Das Leid im Parzival (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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In Wolframs von Eschenbach Parzival ist das Leid des Menschen in der Welt ein zentrales Thema. Wolfram stellt dar, wie Leid auf den Menschen fällt und auf individuelle Weise getragen oder überwunden werden kann. Bereits in seinem Prolog formuliert er den Leitgedanken der Geschichte. Sie soll neben Glück auch das Leid des Menschen zeigen:

nu hoert dirre âventiure site. Hört lieber, was es mit der Geschichte auf sich hat:
diu lât iuch wizzen beide Sie wird euch
von liebe und von leide: Glück und Leiden zeigen,

(Pz. 3,28-30)[1]



Das Leid im Parzival

Durch den Weg Parzivals stellt Wolfram dar, dass in der Welt zu leben heißt, Leid zu erfahren und es zu überwinden. Der Protagonist verfällt selbst immer wieder in Leid, stürzt aber auch seine Mitmenschen tiefes Leid.[2] Das Leid kann nach Wolfram in "triuwe" getragen werden oder zum Tod führen. Wolfram beschreibt am Beispiel des Protagonisten allerdings auch, dass Leid überwunden werden kann und es möglich ist durch die Überwindung höchste Freude und Ehre zu erlangen. So wird Parzival, nachdem er aufgrund seine Schuld aus der Gralsgesellschaft verstoßen wurde [3] (255, 2-20; 316, 11ff), schließlich doch zum Gralskönig berufen (781, 11-30). Wolfram stellt dar, wie die Auflehnung gegen das Leid falsche Reaktionen Parzivals hervorruft und er somit nur langsam zur richtigen Erkenntnis gelangt. Präzise beschreibt er wie der Protagonist durch das Leid wächst und was das Leid für seine seelische Existenz bedeutet. Das langsame Reifen des Helden ist begleitet von leidvollem Erleben in der Welt. Das Leiden ist im Parzival ständig präsent, im menschlichen Dasein allgemein, welches hilflos dem Leiden ausgesetzt ist. Auch wird anhand einzelner Figuren dargestellt, die, da sie Schuld auf sich geladen haben, in Leid geraten aber häufig auch solche, die schuldlos leiden.

Ausdrücke von Leid, Schmerz und Trauer kehren fast leitmotivisch im Roman wieder: Belacanes Schmerz, der zum Tode führt, Herzeloydes Trauer, nachdem sie vom Tod Gahmurets erfahren hat, ihr Schmerz beim Abschied von Parzival, Sigunes Trauergebärden, die Trauerrituale der Gralsgemeinde, um nur einige zu nennen. Aber auch das weinen der Orgeluse (Pz. 602, 18), mit dem Anteilnahme am Geschick Gawans signalisiert wird, ist als besonders relevante Aussage zur Emotionsdarstellung gesehen worden, wie Tränen überhaupt, etwa das Weinen der Condwiramurs an Parzivals Bett, oder auch die nicht artikulierbaren kindlichen Emotionen Parzivals beim Gesang der Vögel in Soltane. Dazu kommen alle auf Liebe bezogenen sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen der Figuren, wozu natürlich auch Eifersucht (Orilus-Jeschute) gehört, genauso wie Trost auf Grund von körperlicher Nähe (nach der ersten vorehelichen Nacht von Parziwal und Condwiramurs), oder Feirefiz´ Liebeswahn am Ende des Parzival. [Dallapiazza 2009: S. 126]

Es folgt eine Darstellung einzelner Figuren, die innerhalb des Romans in Leid verfallen. Vor allem soll aber das Leid des Protoagonisten Parzivals und seine persönliche Entwicklung durch das Leid analysiert werden.


Gahmuret

In der Vorgeschichte wird Gahmurets Leid dargestellt. Durch den Tod des Vaters wird er seines Landes sowie seiner Herrschaft beraubt und vertrieben (5, 1-30). In der Ferne versucht er sich in ritterlichen Kämpfen zu bewähren, findet dort jedoch den Tod. Dies stürzt seinen Bruder in Leid, da er ihn zurückhalten wollte. Auch den Frauen Belacane und Herzeloyde bringt er Leid, das Leid der Minne und der Trauer, da er beide verlässt. Belacane verlässt er des Nachts heimlich aus Sehnsucht nach Abendteuern (54,18f). Er hinterlässt ihr einen Abschiedsbrief, in welchem er die Trennung aufgrund der unterschiedlichen Konfessionen begründet. [4] Die Trennung bricht Belacane das Herz (57, 11-12).

