Rual li Foitenant (Gottfried von Straßburg, Tristan)

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Rual li Foitenant ist Marschall am Hofe von Kanoel und Ziehvater Tristans. Er ist verheiratet mit Floraete und Vater von zwei leiblichen Söhnen, die in der Erzählung jedoch nicht namentlich erwähnt werden.

Ruals Rolle in der Tristanerzählung

Rual kommt in der Erzählung eine wichtige Rolle zu. Er übernimmt nach Riwalins Tod die Fürsorge über dessen neugeborenen Sohn (V. 1823/24). Rual ist es auch, der Tristan seinen Namen gibt ([...] sô nenne wir in Tristan, V. 1998). Rual verschleiert vorerst Tristans Abstammung, da er Angst hat, Morgan würde Tristan töten wollen, wenn dieser von Tristan erführe (der getriuwe tete ez umbe daz: / er vorhte Morgânes haz, V. 2031/32) Er ist wie ein Vater für den jungen Tristan, auch nachdem dieser seine wahre Abstammung erfährt.

Äußerliche Beschreibung

Der Marschall von Kanoel wird in der Erzählung als an lîbe und an gebâre/ vollekomen unde rîch (V. 4032/33)[1] beschrieben. Sein Auftreten ist vornehm und höfisch anständig, seine Gestalt hünenhaft und herrlich gebaut. Ruals gesamte Erscheinung ist stattlich und edel, jedem Kaiser ebenbürtig: er was an rehter hêrschaft/ aller keiser genôz. (V. 4044/45) Allgemeine Bewunderung und Respekt werden ihm entgegengebracht.

Inbegriff der Loyalität

Rual li Foitenant wird eingeführt als der êren unde der triuwe ein habe,/ der nie gewancte an triuwen abe. (V. 1594/95), also ein Vorbild an Verlässlichkeit und Loyalität. Schon sein Name verdeutlicht dies: "li Foitenant" bedeutet "der Treue Haltende"[Hollandt 1966: 22] Der Erzählerkommentar Gottfrieds lässt zu keiner Zeit irgendeinen Zweifel an der Vortrefflichkeit und Unerreichtheit der vollkommenen Treue und Ehrenhaftigkeit des Marschalls. In unerschütterlicher loyaler Selbstverständlichkeit nimmt er den Waisenjungen Tristan als seinen Sohn auf und sorgt bis an den Rande der Selbstaufopferung für dessen Wohl und Sicherheit. Sein gesamtes Leben stellt er selbstlos in den Dienst seines jeweiligen Herrn, zunächst Riwalin, später Tristan. Gottfried schafft mit Rual - inklusive seiner Frau Floraete - eine Figur, die laut Erzähler an Loyalität in der ganzen Welt unübertroffen ist:

solt ieman ûf der erden
von triuwen halben werden
künic oder künigîn,
binamen daz möhten sî wol sîn,
als ich iu vin in beiden
waerlîche mag bescheiden, (V. 1811 - 1816).

Immer, wenn sein ihm anvertrauter Herr Tristan in Lebensgefahr zu stecken droht, macht er sich unmittelbar auf den Weg, um auf ihn aufzupassen. Dieses Versprechen hat Rual Riwalin gegeben und der Erzähler schreibt, Rual werde es auch niemals brechen, selbst wenn es seinen eigenen Tod bedeuten sollte.

Vaterfigur für Tristan

Aufopferungsvoll kümmert sich Rual um Tristan nâch vil vaterlîchem site (V. 2193), mehr als um seine leiblichen Söhne: sîner eigenen kinde/ was er sô vlîzec niht sô sîn. (V. 2186 f.). Er lässt ihm die beste Ausbildung zukommen, die man sich vorstellen kann. Schon im Alter von sieben Jahren schickt Rual li Foitanant Tristan mit einem Lehrer auf Reisen ins Ausland, damit Tristan andere Sprachen erlernt. Zudem lernt der Junge Reiten, Jagen, Kämpfen, höfische Gesellschaftsspiele und das Saitenspiel. Der Marschall steckt sein gesamtes Herzblut in die höfisch-ritterliche Allgemeinbildung des Kindes und zôch ez alsô schône,/ daz ime diu werlt ze lône/ der gotes genâden wünschen sol. (V. 2039-2041). Rual nimmt Tristan als seinen eigenen Sohn auf und ist dem Jungen ein fürsorglicher Vater. Sowohl vom Erzähler, als auch von Tristan selbst, wird Rual konsequent als vater[2] bezeichnet.[Zotz 2006: 97]

Als Tristan am Markttag in Kanoel von den norwegischen Händlern entführt wird, macht sich Rual ohne lange zu zögern auf den Weg, den verlorenen Sohn wiederzufinden:

Dan Rûal li foitenant
der schifte über mer zehant
mit michelem guote,
wan ime was wol ze muote,
ern wolte niemer wider komen,
ern haete eteswaz vernomen
endeclîcher maere,
wâ sîn junchêrre waere, (V. 3757 - 3764).

