Parzival als Held ohne Vater
Gegenstand dieses Artikels ist die Bedeutung der fehlenden Vater-Sohn Beziehung für den Protagonisten Parzival im gleichnamigen Roman[1] von Wolfram von Eschenbach. Neben der allgemeinen Rolle des Mannes in mittelalterlichen Familien bietet der folgende Text eine Analyse der problematischen Identitätsbildung Parzivals anhand ausgewählter Textstellen. Inwiefern ist die Vaterfigur in Parzivals Kindheit präsent, obgleich alle Informationen über den Vater und seine Wurzeln von ihm ferngehalten werden? Kann die These gestützt werden, dass der Vater, trotz der fehlender physischen Anwesenheit, stets allgegenwärtig ist?
Der Mann als Familienoberhaupt und Erbnachfolger im Mittelalter
In der mediävistischen Genealogieforschung herrscht Konsens über die hohe Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen in der mittellaterlichen Gesellschaft. Im Regelfall hielt die Familie "wie Pech und Schwefel zusammen" [Althoff 1990: 32]. Die Verwandtschaft unterstützte sich in vielen Gebieten gegenseitig, ob im kriegerischen Bereich als Fehde- oder Rachegemeinschaft, in der Politik oder auch in religiösen Angelegenheiten wie Gebetshilfe. Die hierarchische Spitze einer mittelalterlichen Familie ist der Mann in seiner Rolle als Oberhaupt der Familie und als Erbnachfolger [Althoff 1990: 31ff]. Die Weitergabe des Erbes an den Sohn diente gerade im Adelsgeschlecht zu einer dauerhaften Herrschaftsbildung [Althoff 1990: 55]. Dabei wurde nicht nur der Besitz, sondern auch die Titel weiter gegeben. Dementsprechend spielt die Vater-Sohn Beziehungs im Mittelalter eine besondere Rolle.
Welche Position ein Mensch in der mittelalterlichen Gesellschaft einnahm, entschied im wesentlichen seine Herkunft. Dieses hatte zur Folge, dass die eigene Abstammung im Fokus stand. "Anhand der Genealogie der Familie wurde der soziale Status gemessen" [Schommers 2010: 10]. In Adelskreisen dienten die Vorfahren auch als Argument für die eigene Vornehmheit. Das Wissen über die Ahnenreihen wurde meist für längere Zeit nur mündlich weitergegeben [Althoff 1990: 75].
Diese Familienstruktur zeigt sich auch in der wachsenden Bedeutung der Vater-Sohn Beziehung in der Literatur des 12. Jahrhunderts [Kullmann 1992: 141]. Die Thematik des verstorbenen, unbekannten oder verheimlichten Vaters ist immer wieder in höfischen Romanen zu finden, beispielsweise in Wirnts von Grafenberg Wigalois oder Gottfrieds von Straßburg Tristan. Es erschwert den Romanfiguren ihren Platz in der höfisch-mittelalerlichen Gesellschaft zu finden und eine eigene Identität zu entwickeln.
Die Elternvorgeschichte
Die im Buch I+II behandelte Geschichte von Parzivals Eltern Gahmuret und Herzeloyde, mit dem Fokus auf den Vater, lässt zum einen wichtige Themen des Romans erahnen und legt zum anderen den Grundstein für die Identitätssuche[2] des Protagonisten. Gahmurets Begierde nach ritterlichen Kämpfen und Turnieren, sein Verlangen nach Ruhm und Ehre und seine daraus folgende Ruhelosigkeit, die ihn nicht sesshaft werden lässt, ist prägend für die Parzivalhandlung. Sein Tod im ritterlichen Kampf ist die Bedingung für Parzivals abgeschottete Kindheit und die ausgebliebene höfische Erziehung [Schommers 2010: 73]. "Durch die dynastischen Voraussetzungen, die Parzival als Kind eines Ritters und einer Angehörigen der Gralsdynastie zur Welt kommen lassen, wird er zugleich als Artusritter[3] und als Graskönig geboren" [Schommers 2010: 77]. Die zwingende Konsequenz des Verlusts der Vaterfigur vor Parzivals Geburt ist die dominante Mutter-Sohn Beziehung.