Herzeloyde

Herzeloydes Leid beginnt mit dem Tod ihres geliebten Mannes Gahmuret (110, 2-9). In Kummer und Klage versunken zieht sie sich zusammen mit ihrem Sohn in die Waldeinsamkeit zurück und nimmt das Leid auf sich: (116, 28-30)

frou Herzeloyde diu rîche Die edle Herzeloyde, die Königin,
ir drîer lande wart ein gast: verbannte sich selbst aus ihren drei Reichen,
si truoc der freuden mangels last. sie nahm auf sich die Last des Mangels an allen guten Dingen.

Als Parzival jedoch loszieht um Ritter zu werden, wird das Leid für sie unerträglich. Sie stirbt schließlich an ihrem gebrochenen Herzen. (128, 18-22)

dô si ir sun niht langer sach Als sie ihren Sohn nicht mehr sah,
(der reit enwec: wemst deste baz?), der ritt davon - es wird ihm doch keiner je weiter, je besser nachrufen? -,
dô viel diu frouwe valsches laz da also fiel die Dame, die sich niemals hergab zu untreuen Dingen,
ûf die erde, aldâ si jâmer sneit zur Erde nieder. Und es ging der Schmerz mit Messer über sie hin:
sô daz se ein sterben niht vermeit. So konnte sie dem Sterben nicht entkommen.

Sigune

Sigune leidet unter dem Tod ihres Geliebten Schionatulanders (141, 11-24). Er starb in einer Tjost, welche sie von ihm als Minnedienst forderte. Ihr Leid erhält einen Sinn, da sie ihre Forderung als maßlos ansieht und die Schuld für den Tod ihre Geliebten auf sich läd. Sie begiebt sich in Buße, Läuterung und Sühne, verliert ihre Schönheit, lebt in Askese fernab der Gesellschaft in tiefem Jammer und Leid versunken. Ihr Leid und ihre Klage werden im neunten Buch religiös konnotiert, da sie ihr Leid und Leben sukzessive an den Toten angleicht. In der Vereinigung mit dem Geliebten wird ihr Leid schließlich vollendet, sie findet Ruhe im Tod. [Mertens Fleury 2006: S.160-162]

Jeschute

Parzival treibt Jeschute ins Unglück, da er aus "tumpheit" den Auftrag seiner Mutter ausführt. Er beraubt sie ihres Ringes, ihrer Brosche uns eines Kusses. Parzivals Vergehen an Jeschute bewirkt die Demütigung durch ihren Ehemann Orilus (136, 23 - 137, 4). Diesem ist allerdings nicht bewusst, dass seine Gattin nicht willentlich Ehebruch beging, sondern von Parzival genötigt wurde. Wolfram beschreibt, dass Jeschute ihr Leid demütig trägt (137, 20-26), somit von Gott wieder aufgenommen wird und sich ihr Leid in große Freunde umwandelt. Jeschutes Leidensweg ist einer der Belege dafür, dass für Wolfram das Leid nicht auswegslos ist. Der Mensch kann durch den Glauben an Gott durch Gottes Gnade von seinem Leid erlöst werden. Er stellt immer wieder eine christliche Lösung für das Leid dar.

Gurnemanz

In der Figur Gurnemanz stellt Wolfram eine Form des leidvollen menschlichen Daseins dar. [Maurer 1969: S. 118] Gurnemanz leidet an der Trauer um seine drei verstorbenen Söhne und deren Mutter, welche der Verlust der Söhne selbst zum Tode führte (177, 27- 178, 26). Parzival bringt Gurnemanz weiteres Leid. Er hoffte nämlich auf die Vermählung seiner Tochter und Parzivals und sah deshalb Parzival bereits als seinen Sohn an. Da dieser jedoch Liaze nicht zur Frau nimmt, bedeutet dies für Gurnemanz den Verlust eines weiteren Sohnes:

dô sprach der fürste ûz triwe erkorn Es sprach der Fürst, der Treueste unter den Treuen:
`ir sît mîn vierder sun verlorn. "Ihr seid mein vierter Sohn, den ich verloren habe.