Über drei Jahre lang reist Rual unbeirrt von den großen Strapazen über Norwegen, Irland und Dänemark, bis er schließlich, auf Hinweis zweier Pilger hin, nach Cornwall kommt und Tristan in Tintajol letztlich wiederfindet. Bis an den Rande der Selbstzerstörung hat ihn seine lange Suche getrieben, er ist kraftlos, seine Haut ergraut und seine Kleidung zerschlissen und schäbig. Doch es heißt, Rual sei gerne bereit, alles in Kauf zu nehmen; und er wäre lieber gestorben, als auf ewig in Unwissenheit über Tristans Verbleib zu sein.

Als Rual Tristan von seiner Abkunft und seinen wahren Eltern erzählt, reagiert dieser mit den Worten: ich hoere mînen vater sagen,/ mîn vater der sî lange erslagen./ hie mite verzîhet er sich mîn. (V. 4367-4369). Tristan ist zunächst etwas beleidigt über das Geständnis Ruals. Er behauptet, der Marschall hätte ihm zwei Väter genommen und er müsse nun vaterlos sein. Später jedoch, nach der Rache an Morgan und vor seiner Rückreise nach Tintajol bezeichnet er Rual öffentlich wieder als seinen Vater (Vgl. V. 5799). Nachdem Tristan durch Rual von seinem leiblichen Vater Riwalin erfährt, muss Rual seine Vaterschaft für Tristan neu etablieren. [Zotz 2006: 100] Riwalin ist vergessen, Rual ist nun Tristans Vater.

Nicola Zotz behauptet allerdings, Tristans Verhältnis zu Rual und Floraete sei nicht sonderlich intensiv: „Eine starke Bindung an seine Zieheltern empfindet er nicht, [...]. Jedenfalls hat Tristan offenbar kein Interesse daran, Kontakt zu Rual und Floraete nach Parmenien aufzunehmen [...].“ Auch empfinde Tristan wegen der „schwachen Bindung an seine Eltern“ keinen Kummer bei seiner Entführung.[3]

Herrscher von Parmenien

Nachdem Tristan den Tod seines leiblichen Vaters Riwalin durch den Mord an Morgan gerächt hat, steht er vor einer schwierigen Entscheidung. Er hat nun zwei "Väter", an denen sein Herz hängt: seinen Ziehvater Rual, den er, nachdem er den Tod seines leiblichen Vaters gerächt und dieses Lehen somit ablegen kann, fortan als seinen Vater ansieht, und König Marke von Cornwall, seinen Onkel, der ihm sehr viel Ansehen und Wohltätigkeit entgegenbringt. Da er nicht in Parmenien bleiben kann, vermacht Tristan seinen gesamten Besitz seinem Vater Rual und bestimmt dessen Söhne als spätere Erben. Rual erhält Reich und Volk als Lehen und ist somit faktisch, in Stellvertretung für Tristan, Herrscher über Parmenien. Er tritt damit gewissermaßen ganz offiziell an die Stelle Riwalins. Nicola Zotz meint, an der Tatsache, dass sich Tristan zwischen der Herrschaft über Parmenien und dem Leben am Marke-Hof entscheiden muss, werde deutlich, dass Rual und Marke „als väterliche Bezugsperson für Tristan in Konkurrenz stehen“.[Zotz 2006: 96]

Tod

Bei Tristans zweiter Rückkehr nach Parmenien sind sein Vater und treuer Vasall Rual, sowie dessen Frau Floraete bereits gestorben und Ruals Söhne, die Tristan lange Zeit vorher als Erben bestimmt hatte, sind nun die Herrscher über das Land. Die genaue Todesursache der beiden ist nicht bekannt. Die Tatsache, dass Tristan ihren Tod nicht rächen muss, legt jedoch die Annahme eines natürlichen Ablebens nahe. Am Grab seiner Zieheltern hält Tristan noch eine Lobrede auf die beiden:

Rûâl und Floraete,
die got der werlt sô haete
gewerdet unde geschoenet,
sie sint ouch dort gecroenet,
da diu gotes kint gecroenet sint. (V. 18665 - 18669).

Deutung der Figur Ruals

Handlungsmotiv triuwe

Wie ist die Figur Rual li Foitenant in ihrer Bedeutung für die Tristanerzählung zu interpretieren? Auf den ersten Blick stellt sie eine von Gottfried gezielt positionierte Instanz der Treue und Loyalität dar. Gewissermaßen die personifizierte Verlässlichkeit. Ein Gegenpart zu all den Lügnern und Betrügern, Egoisten und Intriganten, welche sich sonst zu Hauf in der Erzählung tummeln. Er scheint tatsächlich der einzige Hauptcharakter mit einem reinen Herzen zu sein, der niemals lügt und der niemals an sein eigenes Wohl denkt, sondern nur an das seines Herrn. "Die selbstlose Treueleistung Ruals erscheint [...] als vasallistischer Dienst von einzigartigem Charakter."[Tomasek 1985: 78] Wenn Tristan nach Parmenien und zu seinem Vater Rual zurückkehrt, so findet er eine heile Welt vor, eine Welt der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe. Betrug ist im Hause des 'Treue Haltenden' ein Fremdwort. Alles, was er tut, geschieht "nur für das Wohl seines jungen Herrn"[Hollandt 1966: 26], wie Gisela Hollandt es formuliert. "[D]ie triuwe [ist] alleiniger Maßstab des Handelns".[Hollant 1966: 26] In der Tat sollten beim Rezipienten nicht die geringsten Zweifel an der Vorbildhaftigkeit von Ruals Auftreten bestehen. Und doch ist die grenzenlose Loyalität nicht das einzige Handlungsmotiv Ruals.

