Jungfräulichkeit im Parzival: Unterschied zwischen den Versionen

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[*Brunner 2008] Brunner, Horst: ''Artûs der wîse höfische man.'' Zur immanenten Historizität der Ritterwelt im 'Parzival'Wolframs von Eschenbachs. In: Brunner, Horst: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2008.
[*Brunner 2008] Brunner, Horst: ''Artûs der wîse höfische man.'' Zur immanenten Historizität der Ritterwelt im 'Parzival'Wolframs von Eschenbachs. In: Brunner, Horst: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2008.

Aktuelle Version vom 1. Mai 2024, 19:04 Uhr

Jungfräulichkeit wird im Parzival[1] unterschiedlich dargestellt. Wie wird Jungfräulichkeit gewertet und welche Bedeutung wird ihr im Parzival beigemessen? Insbesondere die Keuschheit wird hierbei eine zentrale Rolle spielen - warum wird ihr eine derart wichtige Bedeutung innerhalb der Gralswelt zugesprochen?

Bedeutung von Jungfräulichkeit

Im Gespräch mit Parzival spricht Trevrizent nicht nur Parzivals Sünden und deren Wiedergutmachung an, sondern auch was Jungfräulichkeit und Keuschheit innerhalb der erzählten Welt bedeutet:

mittelhochdeutsch Übersetzung
in der werlt doch niht sô reines ist, In der Welt gibt es nichts so reines
sô diu magt ân valschen list. wie eine Jungfrau ohne falsche Listigkeit.
nu prüevt wie rein die meide sint: Nun prüft wie rein die Mädchen sind.
got was selbe der meide kint. Gott selbst war Kind der Jungfrau.
von meiden sint zwei mennisch komn. Von Jungfrauen sind zwei Menschen entstanden.
got selbe antlütze hât genomn Gott selbst hat Gestalt angenommen
nâch der êrsten meide fruht: nach der Frucht der ersten Jungfrau,
daz was sînr hôhen art ein zuht. das war die Bildung seines hohen Geschlechtes. __________ (464, 23 - 30)

Trevrizent stellt mit dieser Aussage die Jungfräulichkeit einer Frau mittels der Abgrenzung von Bösartigkeit her: Das Epitom der Reinheit stellt die Jungfrau ohne hinterlistige Gedanken dar. Ihre Reinheit wird dadurch begründet, dass Gott (hier wahrscheinlich Jesus) selbst aus der Jungfräulichkeit entstanden ist und keinen geschlechtlichen Akt als Voraussetzung hat. Auch Adam, dessen Mutter die Erde ist, ist ohne geschlechtliche Fortpflanzung entstanden:

mittelhochdeutsch Übersetzung
diu erde Adâmes muoter was: Die Erde war Adams Mutter:
von erden fruht Adâm genas. Adam entstand aus der Frucht der Erde.
dannoch was diu erde ein magt: Dennoch war die Erde eine Jungfrau. __________ (464, 11 ff.)

Ebenso ist die Erschaffung Evas weiterhin keine Entjungferung, da Gott von Adâms verhe […] Even brach (463, 19). Erst von Adam und Eva kom gebürte fruht (463, 23). Jungfräulichkeit ist hier eine Wegnahme der Unschuld und der Freiheit von Bösartigkeit und eher ein abstrakter Begriff, der nicht auf den Akt der Defloration verweist. Die Defloration der Erde geschieht durch Kain, der seinen Bruder Abel tötet:

mittelhochdeutsch Übersetzung
dô uf die reinen erdenz bluot Da blutete es viel auf die reine Erde,
viel, ir magetuom was vervarn: ihre Jungfräulichkeit war vorüber:
den nam ir Adâmes barn. die nahm ihr Adams Sohn. __________ (464, 18 ff.)

An dieser Stelle lässt sich die Entjungferung zwar sowohl auf die Mutter Erde als auch auf Eva beziehen, jedoch bezieht sich Trevrizents Lehre auf die Entjungferung der Erde(vgl. 463, 25 f.). Mit der Defloration der Erde wird auch der nît hervorgebracht. Die Auslöschung der Jungfräulichkeit wird somit gleichgesetzt mit der Entstehung des Bösen, aber gleichzeitig normiert. Dies erklärt, warum in der mittelhochdeutschen Literatur häufig die innere Reinheit einer Frau anhand des Status ihrer Jungfräulichkeit gemessen wird.