(177, 13-14)

Condwiramurs

Obwohl Parzival Condwiramurs von ihrem Leid durch die Belagerung befreite, stürzt er sie bald darauf erneut ins Leid. Er heiratete Condwiramurs und verließ sie weniger Tage nach der Hochzeit wieder um auf Abenteuerfahrt zu gehen. Sie leidet sehr unter der Trennung von ihrem Mann. Doch nicht nur Condwiramurs leidet unter der Trennung, auch Parzival sehnt sich nach seiner Ehefrau. Diese Sehnsucht quält ihn sehr: "got wil mîner freude niht. diu mich twinget minnen gir" (Parzival, 733,8-9).[Pratelidis 1994: S. 191]

Anfortas

Anfortas muss leiden, da er sein Leben nicht in "kiusche" verbrachte. Gerade er als Gralsskönig wäre jedoch zur Befolgung dieser ethischen Forderung in höchstem Maße verpflichtet gewesen. Sein immenses Leid folgt aus dieser Sünde:

ez was worden wette Die beiden waren fertig miteinander:
zwischen im und der vröude: er und das Glück.
er lebte niht wan töude. Sein Leben war nur mehr ein Sterben.

(Pz. 230,18-20)

Sein Leid ist so groß, dass es sogar auf die ganze Gralsgesellschaft übergreift. Als Parzival auf Munsalvaesche gelangt, bietet sich ihm ein Bild von "nôt" und "jâmer".


Parzivals Leid

Parzival ist von Geburt an mit Leid konfrontiert. Auf seinem Weg begegnet er Leid, verursacht und behebt es. Bereits in seiner Kindheit erlebt er das Leid seiner Mutter Herzeloyde, die in tiefer Trauer um ihren Gatten Gahmuret ist. Auch sein Rittertum ist gezeichnet von Begegnungen mit dem Leid. Als er auf Jeschute trifft, fügt er ihr Leid zu, indem er sie durch den Raub ihres Ringes und einen Kuss entehrt. Orilus fügt Jeschute daraufhin körperliche Gewalt zu und erniedrigt sie öffentlich. Indirekt ist Perzival auch für dieses Leid Jeschutes verantwortlich. Durch den Mord an seinem Verwandten Ither bringt er wiederum Leid in die Welt. Er tötet Ither und löst dadurch tiefe Trauer bei den Frauen am Artushof aus. Wiederum verursacht Parzival zunächst direkt Leid in Form des Mordes und indirekt in der Wirkung seiner Tat, die sich als Trauer um den Verstorbenen äußert. In den folgenden Begegnungen wird ihm Leid vorgeführt. Zuerst durch seine Cousine Sigune, welche sich in tiefem Jammer und Trauer um ihren Geliebten Schionatulander befindet und ein weiteres Mal durch Gurnemanz, der um seine verstorbenen drei Söhne und seine Frau trauert. Parzival wiederum bringt Gurnemanz Leid, da er seine Tochter Liaze nicht zur Frau nimmt und somit nicht der von Gurnemanz ersehnte neue Sohn für ihn wird. Auf Munsalvaesche begegnet er unterschiedlichen Ausdrucksformen des Leids. Anfortas beispielsweise leidet aus Sünde, es ist ein Leid als Strafe für die mangelnde "kuische", welche einen Verstoß gegen die höchste ethische Forderung der Selbstbeherrschung ist. Auf der Gralsburg herrscht allerdings allgemein eine drückende, stumme Trauer und weitverbreitet ist der Kummer unter den Rittern und der Gralsgesellschaft. Dieser Kummer ist Ausdruck des Mitleids gegenüber Anfortas, der sich aufgrund seiner Sünde in tiefem Leid befindet. Zu diesem Leid schweigt Parzival, genau dies wird ihm zum Verhängnis und er stürzt selbst in tiefes Leid. Jedoch wird der Vorwurf an Parzival, er habe in diesem Moment kein Mitleid empfunden, von Wolfram entkräftet. Dieser schreibt, Parzival habe sich deshalb nicht getraut zu fragen, da er sich der Lehre Gurnemanz´ erinnerte, die ihm das tölpelhafte Fragen untersagte.

durch zuht in vrâgens doch verdrôz. doch wollte er nicht ungezogen sein und scheute sich deshalb zu fragen.
er dâhte ´mir riet Gurnamanz Er dachte: >Gurnamanz
mit grôzen triwen âne schranz, hat mir beigebracht - er ist mir gut und seine Treue ohne Scharte -,
ich solte vil gevrâgen niht. daß ich nicht viel fragen soll.