Handlungsmotiv Kontinuität

Tomas Tomasek erkennt in der extremen Beharrlichkeit Ruals, mit welcher er an seinen Prinzipien der bedingungslosen triuwe festhält, ein weiteres Handlungsmotiv, das bei der Eindeutigkeit des Erzählerkommentars zunächst nicht besonders ins Auge fällt: "Die Radikalität und Unbedingtheit der Treue Ruals aber, die [...] bis zur Grenze der Selbstaufgabe geht [...], sprengt das Maß des formalrechtlich Erwartbaren".[Tomasek 1985: 78] Was Tomasek damit meint ist, dass die rual'sche triuwe ein zu starkes Ausmaß erreicht, um als alleiniges Handlungsmotiv noch länger glaubwürdig zu sein. Deshalb ist eine zusätzliche, auf seinen tiefsten persönlichen Bedürfnissen wurzelnde, Motivation anzunehmen. Was nämlich ebenfalls stets in den Handlungen Ruals mitschwingt, ist "sein Streben auf Erhaltung der geblütsrechtlichen Kontinuität in Parmenie."[Tomasek 1985: 79] So besteht er beispielsweise sofort auf einer Heirat seines Herrn Riwalin mit der schönen Blanscheflur, um zu verhindern, dass deren gemeinsames Kind unehelich zur Welt kommt: und râte zwâre, daz ir ê/ ze kirchen ir geruochet jehen,/ da ez pfaffen unde leien sehen,/ der ê nach cristenlîchem site. (V. 1630 ff.). Ebenso zielt sein Rat an Tristan, er möge sich von König Marke zum Ritter schlagen lassen, auf das Bewahren der Kontinuität. Nur so ist gewährleistet, dass Tristan das Erbe seines Vaters in Parmenien antreten kann und sein junchêrre (V. 1903) wird, wie es vorgesehen ist. Diese Betrachtungsweise lässt Ruals Handeln in einem etwas eigennützigeren Licht erscheinen. Ist er Tristan nur deshalb um die halbe Welt gefolgt, um ihn als Thronerben von Parmenien wieder an seinen ihm zugedachten Ort zurückzubringen? Ist sein Handeln letztlich weit weniger selbstlos als zunächst angenommen? Und welche Intention verfolgt Gottfried mit dieser Darstellung? Tomasek jedenfalls kommt zu diesem Schluss: "Indem der Autor Tristans Entschluss zum Verlassen Parmeniens ausdrücklich gutheißt (5670 - 5680), wird die Norm adligen Kontinuitätsdenkens, an der Ruals Treue immer orientiert bleibt, deutlich relativiert."[Tomasek 1985: 79] D. h., Gottfried benutzt die Figur Ruals, um das hartnäckige Festhalten an bestimmten monarchischen Strukturen zu Problematisieren. Schlussendlich bleibt also auch die eigentlich einzige eindeutige Figur, der sprichwörtliche 'Fels in der Brandung', Rual li Foitenant, vom moralischen Infragestellen durch den Autor nicht verschont.

Literatur

  • Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Band 1-3. Stuttgart 1980.


  • [*Hollant 1966] Hollandt, Gisela: Die Hauptgestalten in Gottfrieds Tristan. Wesenszüge, Handlungsfunktion, Motiv der List (Philologische Studien und Quellen 30, 1966).
  • [*Tomasek 1985] Tomasek, Thomas: Die Utopie im >Tristan< Gotfrids von Straßburg. Tübingen 1985.
  • [*Zotz 2006] Nicola Zotz: „Vaterverlust oder Vatergewinn? Rual zwischen Riwalin und Marke“, in: Johannes Keller (Hg.), Das

Abenteuer der Genealogie: Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter, Göttingen 2006, S. 87-104.


Einzelnachweise

<references>

  1. Sämtliche in diesem Artikel zitierte Textangaben aus dem Tristan entstammen dieser Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Band 1-3. Stuttgart 1980.
  2. [Zotz 2006: 97], Nicola Zotz hat den Gottfriedschen Text auf das Wort vater hin untersucht und festgestellt, dass es 35 Nennungen gibt, die sich auf Rual beziehen, und 16, die sich auf Riwalin beziehen. Sie empfindet es in diesem Zusammenhang interessant, dass es Rual ist, „der von Tristan und dem Erzähler konsequent als vater bezeichnet wird [...]“.
  3. [Nicola Zotz: „Vaterverlust oder Vatergewinn? Rual zwischen Riwalin und Marke“, in: Johannes Keller (Hg.), Das Abenteuer der Genealogie: Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter, Göttingen 2006, S. 87-104, hier S. 93 und 101.]