernt
diu bukel waere gehurtet baz so hätte er bei der Gelegenheit den Schildbuckel wahrlich besser gestoßen,
da diu herzoginne al eine saz, als da die Herzogin alleine im Bett saß.

139,15–18

Es ist nicht eindeutig klar, wie die Aussage des Erzählers zu beurteilen ist. Nach Maier-Eroms ergeben sich zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte davon ausgegangen werden, dass Gahmuret vor einer Vergewaltigung nicht zurückgeschreckt wäre. Die Alternative ist, dass hierbei auf "die erotische Ansprechbarkeit und Erfolgsquote"[Maier-Eroms 2009: S. 28] Gahmurets verwiesen wird, da dieser eine sehr starke Anziehungskraft auf Frauen ausübt.[Maier-Eroms 2009: ebd.] Gahmuret agiert im Umgang mit Frauen anders als sein Sohn Parzival: So kann die Unerfahrenheit und das daraus resultierende Überfallverhalten bei Gahmuret nicht verzeichnet werden. Vielmehr tritt er bereits bei der Begegnung mit Belacane äußerst selbstsicher auf und scheint sich seiner Attraktivität bewusst zu sein.[Maier-Eroms 2009: vgl. 21] Spuren der Unsicherheit sind bei ihm nicht zu finden. Vielmehr erscheint er als ein "Don Giovanni aus dem 13. Jahrhundert"[Maier-Eroms 2009: S. 28]. Parzival, welcher auch als von besonderer Schönheit beschrieben wird (123,13–17; 146,8), scheint diese weniger für seine Zwecke zu nutzen. Stattdessen erscheint sein schönes Äußeres als eine Begleiterscheinung. Auffallend ist jedoch der starke Kontrast, der zwischen seinem, zumindest zu Beginn, tölpelhaft anmutenden Wesen sowie seinem tadellosen Äußeren besteht. Allerdings vollzieht sich in Parzival in Bezug auf seinen Umgang mit Frauen eine Veränderung. Denn bereits Liaze begegnet er in anderer Weise als Jeschute. Gegenüber der Tochter seines Erziehers zeigt er ein wachsendes Interesse, was der Erzähler dem Erbe Gahmurets zuschreibt (179,23–26).[Maier-Eroms 2009: vgl. S. 34]

Ehe

Ebenso wie Gahmuret und Parzival ihre Mütter verlassen haben, um durch ritterliche Taten Ruhm zu erlangen, werden auch ihre Ehefrauen zurückgelassen. Denn der Zwiespalt, der sich für die Ritter aus den ehelichen Verpflichtungen auf der einen Seite sowie dem Verlangen auf aventiure zu fahren auf der anderen Seite, ergibt, wird bei beiden zu Gunsten des ritterlichen Strebens entschieden.

Gahmurets erste Frau ist die dunkelhäutige Belacane . Sie ist, wie auch Gahmurets spätere Frau Herzeloyde und Parzivals Frau Condwiramurs, alleinige Herrscherin über ihr Königreich. Gahmuret hilft ihr, die Belagerung ihres Herrschaftsgebiets zu beenden, sie verlieben sich und es kommt schließlich zur Hochzeit der beiden. Aus der Ehe mit ihr geht Gahmurets erster Sohn Feirefiz hervor. Jedoch verlässt er die schwangere Belacane nach nur wenigen Wochen und macht sich heimlich mit dem Schiff davon. Er hinterlässt ihr lediglich einen Brief, in dem er ihr versichert, er würde zurückkommen, wenn sie sich taufen ließe. Dies scheint allerdings nicht der einzige Grund zu sein, warum er seine Frau verlässt, denn es ist in erster Linie seine unstillbare Sehnsucht nach ritterlichen Kämpfen, die ihn dazu treibt fortzuziehen.

dâ waz der stolze küene man, Der stolze, kühne Mann blieb dort,
unz er sich vaste senen began. bis ein Sehnen wild über ihn kam.
daz er niht rîterschefte vant, Es gab hier keine ritterlichen Abenteuer mehr für ihn,
des was sîn freude sorgen phant. deshalb hatten Unzufriedenheit und Trauer die Hand auf sein Glück gelegt.

