Das Motiv des Niemandslands im Parzival (Funktion und Bedeutung)
Raum und Raumstrukturen bilden zusammen mit den Figuren und deren Handlung die strukturgebenden Elemente aller Epik. Herman Meyer bemerkt dazu, dass "Raum in der Dichtung nicht bloß eine faktische Gegebenheit bildet, sondern vor allem ein eigenständiges Gestaltungselement, das zusammen mit verschwisterten Elementen wie Zeit, Erzählperspektive, Figur und Handlungsfolge den intendierten Gehalt verkörpert und die Struktur des Werkes bestimmt." [Meyer 1975: 231] Glaser betont, dass "Raumimaginationen im Artusroman meist nicht-mimetisch" sind und zudem "auf einen höheren Sinn verweisen" [Glaser 2004: 189]. Daher liegt es nahe, nicht nur danach zu Fragen, wo Räume geografisch verortbar sind, sondern auch, welcher Raumkategorie sie angehören und welche Funktion sie für das literarische Werk haben.
Im Parzival tauchen immer wieder Episoden auf, in denen sich die Protagonisten sozusagen im Niemandsland zwischen zwei geografisch nachvollziehbaren Orten befinden. Dieser Artikel gibt einen Überblick über eine Reihe von Szenen, die sozusagen "zwischen den Orten" stattfinden und fragt nach der Funktion und Bedeutung dieser Zwischenorte.
Die hier besprochenen Orte grenzen sich also von den geografisch nachvollziehbaren Orten im Parzival ab. Es wird somit weniger die Frage geklärt, wo genau die jeweiligen Szenen stattfinden, sondern nach der Funktion und der Bedeutung des Niemandslands für die jeweilige Szene und den Handlungsverlauf gefragt. Basierend auf Armin Schulz' umfassender Übersicht über verschiedene Konzeptionen von Raum und Zeit [Schulz 2012: 292-316] und Andrea Glasers Analyse des Parzival bezüglich verschiedener literarischer Raum- und Bewegungskonzeptionen [Glaser 2004], versucht dieser Artikel, die semantische und handlungsbezogene Struktur der jeweiligen Zwischenorte im Parzival zu analysieren.
Mit Parzivals Verschwinden während der Gawan-Passage, beschäftigen sich folgende Artikel: Transzendenz und Immanenz - Parzivals Verschwinden während der Gawan-Passage und Das Motiv der Doppelung. Die sehr komplexe und spezielle Raum- und Bewegungsstruktur dieser Szenen wird in diesem Artikel nicht behandelt werden, da sie den Rahmen sprengen würde.
Raumkonzeptionen
Sämtliche hier aufgeführte Raumkonzeptionen sind den Arbeiten von Armin Schulz [Schulz 2012: 292-316] und Andrea Glaser [Glaser 2004] entnommen. Im Folgenden wird versucht, ausgewählte Szenen des Parzival in diese einzufügen und zu analysieren.
Sonderräume
Sonderräume sind nach Schulz prägend "als Gegenwelten, als Räume der Fremdheitserfahrung, in denen der Held mit dem kategorial 'Anderen' der eigenen Kultur konfrontiert wird". [Schulz 2012: 310] Einen solchen Sonderraum stellt die Einöde Soltane dar, in der Herzeloyde Parzival aufzieht. Ein zentrales Merkmal von Soltane ist die räumliche Distanz zum Hof, da diese Distanz auch eine Distanz zwischen Natur und Kultur darstellt. Bei Schulz heißt es dazu: "Raum und Zeit sind funktional den Erfordernissen der Handlung unterworfen; innerhalb der dargestellten Welt sind sie offensichtlich nicht absolut bestimmbar, sondern nur Relationen." [Schulz 2012: 315] Soltane als nicht genau örtlich definierbarer Sonderraum, soll als Zufluchtsort dienen, in dem Herzeloyde versucht, ihren Sohn von allem Höfischen und fernzuhalten. Herzeloyde will damit verhindern, dass Parzival dem ritterlichen Vorbild und Schicksal seines Vaters Gahmuret folgt, sie verlässt und möglichweise auch im Kampf getötet wird. Auffällig ist jedoch, dass obwohl Herzeloyde gerade die Distanz zum Hof sucht, sie trotzdem mit ihrer Lebensart in der Einöde an der höfischen Kultur festhält.
Eine ausführliche Beschreibung von Parzivals Kindheit und Erziehung in Soltane findet sich an anderer Stelle.