(Pz. 239,10-13)


Katharina Mertens Fleury merkt hierzu an, dass bei Parzival höfische zuht und affektive Leidenspartizipation miteinander in Spannung stünden. Zwar empfinde er Mitleid, hielte sich aber gehorsam an die Lehre Gurnemanz. Überdies habe er bisher erfahren, dass seine Neugierde bisher immer durch die Erklärung gestillt wurde. So hat Gurnemanz ihn über seine Trauer aufgeklärt und auch Condwinamur berichtete über das Leid auf Pelrapeire. Katharina Mertens Fleury schließt daraus, dass Parzival damit rechnet noch über den Leidenszustand aufgeklärt zu werden. Er stelle die Frage nicht aus mangelndem Mitleid, sondern aus mangelnder Erfahrung mit dem Leid. [Mertens Fleury 2006: S.148]

Durch das Frageversäumnis gelangt er selbst in weiteres und tieferes Leid. Bereits in der Nacht verfolgen in schwere Träume, welche ihm vorausdeuten, dass in Leid erwartet, welches er bisher nicht kannte.

Parzivâl niht eine lac: Parzivâl lag nicht alleine;
geselleclîche unz an den tac mit ihm in seinem Bett war bis zum Morgen
was bî im strengiu arbeit. die böse Qual

(Pz. 245,4)


„Es sind Leiden, deren Ursache Parzival bei sich selber suchen muss, und das schmerzt tiefer als angetanes Leid.“ Maurer spricht bei dem folgenden Leid vom Leid der Entehrung. [Maurer 1969: S. 119] Es trifft ihn schwer, da er gerade begonnen hatte das Leid, welches er ihnen angetan hatte, durch di Versöhnung Orilus´ und Jeschtues wieder gutzumachen. Zunächst erfährt er dies durch Sigune, welche ihn für sein mangelndes Mitleid gegenüber Anfortas anklagt und kurz darauf verflucht ihn Cundrîe öffentlich für seine "untriuwe", sein mangelndes "erbermen" und unterstellt ihm, Schande über den Artushof zu bringen. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt als Parzival gerade zu höchster Ehre emporgestiegen ist. Die Worte Cundrîes und Sigunes berauben ihn seiner Ehre und er stürzt in tiefes Leid. Da er sich seines Versagens nicht bewusst ist, sich zu Unrecht angeklagt fühlt, verfällt er in Trotz und "zwîvel". Dieser "zwîvel" verhärtet sich als Gawan ihm Gott als Trostspender vorschlägt. Er beginnt über Gott zu lästern und sagt ihm schließlich die Feindschaft an. Die Folge des schweren Leidens der Entehrung ist somit die Absage an Gott. Wolfram stellt dadurch Parzivals falsches Gottesbild dar, sein mangelndes Vertrauen in die Gnade Gottes. Die Gotteslästerung, der Trotz gegen ihn und die Absage an Gott sind nach christlichem Verständnis Sünde. Wolfram zeigt, dass tiefes Leid zu Sünde führt und dies ist eine bewusste und willentliche Schuld, welche nun auf Parzival lastet. Nach der Belehrung Trevrizents bekennt sich Parzival seiner Schuld und die "schame" verhindert, dass er völlig in Sünde verfällt. Wolfram zeigt hier einen Ausweg aus dem Leid, welches durch Sünde verschuldet wurde. Es ist der Weg der Umkehr durch "kiusche" und "schame". Parzival erfährt durch "riuwe" die Gnade Gottes und wird somit von seinem Leid erlöst. [Maurer 1969: S. 120]