54,17–20

Gahmurets zweite Frau Herzeloyde veranstaltet ein Turnier, da sie einen würdigen König finden will, der mit ihr ihr Königreich regiert. So gewinnt der Sieger des Wettkampfes ihre Hand sowie ihr Königreich Wales. Sie entschließt sich noch bevor das Turnier beendet ist, dass Gahmuret der neue König werden soll. Jedoch ist nicht nur Herzeloyde, sondern auch eine weitere Frau, Amphlise, um Gahmurets Gunst bemüht. Es kommt zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung, in welcher der Richter sich für Herzeloyde ausspricht. Obwohl Gahmuret zuvor erklärt, er habe bereits eine Frau, die er sehr liebe („[...] ich hân ein wîp: diu ist mir lieber danne der lîp“, 94,5f.), gibt er schließlich dem Wunsch der Königin nach und willigt ein, sie zur Frau zu nehmen. Allerdings stellt er die Forderung, einmal im Monat auf Turniere reiten zu dürfen (97,7–11).

Auch Parzival trifft auf eine jungfräuliche Königin, die alleine ein Land regiert. Ihr Name ist Condwiramurs. Ebenso kann in der Tatsache, dass Parzival, wie einst sein Vater, der in Not geratenen Königin hilft, die Belagerung ihres Königreichs zu beenden, eine Parallele zu der Lebensgeschichte Gahmurets gesehen werden. Außerdem ist es erneut die Frau, die die Initiative ergreift und den Ritter bittet, ihr Mann zu werden. So umarmt die Königin ihn fest und sagt:

'in wirde niemer wîp "Ich will auf Erden
ûf erde decheines man, keinen anderen zum Mann nehmen
wan den ich umbevangen hân. als den, den ich hier in meinen Armen halte."

199,26–28

Zudem fällt auf, dass Parzival zwar von der Schönheit der Königin tief beeindruckt ist (188,6–13), er dennoch häufig an Liaze, die Tochter seines Erziehers Gurnemanz, denkt.

Dô Lîâze wart genannt, Als da der Name der Liaze fiel,
nach ihr vil kumbers was gemant rief das mit Schmerzen die Sehnsucht nach ihr wach
der dienst gebende Parzivâl. in Parzival, denn ihr diente er um Liebe.

195,7–9

Hierin kann eine Parallele zu Gahmuret, dessen Gedanken noch häufig um Belacane kreisen, gezogen werden. Des Weiteren ergibt sich eine Ähnlichkeit in den Lebensgeschichten, denn wie einst sein Vater verlässt auch Parzival nach einiger Zeit seine Ehefrau. Parzival sagt, er wolle seine Mutter besuchen und außerdem Aventuiren bestreiten. Condwiramurs will ihm diesen Wunsch nicht abschlagen und lässt ihn fortziehen (223,17–30). So lassen sich zunächst ähnliche Formen im Umgang mit der Ehe bei Sohn und Vater beobachten. Jedoch muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass sich Parzival nicht heimlich davon macht, wie es sein Vater bei Belacane praktizierte, sondern er bittet seine Frau um Erlaubnis. Hinzukommt, dass er am Ende des Romans Ruhm erlangt hat und es zu einer erneuten Vereinigung mit Condwiramurs kommt. Somit scheint es Parzival am Ende doch zu gelingen, Ehe und aventiure zu verbinden.

Die Unvereinbarkeit von aventiure und Ehe ist ein sehr häufig auftretendes Motiv, das etwa auch im Iwein und im Erec von Hartmann von Aue auftritt. Wie Maier-Eroms konstatiert, ist es kein Zufall, dass Parzival dieselbe Kampfeslust verspürt wie sein Vater, denn "[d]ie Kampfgier als Erbe Gahmurets ist fraglos eine vom Erzähler besonders akzentuierte Charakteristik"[Maier-Eroms 2009: S. 35] des Romanhelden. So erklärt auch Artus den Untergebenen Gramoflanz', dass Parzival von Geburt an ein Sieger sei, denn er ist Gahmurets Kind ("dem was der sig wol geslaht: er ist Gahmuretes kint", 717,22–23).