Parzivals Kindheit ohne Vater
Der Protagonist Parzival wir schon im Prolog genannt, bevor er im Roman das erste Mal auftritt. Sein unerschrockener Kampfesmut und seine strahlende Schönheit lassen sich an dieser Stelle schon erahnen.
Mittelhochdeutsches Orginal | Übersetzung | |
V. 4,14-18: | sîn herze in dar an nicht betrouc, | Da hat sein Herz ihn nicht enttäuscht. |
er stahl, swa er ze strîte quam, | Er war ein Stahl in jedem Streit, wo immer er auch hinkam. | |
sîn hant dâ sigelîchen nam | Seine Hand hat mit dem Recht des Siegers | |
vil managen lobelîchen prîs. | manche Ehre und viel Ruhm an sich genommen; | |
er küene, traclîche wîs, | kühn und spät erst weise war der Held, |
Es wird ein Bild von einem Helden gezeichnet, "das sich unproblematisch in den Kosmos des ritterlichen Abenteuer- und Minenromans Hartmanischer Prägung einzufügen scheint" [Schu 2002: 236] . Das traclîche wîs - Werden und das zuvor im Prolog erwähnte Elsterngleichnis weisen jedoch schon hier auf Parzivals unbeständigen Lebensweg hin [Schommers 2010: 77] [Schu 2002: 236]. Das, was er an körperlicher Kraft und Schönheit im Übermaß besitzt, das fehlt ihm an geistiger Stärke. Gahmurets Präsenz, sein Erbe in Form der körperlichen Voraussetzungen, und gleichzeitig seine Abstinenz, seine fehlende höfische Erziehung, sind schon hier erkennbar.
Der Protagonist tritt erst im dritten Buch als handelnde Person in Erscheinung, als sich seine Mutter Herzeloyde für eine Isolation in Soltane entscheidet. Diesen Schritt macht sie zum einem aus triuwe (V.116,19), um ihres Seelenheilswillen und zum anderen, um ihren Sohn zu schützen. Herzeloyde fürchtet sich davor, dass ihr Sohn den gleichen Weg wie ihr Ehemann geht und bei ritterlichen Kämpfen auch den Tod findet. Den einzigen Ausweg sieht sie in der totalen Isolation von der Ritterwelt und der höfischen Kultur. In einer Gesellschaft, die von der höfischen Kultur dominiert wird und den Regeln dieser folgt, drängt sich zwangsläufig die Frage auf, inwiefern der Versuch der Isolation von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist[4]. Ungeachtet dessen wird Parzival als "des werden Gahmuretes kint" (V.117,15) bezeichnet und auf diese Weise mit der väterlich-ritterlichen Lebenswelt in Verbindung gebracht. Der Erzähler kommentiert kritisch die Entscheidung Herzeloydes, Parzival seine Herkunft vorzuenthalten [Schu 2002: 237].
Mittelhochdeutsches Orginal | Übersetzung | |
V. 117,30 -118, 2: | der knappe alsus verborgen wart | So wurde der Knabe verborgen |
zer waste in Soltâne erzogn, | im wilden Wald von Soltâne erzogen | |
an küneclîcher furore betrogn; | und um königliche Lebensart gebracht |
"Er (Parzival) hat keinen Lehrmeister, wird weder in körperlicher Ertüchtigung noch in der Jagd erzielt geschult, erhält keine musikalische Ausbildung und keine höfischen Verhaltenslehren. Parzival wird also zunächst nicht erzogen, sondern wächst (behütet) auf" [Russ 2000: 40]. Herzeloyde zieht Parzival zwar mit aller Liebe und Hingabe auf, er wird aber nicht gebührend seinem Stand erzogen. Es ist der Versuch der Mutter den Sohn nur über die Beziehung zu sich selber zu definieren. So ist es unabwendbar, dass Parzival diese für ihn konstruierte Welt verlässt auf der Suche nach Identität [Schommers 2010: 80] [Schu 2002: 237].
Der Versuch Herzeloydes, ihren Sohn isoliert von der Außenwelt und dem höfischen Leben und Rittertum aufzuziehen, erschwert Parzivals langen Prozess seiner Identitätssuche. Das Erbe Gahmurets kann die Mutter auch durch völlige Abgeschiedenheit nicht unterdrücken und so ist der Vater stets präsent, wie im Folgenden dargestellt wird.