Diskontinuierliche Räume
In der mittelalterlichen Literatur generell und so auch im Parzival werden die Wege der Protagonisten zwischen zwei Orten oftmals lückenhaft dargestellt, manches Mal sogar gar nicht explizit erwähnt. Daher kommt es oft zu einer auffälligen Diskontinuität zwischen den Handlungsorten. Glaser weist darauf hin, dass es "den mittelalterlichen Dichtern nicht darum ging, fotografisch genaue Beschreibungen der Räume zu liefern." [Glaser 2004: 24] Die Wege zwischen zwei Haupthandlungsorten, die Art und Weise der Fortbewegung, eventuelle Zwischenstationen oder Hindernisse auf der Strecke werden immer nur dann thematisiert, wenn es der Narration zugute kommt und für den Roman insgesamt von Bedeutung ist. Schulz spricht in diesem Zusammenhang auch von Insularen Räumen und merkt an, dass der Raum in der Erzählung nur dann von Interesse ist, "wenn er für denjenigen, der ihn durchquert, gefährlich wird" (wie dies oft bei Grenzen wie Flüssen oder Schluchten oder Naturphänomenen wie Schneestürmen der Fall ist) oder wenn durch den umgebenden Raum die "Lage eines Kultur-Ortes wie etwa einer Stadt oder einer Burg [...] genauer bestimmt" wird [Schulz 2012: 302]. Ist es also für die Narration nicht vonnöten, den Reiseweg oder den Bewegungsraum genauer zu beschreiben, werden "Reisestrecken" zu "bloßen Linien, die insulare Kultur-Orte miteinander verbinden" [Schulz 2012: ebenda]. In diesem Fall erscheinen Raumwechsel als diskontinuierliche Sprünge von einem Raum zum anderen [Schulz 2012: Vgl. ebenda].
Schwellenräume
Als Schwellenräume kann man diejenigen räumlichen Strukturen bezeichnen, die den Bereich zwischen zwei unterschiedlichen Sphären markieren. [Glaser 2004: 50] Wird die Sphäre des Artushofs verlassen, so tritt man in die Sphäre der Natur oder des Magischen ein. Der Übergang von einer Sphäre zur anderen kann durch einen Raum führen, der durch besondere Eigenschaften gekennzeichnet ist. Das Land um die Gralsburg, Terre de Salvaesche, ist ein solcher Schwellenraum. Es wird vor allem "mittels nicht-räumlicher Kategorien wie Wildnis, Hinterhalt oder der Gefahr des Verirrens charakterisiert" [Glaser 2004: 81]. Bei seiner Beschreibung dominieren zudem Vagheit und Ungenauigkeit, die zu seiner geheimnisvollen Aura beitragen.
Sigune am Felsenhang
Das erste Treffen (138,9 – 142,2) findet an einem Felsenhang statt, nachdem Parzival von Jeschutes Zelt mit dem Ziel des Artushofs in Nantes weggeritten ist. Jeschute, von Orilus verstoßen, reitet Parzival nach. Dieser trifft die ihm noch unbekannte Sigune wehklagend an einem Felsenhang sitzend, den toten Schîânatulander in ihrem Schoß wiegend:
sus kom unser tœrscher knabe | __________ | So kam unser närrischer Knabe | ||
geriten eine halden abe. | __________ | einen Abhang herabgeritten. | ||
wîbes stimme er er hôrte | __________ | Die Stimme einer Frau hörte er - | ||
vor eines velses orte | __________ | er wollte gerade um die Spitze eines Felsens biegen. | __________ | (138,9-12) |
Sigune eröffnet dem ahnungslosen Knaben seinen Namen und klärt ihn über seine Herkunft und Familie auf (140,15 ff.).