Vergleich mit Gawans Leid

Maurer betrachtet im Vergleich Gawan Umgang mit der Entehrung. Auch er wird kurz nach Parzival von Kingrimursel öffentlich entehrt. [Maurer 1969: S.121] Er habe, so Kingrimursel, die Gesetze des Rittertums verletzt und soll sich dafür in einem Gerichtskampf verantworten (321, 1-30). Maurer stellt fest, dass die Reaktion Gawans sich von der Parzivals unterscheidet. Gawan macht sich auf, seinem Beleidiger entgegenzutreten. Sein Weg dorthin wird ihm allerdings durch mehrere Kämpfe und Âventiuren erschwert. Anhand der Gawan-Partie (Buch VII und VIII) stellt Wolfram wiederum "die beiden Seiten menschlicher Existenz: Ehre und Leid" dar. [Maurer 1969: S. 121] Besonders in Buch VIII, so Maurer, sei die Niederlage Gawans stark betont, allerdings stelle Wolfram ein Leid auf ganz anderer Ebene dar. Gawan leide unter Misserfolg in der Minne sowie an Kampfnot. Anzumerken ist hierzu jedoch, dass das kurze Liebesverhältnis zu Obilot im siebten Buch schließlich der jungen Frau Leid bereitet, da Gawan sie, die bittere Tränen weint, verlässt (397, 15-19). Dagegen ist die Begegnung mit Orgeluse im zehnten Buch und Gawans Werben um sie gezeichnet von Enttäuschung und Leid Gawans, da Orgeluse Gawans Bemühungen um sie mit Spott und Schmähungen beantwortet. Anders als Parzival verzweifelt er nicht an seinem Leiden, sondern erkennt, dass er sich unterwerfen und das Leid auf sich nehmen muss. Maurer stellt die These auf, dass ein Sinn der Gawanhandlung darin läge, ein Ebenbild das Verhalten Parzivals dazustellen um somit Parzivals Umgang mit dem Leid in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Überdies markiere das kurzzeitige Verschwinden Parzivals aus der Handlung die neue und völlig andere Art des Leidens, welches von da an beginne. [Maurer 1969: S.121] Wolfram stellt in der Figur des Parzivals das Erleiden nicht verschuldeten Leides, welches somit als Entehrung empfunden wird, dar. Sein Leid in der Minne ist geprägt von der Sehnsucht nach Condwiramurs. Auf dieses Leid reagiert Parzival, wie bereits dargestellt, impulsiv und sehr emotional. [5] Im Vergleich zu Gawan wird deutlich, dass Gawan von Wolfram als der erfahren Ritter dargestellt, welcher wohl reflektiert und ehrenhaft handelt, wohingegen Parzival als junger unerfahrener Ritter noch vieles Lernen muss. Dieses Erlernen ist aufgrund seiner "tumpheit" allerdings oft gekoppelt an Leid. Es wird deutlich, dass Parzival und Gawan das Leid in unterschiedlichen Lebenssituationen und Entwicklungsstufen trifft. Dies wiederum bedingt den unterschiedlichen Umgang der beiden Helden mit dem Leid.

Das geistige Leid Parzivals

Mit Parzivals Leid, welches Wolfram in seinem Werk mit besonderer Genauigkeit darstellt, beschreibt er kein körperliches Leiden, sondern das geistige. Anhand Parzivals Weg stellt er die Ursachen, das Verhalten im Leid, die Reaktion auf das Leid und die Möglichkeit der Erlösung von Leid dar.

Maurer ist der Ansicht, Wolfram hebe den prozessualen Charakter des Leids hervor, da er beschreibe, wie das Leid den Menschen fördere, ihn reifer mache und ihn zu Erkenntnissen und Einsichten führe, die ihm vor der Leiderfahrung fehlten. Auch erkennt Maurer einen christlichen Sinn in Wolrams Darstellung des Leids. Diesen sieht er darin, dass Parzival erst nachdem er sich demütig in sein Leid ergeben hat und für seine Sünden büßt zu Gottes Gnade und höchster Freude und Ehre gelange. Auch beruft sich Maure auf Trevrizent, der diese Buße und Sühne der Sünden als den Willen Gottes darstellt.[Maurer 1969]

Das für den Leidensweg Parzival zentrale Moment ist das Frageversäumnis gegenüber Anfortas. Er schweigt gegenüber dessen Leid, woraufhin er entehrt wird, in "zwîvel" gerät und sich schließlich von Gott abwendet. Ihm wird vor allem von Cundrie vorgeworfen gegenüber Anfortas´ Leid kein Mitleid gezeigt zu haben. Es stellt sich die Frage, ob Parzivals Leiden auch eine Form des Mit-Leidens darstellt, beziehungsweise in welcher Beziehung das Leiden Parzivals zu Anfortas Leid steht. Siegfried Grosse bemerkt dazu, dass "erbarmen" im Parzival eine wichtige Rolle spielt. Bei seiner Untersuchung findet er 19 Belege für "erbärmen" im Parzival. [Grosse 1952: S. 195f]

Ingrid Hahn untersucht die Frage, ob Parzival es tatsächlich aus mangelndem Mitleid versäumte, die Erlösungsfrage zu stellen. Sie sieht die Bedingungen der Leidensinteraktion im Wechselverhältnis von Erkennen und Erfahren, da im zwischenmenschlichen Verstehen ebenfalls eine solche innere Erkenntnis und Erfahrung voran gehen müsse. Somit sei Parzival zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage die Erlösungsfrage zu stellen, da es ihm persönlich an Erfahrungen mit dem Leid mangle. Erst die Erfahrung des eigenen "kumbers", welcher aus Sünde und Leid erwachse, ermögliche das Verständnis Anfortas´ Leids. [Hahn 1975: S. 223f]