Die Vogel-Episode
Parzival ist in der Lage, sich eigens Pfeil und Bogen zu schnitzen und damit auf die Jagd zu gehen. Diese Tätigkeit ist keinesfalls von der Mutter geprägt, sondern ist in der rittlerich-höfischen Erziehung zu finden. Die Vogeljagd gehört im Mittelalter zu der klassischen Erziehung des Adels und scheint wie ein Instinkt bei Parzival zu sein. Das Spannungsverhältnis zwischen der Bestimmung und der Erziehung des Protagonisten zeigt sich schon in dieser ersten Erfahrung. Es ist ein sehr ambivalentes Erlebnis, denn wenn er die Vögel tötet, so stimmt es ihn traurig und er bereut es; lauscht er nur ihrem Gesang, dann wird er unruhig und es quält ihn das Verlangen [Schu 2002: 238] .
Mittelhochdeutsches Orginal | Übersetzung | |
V. 118,14 - 18: | erne kunde hiht gesorgen, | Er kannte keinen Kummer, |
ez enwære ob im der vogelsanc, | außer wenn über ihm die Vögel sangen; | |
die süeze in sîn herze dranc | das drang ihm so süß ins Herz | |
daz erstracte im sîniu brüstelîn. | und machte ihm sein Kinderbrüstelein weit. | |
al weinde er lief zer künegîn, | Weinend lief er dann zur Königin. |
Diese Szene zeigt sehr deutlich den Konflikt zwischen der gewaltfreien harmonisierten mütterlichen Welt und der von Gewalt geprägten ritterlichen Welt des Vaters. Eine Verbindung dieser zwei Welten ist jedoch kaum möglich. An dieser Stelle kann der Leser erahnen, dass Parzival den mütterlich geprägten Raum verlassen muss, um seiner Sehnsucht und seinem Verlangen nachzugehen [Schommers 2010: 82]. Es ist ein verzweifelter und aussichtsloser Versuch Herzeloydes alle Vögel auszurotten, um den innerlichen Konflikt Parzivals zu beenden (V. 118, 29ff).
Herzeloydes Lehre und Erziehung[5]
Das Ausmaß der fehlenden Erziehung Parzivals wird im ersten Dialog zwischen ihm und seiner Mutter deutlich. In seiner ersten Äußerung fragt er sie, warum sie die Vögel tötet und bittet sie damit aufzuhören (V.119, 10f). Die Mutter stimmt ihrem Sohn zu und begründet dies mit dem Verstoß gegen das Gebot Gottes, der daraufhin fragt: "ôwê muoter, waz ist got?" (V.119, 17). Herzeloyde hat Parzival in keiner Weise religiös erzogen und so fehlt dem Protagonisten jede Vorstellung von Gott. Das Geschick mit Waffen zu hantieren und zu Jagen ist ihm angeboren, doch es fehlt ihm jeglicher Umgang mit der Religion und der höfischen Gesellschaft [Schommers 2010: 83] [Schu 2002: 238]. Sein völliges Unvermögen zur Reflexion zeigt sein Umgang mit Herzeloydes Licht-Metaphorik (V.119, 18ff) als Erklärung auf seine Frage, was Gott sei. Er ist nicht imstande in dieser Erläuterung die Metaphorik zu erkennen und diese auf irgendeine Weise zu deuten. Diese Kompetenz würde vermutlich bei einer ritterlichen Erziehung nicht in diesem Ausmaß fehlen. So ist es auch nicht überraschend, dass er die Ritter, denen er im Wald von Soltane begegnet, aufgrund ihrer glänzenden und strahlenden Rüstung für Gott hält (V.122, 21ff).
Herzeloydes Gotteslehre ist folgenschwer für die Mutter-Sohn Beziehung, da es zu Parzivals Entschluss führt Ritter zu werden. Er möchte selbst zu so einem Lichtwesen werden, da er in diesen Gott zu erkennen glaubt [Schommers 2010: 85]. "In der Begegnung mit den Rittern ist die Verwechslung dieser mit Gott komisch und tragisch zugleich, die anthropomorphe Gottesvorstellung Parzivals wird ihn in einen tiefen Konflikt mit diesem Gott führen, der seine Helferrolle aus Parzivals Sicht nicht gerecht geworden ist" [Schu 2002: 248]. Es ist bittere Ironie, dass gerade Herzeloydes Versuch, Parzival in der Einöde jegliche höfische und ritterliche Erziehung zu verweigern, letztendlich mit dazu führt, dass Parzival aus Soltane wegzieht, um Ritter zu werden.