Wo genau sich der Ort befindet, an dem dieses Aufeinandertreffen passiert, lässt sich nicht sagen. Es kann jedoch nicht weit entfernt von Orilus' und Jeschutes Zeltlager sein, da im Text keinerlei Anzeichen für einen längeren Ritt oder jegliche Indikatoren für Distanz gegeben zu finden sind. Erst nachdem Parzival aufbricht, um Sigunes und sein eigenes familiäres Unglück, über das sie ihn nun aufgeklärt hat, im Kampf zu rächen, ist davon die Rede, dass er einer befestigten, breiten Straße folgt:
eine strâze er dô gevienc | __________ | So kam er auf eine Straße, | ||
diu gein den Berteneysen gienc: | __________ | die zu den Berteneysen ging, | ||
diu was gestrîcht unde breit. | __________ | die war gepflastert und breit. | __________ | (142,3-5) |
Es ist auffällig, dass auf dem Weg zu Sigune keinerlei örtliche Angaben gemacht werden, wohingegen die Straße auf der Parzival Sigune verlässt, explizit beschrieben wird. Dies dient dem Zweck, Sigunes Erscheinen mit einer Aura von Unnahbarkeit und Heimlichkeit zu umgeben. Sigune und die Orte ihrer "Erscheinung" sind dem Mystischen zuzuschreiben und tauchen immer nur an Stellen im Roman auf, wo Parzival mithilfe der Providenz geleitet werden muss. Sigune versucht zwar, ihn durch Weisen der falschen Richtung vor Unheil zu bewahren, trotzdem führt die Straße ihn zielgerichtet zum Artushof nach Nantes. Der Ort am Felsenhang, an dem Parzival Sigune trifft, ist insofern ein Schwellenraum, in dem Parzival die Grenze zwischen dem mystisch-magischen Gralsland Terre de Salvaesche und seiner verwunschenen Burg überschreitet, um in die Sphäre der ritterlich-höfischen Artusgesellschaft überzutreten.
Der Weg nach Munsalvaesche
Parzivals Ritt von Pelrapeire nach Munsalvaesche erfolgt mit großer Schnelligkeit, ohne dass der Reiter dies bewusst wollte, denn Parzival ist in Gedanken bei seiner Frau Condwiramurs (224,1-30). Ohne auf Wegen zu reiten (da er dem Pferd die Führung überlassen hat), kommt Parzival innerhalb eines Tages bis an einen See, wo er auf einen Fischer trifft. Der Rezipient erfährt nichts über das Verhältnis zur geographischen Lage zu Pelrapeire, außer dass die Strecke weiter ist als von Graharz nach Brobarz (224,27-30). So entsteht eine semantische Verunsicherung, die noch durch die fehlenden Beschreibungen des Sees und der vagen Beschreibung der Burg verstärkt wird.[Glaser 2004: 71-76]
mit gewalt den zoum daz ros | __________ | Das Pferd hatte sich zum Herren des Zügels gemacht | ||
truog über ronen und durchez moz: | __________ | und führte ihn über Baumstämme und durch das Ried; | ||
wandez wîste niemend hant. | __________ | denn niemandes Hand gab ihm die Richtung. | __________ | (224,19-21) |
Der Weg fort von Munsalvaesche
Nachdem Parzival den Fauxpas des Frageversäumnisses auf der Gralsburg begangen hat, verlässt er die menschenleere Burg (247,1 ff.). Dabei begreift er weder, was dort geschehen, noch wo genau er eigentlich gewesen ist. Er folgt Hufspuren (247,10-12), die er im Hof und außerhalb der Burg entdeckt hat, die sich aber schlussendlich im Nichts verlieren:
Parzivâl der huop sich nâch | __________ | Parzivâl machte sich in Eile auf den Weg, | ||
vast ûf die slâ dier dâ sach | __________ | immer den Spuren nach, die er da eingetrampelt sah. | __________ | (248,17-18) |
do begunde krenken sich ir spor: | __________ | Ihre Spuren wurden immer schwächer: | ||
sich schieden die dâ riten vor. | __________ | Sie hatten sich getrennt, die dort vor ihm geritten waren. | ||
ir slâ wart smal, die ê was breit: | __________ | Ihre Fährte, die zuerst breit gewesen war, wurde schmal, | ||
er verlôs se gar: daz was im leit | __________ | und schließlich verlor er sie ganz. | __________ | (249,5-8) |
Die Tatsache, dass sich die Spuren verlieren, verstärkt wiederum die mystisch-magische Aura von Munsalvaesche und der umliegenden Terre de Salvaesche und bewirkt zudem, dass die Burg allein von Auserwählten gefunden werden kann. Hier zeigt sich, "dass die Raumvorstellungen im Artusroman noch stark von mythischem Substrat, besonders von der keltischen Vorstellung der 'Anderen Welt', beeinflusst sind." [Glaser 2004: 20] Munsalvaesche und das umgebende Gralsland können dementsprechend als dieser "Anderswelt" zugehörig gesehen werden.