Herzeloydes Traum

Bevor Herzeloyde vom Tod Gahmurets erfährt, hat sie einen Alptraum (103,25–104,30). Dieser Traum ist von besonderer Bedeutung, da er ihr drohendes Schicksal vorwegnimmt und in dessen Vorausdeutung bereits Parallelen zwischen den Biografien Gahmurets und Parzivals beobachtete werden können. So träumt sie, dass sie von einem Sternenblitz hoch in die Lüfte getragen wird und sie von Blitzen und Donnern erschüttert wird. Ferner träumt sie, sie würde einen Drachen gebären, der ihren Bauch zerreißt, schließlich von ihr wegfliegt und ihr damit das Herz zerbersten würde. Dieser Alptraum hat eine prophetische Funktion, da er „auf die Erschütterung ihrer Existenz durch den Tod Gahmurets, auf Parzivals Geburt und ihren eigenen Tod bei Parzivals Aufbruch“[Bumke 2004: S. 52] vorausdeutet. So ist bereits vor der Geburt ihres Sohnes klar, dass er sie eines Tages verlassen wird und sie diesen schmerzvollen Abschied nicht überleben wird.

Deutungsansätze

Die zahlreichen Parallelen, die zwischen den Lebensgeschichten von Vater und Sohn ausgemacht werden können, werfen die Frage auf, ob der Lebensweg Parzivals bereits vor seiner Geburt vorherbestimmt ist. So spricht etwa Maier-Eroms von einer "Determination durch das Vatererbe". [Maier-Eroms 2009: S. 34] Für Ruth Sassenhausen steht die Abhängigkeit der Biografie Parzivals von dem Erbe Gahmurets zudem in engem Zusammenhang mit der psychischen Verfassung Herzeloydes, die in ihrem Sohn lediglich eine Reinkarnation ihres verstorbenen Ehemanns sieht und ihn aufgrund dessen wie einen Ehepartner behandelt. So hegt Herzeloyde, die während ihrer Schwangerschaft vom Tod Gahmurets erfährt, zunächst Suizidgedanken, beschließt dann jedoch am Leben zu bleiben. Der Grund dafür ist, dass sie glaubt, Gahmuret in der Gestalt ihres Kindes zurückzubekommen.

ich trage alhie doch sînen lîp Ich habe hier doch seinen Leib in meinem Schoß
und sînes verhes sâmen. und seine lebendige Saat.

109,26f.

Herzeloyde erachtet Gahmuret und Parzival als Einheit. Ihr Suizid würde somit ihren Gemahl ein zweites Mal töten („das wäre Gahmurets zweiter Tod“ „daz waer Gahmurets ander tôt“, 110,18).

Die Doppelrolle Herzeloydes als Mutter und Ehefrau sowie die Doppelfunktion des Romanhelden als Gemahl und Sohn lassen zudem eine heilsgeschichtliche Interpretation zu: Denn Herzeloyde kann mit Maria verglichen werden, die „zugleich die Mutter Gottes und die Braut des Himmelkönigs ist“.[Sassenhausen 2007: S. 95] Folgt man dieser Interpretation weiter, kann Parzival als „die Wiederkehr des Vaters im Sohn figurieren und als Erlöserfigur“[Sassenhausen 2007: S. 95] gedeutet werden.