Parzival zwischen "Schönheit" und "tumpfheit"[6]
Der Erzähler zeichnet ein Bild von Parzival als Knabe, der nur so vor Schönheit (V.118, 11) und Kraft (V.120, 8ff) strotzt. Seine Jagd beschränkt sich nun nicht mehr nur auf Vögel, sondern er bringt auch erlegte Wildtiere nach Hause, die er ohne Mühe trägt (V.1290, 2ff). Trotz seiner "unstandesgemäßen Erziehung" [Schu 2002: 243] deuten diese angeborenen Fähigkeiten und sein Äußeres schon auf seine spätere Karriere als Ritter hin. In der von Natur dominierten Umgebung von Soltane, in der Parzival sich richtig zu bewegen weiß, wird er nirgends als tôr oder tump betitelt. Erst als er in Kontakt mit der ihm fremden Ritterwelt kommt, wird dieses Charakteristikum deutlich. Die Funktion dieser Begegnung ist unter anderem, diese tumpeit zu zeigen [Russ 2000: 47]. Während diesem Zusammentreffen mit den Rittern im Wald von Soltane, wird Parzival wegen seiner Unwissenheit und seinem Verhalten als tœrsche Wâleise (V.121, 9) und als "knappen der vil tumpheit wielt" (V.124, 16) beschrieben. Dessen ungeachtet sieht der Fürst Karnahkarnanz in Parzivals Schönheit ein Zeichen seiner ritterlichen Abstammung (V.123,11). Auffällig ist, dass sein Äußeres, seine außergewöhnliche Schönheit, von dem Fürsten als Indiz für Ritterlichkeit angesehen wird, obwohl seine Dummheit und seine Unwissenheit so dominant in der Begegnung sind. Karnahkarnanz zeigt in seinen Worten, die er zum Abschied an Parzival richtet, die Erkenntnis, dass an diesem Knaben etwas besonders ist und gibt mit dieser Beurteilung auch dem Leser einen wichtigen Baustein für seine Sicht auf den Protagonisten [Schu 2002: 247]:
Mittelhochdeutsches Orginal | Übersetzung | |
V. 124,17 - 21: | der fürste sprach 'got hüete dîn. | Der Fürst sprach: "Gott schütze dich. |
ôwî wan wær dîn schœne mîn! | Ach, hätte ich nur deine Schönheit! | |
dir hete got den wünsch gegebn, | Dir hat Gott die Fülle dessen, was ein Mensch nur wünschen kann, geschenkt - | |
ob du mit witzen soldest lebn.. | wenn nur deinem Wege auch Verstand gegeben wäre! | |
diu gotes kraft dir virre leit.' | Möge Gottes Macht Leid von dir fernhalten." |
Durch die Begegnung mit den Rittern bekommt Parzival nur einen lückenhaften Eindruck des Ritterdaseins und somit bleibt ihm die Ambivalenz dessen verschlossen. Es sind fragmentarische Informationen, die er falsch deutet und so zu dem Trugschluss kommt, dass er nur zum Artushof gehen muss, wo er zum Ritter geschlagen wird und dann gegen jeden ebenfalls gerüsteten Mann kämpfen muss. Der Grund für Karnahkarnanz Reise, die Entführung einer Jungfrau durch zwei Ritter, und damit die negative Medaille des Rittertums [Pratelidis 1994: 146], dringt nicht in das Bewusstsein des Knaben [Schu 2002: 247].