Als besondere Grenze oder Schwelle um die Gralsburg stellt sich auch die Gefahr durch die Templeisen dar. Diese Gralsritter durchstreifen das Land um Munsalvaesche und bekämpfen rigoros jeden Ritter, der ohne dafür ausgewählt zu sein, versucht, sich der Burg zu nähern. Sie stellen also eine starke, für die Meisten undurchdringliche Schwelle dar. Dass Parzival sie überwinden konnte, beweist von Anfang an seine Auserwähltheit zum Gral.
Sigune auf der Linde
Unweit von Munsalvaesche - Parzival nennt die Distanz von ein mîle oder mêr (250,13 eine Meile oder mehr) - trifft der Held erneut unerwartet auf seine nun merklich gealterte Cousine Sigune, die diesmal auf einer Linde sitzt (249,11 – 255,30). Sie klärt Parzival über den Fauxpas auf, den er begangen hat und nennt ihm den Namen der Burg und ihrer Bewohner.
Parzival reitet von Sigune fort und trifft alsbald wieder auf frische Fußspuren, denen er folgt und die ihn erneut zu Orilus und Jeschute leiten.
Der Rezipient erhält auch im weiteren Verlauf der Geschichte nur spärliche visuelle Informationen über das Gralsland. Sigune erklärt, dass innerhalb von 30 Meilen um die Gralsburg nur bewaldetes Land zu finden ist, weder Dörfer noch bebautes Land (250,20-30)[Glaser 2004: Vgl.84]. Einzig betont wird die Stellung von Munsalvaesche im Zentrum der menschenleeren, kreisförmigen Terre de Salvaesche, die erneut die besondere Wichtigkeit der Burg hervorhebt. Das Gralsland wird insgesamt nicht durch visuelle Besonderheiten oder genaue Beschreibungen gekennzeichnet. Zentral ist stattdessen die Vielzahl "semantischer Verunsicherungen", die Vagheit und "Rätselhaftigkeit", die darauf verweisen, "dass Terre de Salvaesche mit der Gralsburg eine transzendente Sphäre bildet, die von der Artuswelt streng geschieden ist." [Glaser 2004: 84]
Sigunes Klause
Da sich das Gralsland Terre de Salvaesche vor allem durch das Fehlen von expliziten topografischen und visuellen Beschreibungen auszeichnet, sind es vor allem die sich in ihm befindenden Personen, die es kennzeichnen. Obwohl Wolfram nicht deutlich sagt, dass sich Sigunes (ebenso wie Trevrizents) Klause in der Terre de Salvaesche befindet, lässt sich dies jedoch aufgrund mehrerer Hinweise ableiten. Sigunes Klause liegt in einem walt (435,4), und Parzivals Weg führt erneut (Vgl. 224,20) über ronen (436,26 über Baumstämme) und âne strâzen (436,26 ohne Straßen). Auch wird mehrfach die umgebende Wildnis betont: 436,29-30; 438,24-25; Kundrie bringt Essen --> nicht weit von Munsalvaesche (438,29ff), Parz trifft bald Gralsritter (443,16f.), der betont, dass Mundalvaesche nah ist [Glaser 2004: Vgl. 82-83]
Trevrizents Klause
Sowohl die Klause von Sigune als auch die Klause von Trevrizent befinden sich auf der Schwelle zur Terre de Salvaesche (Vgl. auch: Die Figur des Aussteigers aus der höfischen Welt im Parzival). Trevrizent fungiert als Parzivals Berater und Lehrer, erklärt und deutet ihm die Ereignisse um das Gralsritual auf der Gralsburg Munsalvaesche. Seine Einsiedlerklause - als Ort zwischen den Haupthandlungsorten Munsalvaesche und Artushof - bietet eine ideale, distanzierte Beobachterposition. Hier kann Trevrizent seinen Erinnerungen an die Zeit auf Munsalvaesche nachgehen und Parzival davon berichten. Trevrizent ist Munsalvaesche hier in seinen Gedanken einerseits nah, andererseits aber zeitlich und örtlich entfernt genug, um aus der Distanz Parzival zu unterrichten und zu beraten. Parallel dazu ist auch der "Zwischenort" seiner Klause Munsalvaesche gleichzeitig örtlich nah und fern. Parzival kann hier wichtige Lektionen über den Gral und das Leben im Allgemeinen lernen, bevor er auf das Artuslager und die höfische Gesellschaft stößt.