Außerdem weist Sassenhausen auf das starke Abhängigkeitsverhältnis Herzeloydes zu ihren männlichen Lebenspartnern hin. Denn in der gleichen Art, wie sie sich einst über ihren Ehemann definierte und dessen Tod sie in tiefe Suizidgedanken stürzte, ist später ihr Sohn ihr ganzer Lebensinhalt. Die Tatsache, dass er sie verlässt, um ein Ritter zu werden, führt somit unweigerlich zum Tod der Mutter. [Sassenhausen 2007: Vgl. S. 99] Es fällt des Weiteren auf, dass es sich bei dem Verhältnis zwischen Herzeloyde und Parzival nicht nur um ein enges Mutter-Sohn-Verhältnis halten kann. Denn ihre Zuneigung zu Parzival „übersteigt die normalen mütterlichen Regungen und transferiert sie in eine Partnerschaftsliebe“.[Sassenhausen 2007: S. 101] Dies wird etwa ersichtlich, wenn Herzeloyde mit anderen Frauen das Neugeborene begutachtet und von dessen männlicher und gar nicht säuglingshafter Statur beeindruckt sind (112,25-27). So werden in Herzeloyde erotische Gefühle hervorgerufen (133,1–2) und sie küsst ihren Sohn weniger weil seine „Schutzbedürftigkeit Muttergefühle in [...] [ihr] auslöst, sondern weil er so männlich gebaut ist“ [Sassenhausen 2007: S. 100]. Somit kann von einer Umkehr des Ödipus-Mythos gesprochen werden, der als „Iokastekomplex“[Ernst 1999: S. 172] bezeichnet wird. Herzeloyde agiert als Mutter und Gemahlin zugleich. Parzival wird somit nicht wegen seiner eigenen Persönlichkeit geliebt, sondern lediglich, da er die Reinkarnation seines Vaters darstellt. [Sassenhausen 2007: Vgl. S. 101f.] Es verwundert, dass Herzeloyde zwar glaubt, in ihrem Sohn den toten Gahmuret weiterleben lassen zu können, es jedoch für möglich hält, ihn davon abzuhalten ein Ritter zu werden. Denn wenn der Sohn lediglich als „Frucht“ (110,1) des Vaters verstanden wird, so liegt es sehr nahe, dass er auch dessen Charaktereigenschaften haben wird. Herzeloydes Plan, ihn vom Rittertum abzuhalten ist somit schon zu Beginn zum Scheitern verurteilt.

Ein weiterer Aspekt ist, dass Parzival an mehreren Stellen seine Herkunft besonders hervorhebt und es entsteht der Eindruck, als sei sein Erbe für ihn identitätsstiftend.[Maier-Eroms 2009: vgl. S. 34] So verteidigt er etwa vehement "seinen Anspruch auf die Bezeichnung Anschevîn und spricht Feirefiz erst einmal das Recht ab, sich so nennen zu dürfen"[Maier-Eroms 2009: ebd.] (745,25–746,20). Erst als Feirefiz sein Haupt entblößt, akzeptiert Parzival, dass sein Halbbruder und er die gleiche Herkunft teilen. Ferner ist Parzivals Vaterbild äußerst positiv. Dies wird insbesondere in seiner Lobrede über Gahmuret, die er vor Feirefiz verlauten lässt, deutlich (751,1–30). Demnach scheint es, als ob Parzival ganz bewusst in die Fußstapfen seines von ihm als großen Ritter gepriesenen Vaters treten will. Somit hat Parzival selbst Teil daran, dass seine Lebensgeschichte der des Vaters in vielerlei Hinsicht gleicht.

Tax beleuchtet die Ähnlichkeiten zwischen der Gahmuret-Partie und Parzivals Biografie in anderer Weise. Er sieht eine strukturelle Parallele zwischen der "zweistufigen Minnegeschichte"[Tax 1973: S. 28] und dem doppelten Gralweg Parzivals. Die Beziehung zu Belacane entspreche somit der Situation der Gralsgesellschaft bei Parzivals erstem Besuch: "So wie Belacane trotz ihres Liebesleids und ihrer triuwe und kiusche von Gahmuret verlassen wurde, d.h. nicht erlöst werden konnte, so war auch die Gralgemeinde bei Parzivals erstem Besuch bei weitem noch nicht mit dem über sie verhängten Leid fertig geworden: sie war noch nicht erlösungswürdig".[Tax 1973: S. 31] Herzeloyde präfiguriere das erlösungsreife Gralreich, was etwa durch die mehrfach wiederholten "Hinweise auf Lichtsymbolik" durch den Erzähler hervorgehoben werde (84,13–15).[Tax 1973: vgl. S. 31f.]