Auf ähnliche Weise betrachtet Dennis H. Green den Leidensweg Parzivals. Er betrachtet ihn als Prozess von "tumpheit" zu "wîsheit" und erklärt somit, dass das Erkennen des Leidens anderer nur mit dem Wissen um den eigenen Zustand möglich sei. Dennis H. Green sieht hierin eine christliche Motivation, denn die Erkenntnis des eigenen Leids in Demut sei die Grundlage für das Mitleid sowie für den Weg zu Gott. [Green 1982: S. 293ff]

Folgt man diesen Thesen so lässt sich behaupten, dass Parzival auf Munsalvaesche zu dem Leid Anfortas zwar aus mangelndem Mitleid schwieg, jedoch nicht, weil er ein schlechter, sündhafter Mensch ist. Er ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage Mitleid in richtigem Maße zu empfinden, da es ihm an persönlichen Erfahrungen und innerer Erkenntnis mangelt. Erst durch die Lehre Trevrizents wird er von seinen Sünden, die er aufgrund seiner tumpheit unbewusst und nicht willentlich auf sich lud, erfahren und durch Reue und Sühne innerlich reifen. Dadurch gelangt er zu dem wahren Gottesbild und wird durch diese innere Wandlung von seinem Leid erlöst. Fraglich ist allerdings, ob sich Wolfram der christlichen Überzeugung seiner Zeit anschließt, welche im Leid eine Prüfung Gottes sah, durch welche der Mensch zu einer höheren und reiferen Daseinsstufe gelangen soll. In der Darstellung Wolframs ist das Leid allseits gegenwärtigen und erhält ständig eine christliche Rechfertigung. Unklar bleibt, ob darin möglicherweise eine vorsichtige Auflehnung Wolframs zu erkennen ist, der hier die Vorstellung eines strafenden Gottes, der Leid über die Menschen bringt, in Frage stellt.

Quellennachweise

  1. Alle folgenden Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. An dieser Stelle ist auf den Artikel Schuld, Sühne und Erlösung (Wolfram von Eschenbach, Parzival) hinzuweisen. Er untersucht inwieweit man in diesem Fall von Parzivals Schuld sprechen kann.
  3. Es sei an dieser Stelle verwiesen auf die Artikel Sigune (Wolfram von Eschenbach, Parzival) und Die Gralsbotin Cundrîe (Wolfram von Eschenbach, Parzival), in welcher die Verfluchung Parzival näher untersucht wird.
  4. Inwiefern diese Begründung als reine Ausrede gewertet werden kann wird in dem Artikel Die Beziehung zwischen Gahmuret und Belacane (Wolfram von Eschenbach, Parzival) genauer untersucht.
  5. An dieser Stelle ist auf die Blutstropfenszene zu verweisen, in welcher Parzival in einen Trancezustand gerät, nachdem ihn drei Blutstropfen im Schnee an Condwiramur erinnerten. Auch ist auf Parzivals Abkehr von Gott zu verweisen, von dem er sich verlassen fühlt

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Forschungsliteratur

[*Mertens Fleury 2006] Mertens Fleury, Katharina: Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im ,Parzival` Wolframs von Eschenbach, Berlin 2006.

[*Maurer 1969] Maurer, Friedrich: Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte besonders in den großen Epen der Staufischen Zeit, München 1969.

[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Achte Auflage, Stuttgart 2004.

[*Dallapiazza 2009] Dallapiazza, Michael. Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin 2009.

[*Grosse 1952] Grosse, Siegfried: Der Gedanke des Erbarmens in den deutschen Dichtungen des 12.und des 13. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1952.

[*Hahn 1975] Hahn, Ingrid: Parzivals Schönheit. Zum Problem des Erkennens im Parzival, in: Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter Bd2, München 1975.

[*Green 1982] Green, Dennis H.: The Art of Recognition in Wolframs´s Parzival, Cambridge 1982.

[*Pratelidis 1994] Pratelidis, Konstantin: Tafelrunde und Gral, Die Artuswelt und ihr Verhältnis zur Gralswelt im "Parzival" Wolframs von Eschenbach, Würzburg 1994.