Parzivals Aufbruch aus Soltane
Parzivals Entschluss nach der folgenschweren Begegnung steht fest: er will zum Artushof, um Ritter zu werden. Er rennt so schnell es geht zu seiner Mutter, die als wichtigste Bezugsperson die erste ist, die von seinen Plänen erfährt (V.125, 27ff). Herzeloyde bricht zusammen, als sie von dem Zusammentreffen mit den Rittern erfährt. Sie erkennt, dass die künstlich konstruierte Welt wie ein Kartenhaus zusammenbricht und Parzivals Aufbruch unabwendbar wird. Eine letzte Chance sieht sie darin, ihn in der höfischen Welt zum Gespött der Leute zu machen, indem sie ihn in ein Narrengewand kleidet (V.129, 25). Es ist der verzweifelte Versuch Parzival den Eintritt in die höfische Gesellschaft so zu erschweren, dass er frühzeitig aufgibt und zu ihr zurückkehrt. Dabei unterschätz sie jedoch Gahmurets Erbe, welches sich nicht nur in seiner körperlichen Kraft und Schönheit zeigt, sondern auch die Sehnsucht und das Verlangen nach Abenteuer, nach Aventiure widerspiegelt.
Vergleicht man Gahmurets Abreise aus Anschouwe und Parzivals Aufbruch aus Soltane, so könnten diese Abschiede kaum unterschiedlicher sein[7]. Als Gahmuret seine Heimat verlässt, weiß er über seine Herkunft, sein väterliches Erbe Bescheid. Er ist standesgemäß erzogen und weiß, wie er sich in der höfischen Gesellschaft zu verhalten hat. Obgleich er das Schicksal seines Vaters, der im ritterlichen Kampf gestorben ist, nur zu gut kennt, drängt es ihn in die weite Welt. Als seine Mutter erkennt, dass sie ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen kann, versucht sie ihm so viel wie möglich mit auf den Weg zu geben. Zum Abschied gibt sie ihm "manec tiwer goltvaz, und manegen guldînen klôz" (V.10,5-6) und fünf ihrer besten Schlachtrösser (V.10,1). Auch sein Bruder spart nicht an Kostbarkeiten und so ist Gahmuret mehr als gerüstet für seine Reise. Er besticht nicht nur durch seine Schönheit und Kraft, sondern auch schon zu Beginn seiner Reise durch Bescheidenheit (V.13,2) und Bildung (V.12, 24).
Die Gemeinsamkeiten der Szene - das Sehnsucht nach Abenteuer, das Verlangen nach ritterlichen Ruhm und Ehre, der Abschied von der Mutter und ihre "Geschenke" - betonen zugleich die Unterschiede. Parzival kennt zum Zeitpunkt seines Auszugs weder seinen Vater noch seine familiäre Abstammung[8]. Zum Abschied überreicht sie dem Protagonisten ein selbst geschneidertes Narrengewand mit Stiefeln aus haariger, rauer Kälberhaut (V.127, 1ff) und ihr schlechtestes Pferd (V.126, 22). Die Ratschläge, die sie Parzival mit auf den Weg gibt, sind eher fragwürdig, da sie zu knapp und unvollständig sind, um sich in der Artumwelt zu bewegen. Sie zeugen von Herzeloydes Hoffnung, er scheitere und kehre dann zu ihr zurück [Russ 2000: 50]. So startet Parzival im Gegensatz zu seinem Vater schlecht ausgerüstet, ohne höfische Manieren und ohne Wissen über seine Identität in die ritterliche Welt. Was beide jedoch verbindet ist das Verlangen nach Abenteuer und ihre angeborene Kraft und Schönheit. Der Schmerz des Verlustes nach Parzivals Abreise führt zum Tod Herzeloydes, den ihr Sohn jedoch nicht mehr mitbekommt (V.128, 20).
Fazit
In der mittelalterliche Gesellschaft spielt die Familie, insbesondere der Mann an der Spitze der Hierarchie, eine bedeutende Rolle. Die Herkunft bestimmt nicht nur den Platz, den man in der Gesellschaft einnimmt, sondern ist zudem - insbesondere beim Erbnachfolger - Identitätsstiftend. Ist die eigene Abstammung unklar, dann fehlt auch der feste Platz im Gefüge und die Identität, die einem dadurch zusteht.