Fazit

Wie gezeigt werden konnte, lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen den Lebensgeschichten von Vater und Sohn ausmachen. Allerdings gilt es zu beachten, dass Gahmuret sehr früh gestorben ist, weshalb die Biografien nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt verglichen werden können. Darüber hinaus wurden auch Differenzen ersichtlich, wie etwa Gahmurets Auftreten gegenüber Frauen. Denn die äußerst selbstbewusste, gar selbstverliebte Art Gahmurets, ist bei Parzival, zumindest zu Beginn, nicht zu finden. Welche Bedeutung die parallelen Strukturen der beiden Biografien haben, wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich gedeutet. So geht Sassenhausen davon aus, dass Herzeloyde durch die Annahme, in ihrem Sohn lediglich eine Reinkarnation des toten Ehemanns zu sehen, stark dazu beigetragen hat, dass ihr Sohn sich sehr ähnlich entwickelt wie Gahmuret. Die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit des Protagonisten kann demnach erst nach der vollständigen Ablösung von der Mutter sowie auch von deren Verhaltensregeln erfolgen. So ist zu beobachten, dass Parzival auch nach dem Aufbruch aus Soltane stets blind die Regeln seiner Mutter befolgt, ohne sie auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen. Erst nach einiger Zeit löst er sich davon. Nicht nur nach Sassenhausen, steht der Parzivalroman somit in der Tradition der literarischen Gattung des Entwicklungsromans, für welchen der häufig beschwerliche Weg der Selbstfindung des Protagonisten sowie ein Ablöseprozess von dem vorangegangen Leben symptomatisch sind. Den Parzivalroman als einen Entwicklungsroman zu deuten, erscheint jedoch als ein Verfahren, dass eine starke Reduktion in sich birgt. Denn durch die Konzentration auf den Protagonisten treten andere wichtige Handlungsfiguren zu stark in den Hintergrund. Anders argumentierte Tax, der Wolframs Parzival als ein komplex durchstrukturiertes Gefüge betrachtet, in dem zahlreiche Parteien aufeinander Bezug nehmen, weshalb er in der Lebensgeschichte Gahmurets eine Entsprechung in Parzivals Geschichte vermutet. Zusammenfassend ergibt sich somit keine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der parallelen Strukturen zwischen den Biografien von Vater und Sohn.

Quellennachweise

[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36).

[*Chrétien 1991] Chrétien de Troyes: Der Percevalroman (Le Conte du Graal), übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1991.

[*Dallapiazza 2009] Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin 2009.

[*Ernst 1999] Ernst, Ulrich: Formen analytischen Erzählens im Parzival Wolframs von Eschenbach. Marginalien zu einem narrativen System des Hohen Mittelalters, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1999, S. 165–198.

[*Maier-Eroms 2009] Maier-Eroms, Verena: Heldentum und Weiblichkeit. Wolframs Parzival, Gottfrieds Tristan und Richard Wagners Musikdramen, Marburg 2009.

[*Sassenhausen 2007] Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung, Köln 2007.

[*Tax 1973] Tax, Petrus W.: Gahmuret zwischen Äneas und Parzival. Zur Struktur der Vorgeschichte von Wolframs 'Parzvial', in: Zeitschrift für deutsche Philologie, hg. von Hugo Moser und Benno von Wiese, (92) 1973, S. 24–37.

  1. Alle Textstellen-Angaben aus Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. Mit der art Parzivals ist das genetische, somit höfisch-ritterliche Erbe seines Vaters Gahmuret gemeint [Dallapiazza 2009: Vgl. S. 39]