Bewegungsräume
Die Konzepte Bewegungsraum und Schwellenraum sind selten streng voneinander abgrenzbar. Meist kann ein Raum beiden Kategorien zugeordnet werden, da in ihm die Bewegung die Überwindung einer Schwelle beinhaltet. Aus diesem Grund sind auch die Beispiele dieses Artikels nicht streng an eine der beiden Kategorien gebunden, sondern können auch der jeweils anderen zugeordnet werden. Glaser unterscheidet jedoch explizit die Bewegung von Figuren im Raum und von Räumen, die sich mit Figuren mitbewegen (zum Beispiel der Artushof). [Glaser 2004: 19] Im Folgenden wird allerdings nur die Bewegung von Figuren behandelt werden.
Terre Marveile
Sowohl die Terre de Salvaesche als auch die Terre Marveile können als Schwellenraum gelesen werden, da sie beide eine zum Artushof abgegrenzte Sphäre um ihr jeweiliges Zentrum (Schastel Marveile bzw. Munsalvaesche) darstellen. Auch sind beide den Kategorien der bedrohlichen Natur und der Magie zuzuordnen. Gleichzeitig ist in ihnen aber auch die Bewegung des jeweilig Helden von zentraler Bedeutung, so dass sie gleichsam der Kategorie der Bewegungsräume angehören.
Während Parzivals Ritt nach Munsalvaesche von Passivität (er überließ dem Pferd die Führung) und extremer Schnelligkeit gekennzeichnet war, nähert sich Gawan Schastel Marveile aktiv (das Schloss ist sein erklärtes Ziel), auf vielbefahrenen Straßen (535,1: Von passâschen ungeverte grôz), aber wegen seines schwachen Pferdes langsam und mähsam (534,10 ff.). Im Gegensatz zu Parzival reist Gawan auch nicht alleine, sondern in Begleitung von Orgeluse.
Terre Marveile ist nicht wie Terre de Salvaesche menschenleer, dunkel und bewaldet, sondern zum Teil erbûwen (534,19: bebaut) und es erlaubt Gawan einen weiten, offenen Blick bis auf das Schloss. Insofern ist dieser Bewegungsraum vom Blickpunkt Gawans ausgehend, stark visuell geprägt. [Glaser 2004: Vgl. 92] Glaser stellt fest, dass "Wolfram den Schwellenraum um Schastel Marveile als Gegenbild des Schwellenraums um Munsalvaesche komponiert hat" [Glaser 2004: 91]. Gawan nähert sich langsam und aktiv, in Begleitung. Das Land ist offen, auf narrativer Ebene stark visuell gezeichnet, von Menschen bewohnt und zeigt weniger semantische Verunsicherungen auf, die ja für das Gralsland von zentraler Bedeutung sind. [Glaser 2004: Vgl. ebenda]
Wie bei der Terre de Salvaesche auch, nennt Wolfram zunächst nicht den Namen des Landes und der Burg, was auch hier eine Aura des Geheimnisvollen bewirken soll - wobei diese durch das Fehlen starker Vagheit und semantischer Verunsicherungen schwächer erscheint, als im Fall des Gralslandes. Erst viel später erhält Gawan genauere Informationen von Arnive (658,15-22). Einen deutlicheren Unsicherheitsfaktor bildet demgegenüber Plippalinots rätselhafte Warnung vor einer Gefahr, die Schastel Marveile umgibt. Welche diese genau ist, lässt er offen. Ebenso jedoch wie die Templeisen die Gralsburg bewachen, bewacht der Ritter Lischoys Gwelljus sozusagen als menschliche Grenze das Schloss Clinschors. Daneben kann auch der Naturraum selbst als Gefahr angesehen werden, denn im Gegensatz zu unserem heutigen positiven, manchmal sogar sehnsuchtsvollem Empfinden dafür, sahen die Menschen im Mittelalter die Natur als unbeherrsch-, unberechenbar und gefährlich an [Glaser 2004: Vgl. 25].
Im Land um Schastel Marveile gibt es zudem zwei Schwellen, die es zu überwinden gilt: Zum Einen den Fluss, den Wolfram mit den Worten schefræhe, snel unde breit(535,3: schiffbar [...], reißend und breit) beschreibt und der von Gawan und Orgeluse mit Hilfe des Fährmanns Plippalinot überquert werden kann. Die Schwellenfunktion des Flusses scheint insofern, eben weil er unproblematisch bewältigt wird, weniger stark zu sein, obwohl Glaser darauf hinweist, dass Gewässer im Mittelalter meist eine tiefergehende mythologische Bedeutung inne hatten. [Glaser 2004: Vgl. 91] Vielmehr steht die Überquerung des Flusses hier wohl im Zusammenhang mit Gawans Weg durch die Terre Marveile als Bewegungsraum.