Betrachtet man den Zeitraum, in welchem Parzival noch unwissend ist über seine ritterliche Herkunft, so wird deutlich, dass Gahmurets Erbe stets präsent ist. Diese Anwesenheit zeigt sich nicht nur in Parzivals körperlicher Gestalt - seine Kraft und seine Schönheit - und seinen angeborenen Fähigkeiten zur Jagd. Gahmuret und Parzival verbindet insbesondere die Sehnsucht nach Aventiure, das Verlangen nach Ruhm und Ehre und die daraus folgende Ruhelosigkeit, die Sesshaftigkeit erschwert. Auch wenn Herzeloyde mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, Parzival isoliert von der höfischen Gesellschaft aufzuziehen und fernzuhalten, so kann sie das väterliche Erbe in ihrem Sohn nicht unterdrücken. Die fehlende höfische Erziehung und die Unwissenheit über seine Herkunft erschweren Parzival seine Identitätssuche, hindern ihn jedoch nicht daran, seiner Sehnsucht zu folgen und Ritter zu werden. Es hat etwas komisch-ironisches an sich, dass Parzival, gerade aufgrund der fehlenden Erziehung, die Gotteslehre seiner Mutter zum Anlass nimmt Ritter zu werden, da er in ihnen Gott zu erkennen glaubt. Es scheint, dass Herzeloydes Scheitern von Anfang an determiniert ist.
Der frühe Tod Gahmurets und die dadurch fehlende Vaterfigur in Parzivals Kindheit ist die Basis für den langen und steinigen Weg des Protagonisten in die Artus- und Gralswelt. Parzivals Leben wäre sicherlich anders verlaufen, wenn er mit seinem Vater aufgewachsen wäre und von ihm eine standesgemäße Erziehung genossen hätte. Obgleich Parzival seinen Lebensweg ohne seinen Vater bestreitet, so ist sein "indirekter Einfluss (..) über die gesamte Handlung hinweg bestimmend für Parzival" [Schommers 2010: 113].
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
<Harvardreferences />
[*Parzival] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
Sekundärliteratur
[*Althoff 1990] Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990.
[*Kullmann 1992] Kullmann, Dorothea: Verwandtschaft in epischer Dichtung. Untersuchungen zu den französischen chansons de geste und Romanen des 12. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1992.
[*Pratelidis 1994] Pratelidis, Konstantin: Tafelrunde und Gral. Die Artuswelt und ihr Verhältnis zur Gralswelt im Parzival "Wolframs von Eschenbach". Würzburg: Königshausen und Neumann 1994.
[*Russ 2000] Russ, Anja: Kindheit und Adoleszenz in den deutschen Parzival und Lancelot-Romanen. Hohes und spätes Mittelalter. Stuttgart/Leipzig: Hirzel 2000.
[*Schommers 2010] Schommers, Stephanie: Helden ohne Väter: Die Suche der Söhne nach Identität in mittelalterlicher Literatur. Marburg: Tectum Verlag 2010.
[*Schu 2002] Schu, Cornelia: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs Parzival. Frankfurt am Main: Lang 2002.
Fußnoten
- ↑ Im Folgenden stets zitierte Ausgabe: [Parzival].
- ↑ Parzivals Suche nach der "eigenen Identität" kann auch als Suche nach der ihm "zustehenden Identität", der ihm zustehende Platz in der Gesellschaft, betrachtet werden [Schommers 2010: 10].
- ↑ Parzivals Verbindung zum Artushof wird schon in Gahmuret Abschiedsbrief an Belacane angedeutet, als er seine Abstammung von Utepandragûn, Vater von Artus, erklärt (V. 56,4ff).
- ↑ vgl. [Pratelidis 1994: 145]: "Angesichts der Omnipräsenz des Rittertums ist Herzeloydes Rückzug aus Soltane somit ein vergeblicher und von vornherein zum Scheitern verurteilter Versuch, der verhängnisvollen Dynamik der ritterlichen Zivilisation zu entfliehen."
- ↑ Ausführlicher hierzu: Parzivals Erziehung durch Herzeloyde und ihre Folgen
- ↑ Ausführlicher hierzu: Parzivals tumpheit
- ↑ Ausführlicher hierzu: Biografische Parallelen zwischen Gahmuret und Parzival (Wolfram von Eschenbach, Parzival
- ↑ Zum Abschied erfährt Parzival von seiner Mutter, dass die Länder Wâleis und Norgâls, die einmal Parzival gehören sollten, von Lähelin im Kampf erobert wurden. Dies ist der einzige Hinweis seiner Herkunft, den Herzeloyde ihm mit auf den Weg gibt.