Die zweite Schwelle in der Terre Marveile ist eine weitaus stärkere: Der Graben Li gweiz prelljûs (602,6 ff.). Schon der Name, der übersetzt aus dem Französischen "Die gefährliche Furt" bedeutet, zeigt an, dass es sich hierbei um eine bedrohliche Schwelle handelt. Wolfram betont stark die akustischen (602,9: das Rauschen des reißenden Wassers) und visuellen Aspekte (602,10 f.: das tiefe, weite Tal ohne Furt) des Naturraums. [Glaser 2004: Vgl. 96 ff.] Insofern handelt es sich hierbei um eine Schwelle, "die ausschließlich durch die topografischen Verhältnisse an sich gekennzeichnet ist und bei der semantische Verunsicherungen keinerlei Rolle spielen." [Glaser 2004: 97] Da Gawan den Graben als Prüfung überwinden muss, was sehr anschaulich und dramatisch beschrieben wird, stellt sich der Raum selbst hier als Gegner des Helden dar. Li gweiz prelljûs kann also als Bewegungs- und Schwellenraum gleichermaßen gedeutet werden und stellt seinerseits einen geografischen Ort inmitten des mystischen Niemandsland dar.
Fazit
Die Szenen im Parzival, die jenseits von geografisch verortbaren Räumen stattfinden, sind nicht einfach willkürlich gesetzt. Wolfram nutzt das Motiv des Niemandslands vor allem als Mittel, um den Übergang der Protagonisten von einer Sphäre mit einer speziellen Ordnung zu einer gänzlich anderen zu unterstreichen. Dabei steht die Bewegung des Helden und die Überwindung einer oder mehrerer konkreter Grenzen oder Schwellen im Zentrum. Schulz verweist darauf, dass die Ordnung der Welt meist in einfachen gegensätzlichen Kontrastpaaren aufgemacht werden kann: "'oben vs. unten' [...] 'Diesseits vs. Jenseits'", aber auch "'Gewöhnlichem vs. Außergewöhnlichem', dem Eigenen und dem Fremden, dem Höfischen und dem Nicht-Höfischen [...] etc." [Schulz 2012: 293]. Im Parzival gaht es dabei um die Differenz zwischen dem Bereich der Gralsburg, also um die Sphäre der Natur, der Magie und der Mystik, und dem Bereich des Artushofs, also der Welt des Hofes, der Kultur und der Ritter. Der Übertritt von einem Raum in den anderen, wird deutlich gemacht durch das Überschreiten einer räumlichen und gleichzeitig "semantischen Grenze" in der Narration [Schulz 2012: Vgl. 293-294]. Besonders in der mittelalterlichen Erzähltradition werden solche "Transgressionen [...] weitaus häufiger topographisch markiert als in neueren Texten" [Schulz 2012: 294]. Gleichzeitig stellt die Bewegung der Figuren durch das Niemandsland einen wichtigen Aspekt in Wolframs Werk dar, wodurch Räume gleichzeitig den Schwellen- und Bewegungsräumen zugeordnet werden können. Das Niemandsland im Parzival umgibt immer einen konkreten geografischen Ort, der zusätzlich zu seinen eigenen Besonderheiten durch den spezifischen, umgebenden Raum gekennzeichnet wird. Innerhalb des Niemandslands gibt es zudem konkrete, fixe Orte, wie beispielsweise die Klausen Sigunes und Trevrizents, den See Brumbane, oder den Graben Li gweis prelljûs. Sie sind ebenso jeweils durch ihr Umgebung gekennzeichnet und gehören kategorial der umgebenden Späre an (mystisch-magische Terre de Salvaesche oder Terre marveile).
Literaturverzeichnis
Textausgabe
Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York, 2003.
Sekundärliteratur
<HarvardReferences/>
[*Glaser 2004] Glaser, Andrea: Der Held und sein Raum. Frankfurt am Main, 2004.
[*Meyer 1975] Meyer, Herman: Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst. In: Ritter, Alexander [Hg.]: Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt, 1975. S. 208-231.
[*Schuler-Lang 2014] Schuler-Lang, Larissa: Wildes Erzählen - Erzählen vom Wilden. Parzival, Busant und Wolfdietrich D. Berlin, 2014.
[*Schulz 2012] Schulz, Armin: Räume und Zeiten. In: Braun, Manuel/ Dunkel, Alexandra/ Müller Jan-Dirk: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin/Boston, 2012. S.292-316.