Die Defloration als tatsächlich körperlicher Akt wird in Zusammenhang mit den Hochzeiten, insbesondere beim ersten Beischlaf von Belacâne und Gahmuret, aufgegriffen. Belacâne erlebt hier einen Entwicklung von magt zu wîp (45, 25). Weiterhin bemerkenswert ist, dass Belacânes Keuschheit als ein reiner touf (28, 9: reine Taufe) definiert wird; der Keuschheit wird somit eine christliche Konnotation auferlegt. Auch nach der Hochzeitsnacht von Parzival und Condwiramurs, in der sie keinen Geschlechtsverkehr hatten, weist der Erzähler daraufhin, dass die Königin immer noch maget ist und dass sie davon ausgeht, dass sie Parzivals wîp (202, 23) sei. Im Anschluss daran werden auch die normativen Zustände einer verheirateten Frau offensichtlich:

mittelhochdeutsch Übersetzung
dô gap im bürge unde lant Da gab ihm Burg und Land
disiu magetbaeriu brût: diese jungfräuliche Braut,
wand der was ir herzen trût. denn er war ihr von Herzen lieb. __________ (202, 26 ff.)

Der Geschlechtsverkehr nach der Hochzeit wird somit als gesellschaftliche Konvention anerkannt. Doch hierbei ist nicht immer die Defloration mitinbegriffen.

Cundrîe, die hässliche Gralsbotin, wird von der minne ausgeschlossen. Hier ist die Jungfräulichkeit eine von außen erzwungene Ausgrenzung aus der höfischen Welt.

Die Erbsünde

Trevrizent weist hierbei die Schuld für die Entstehung des Bösen Eva und Kain zu. Eva, die durch die Verführung der Schlange die Vestoßung aus dem Garten Eden verschuldet, gebiert Kain, der mit dem Mord an seinem Bruder die Jungfräulichkeit der Erde nimmt. Denn obwohl die Erde Adams Mutter ist, findet hier eine Geburt ohne Zeugung statt. Kains Vergehen defloriert die jungfräuliche Erde und bringt nît in die Welt:

mittelhochdeutsch Übersetzung
dô ûf die reinen erdenz bluot Als auf die reine Erde Blut fiel
viel, ir magetuom was vervarn: war ihre Jungfräulichkeit verloren,
den nam ir Adâmes barn. die nahm ihr Adams Kind. __________ (464, 18 ff.)

In Trevrizents Erzählung werden hier Genealogie, Jungfräulichkeit und die Entstehung des Bösen stark miteinander verknüpft. Dies wird weiterhin durch die Schilderung der Entstehung der Mischwesen Cundrîe und Malcrêatiure verstärkt. Der "Adamstöchtermythos" [Oster 2012] berichtet von den Töchtern Adams, die sobald sie fruchtbar und schwanger geworden sind, trotz der Warnungen ihres Vaters ihrer herzen gir (518, 28) folgen und Pflanzen zu sich nehmen, die ihren Ungeborenen Kindern schaden, so dass die menschen fruht verkêrten (518, 19). In dieser Erzählung wird auf die Verfehlung Evas angespielt. Bemerkenswert ist außerdem, dass obwohl im Parzival weibliche Verwandtschaft positiv dargestellt wird, die Sündhaftigkeit jedoch eine weibliche Eigenschaft ist.

Betrachtet man nun die Tatsachen, dass sexuelle Reinheit scheinbar nur bei Frau besonders wichtig ist - Parzivals sexuelle Unerfahrenheit wird nicht durchweg positiv betrachtet und Feirefiz rühmt sich mit seinen Minnebeziehungen - und die Schuldhaftigkeit der Erbsünden, so wird offensichtlich, dass die Sexualitätsvorgaben für Frauen rigider und strikter sind.

Sexualität in der Gralsfamilie

Der Keuschheit wird innerhalb der Gralsfamilie eine besondere Bedeutung beigemessen. Mit Ausnahme des Gralkönigs müssen sich alle Hüter des Grals der Keuschheit verpflichten. Doch nicht nur die tatsächlichen Hüter des Grales (z. B. Repanse de Schoye) sind durch ihre Keuschheit ausgezeichnet, sondern auch Sigune, die zwar zur Gralsfamilie, aber nicht zu den Hütern des Grals gehört ist eine Jungfrau. Die Missachtung dieser Tradition kann auch verheerende Folgen haben, wie Anfortas Leiden zeigt. Trevrizent selbst hat sich auch der Keuschheit verschrieben, um dem Bösen zu widerstehen. Hier gehört allerdings nicht nur die Abkehr von der minne dazu, sondern der Verzicht auf jegliche irdische Gelüste. Er verzichtet auf "môraz, wîn, und ouch dez prôt [...] vische [...] fleisch, [alles] swaz truüege bluot" (452) mit Gottes Hilfe. Obwohl Trevrizent unter diesem Verzicht leidet, kann er doch nur so dem Teufel widerstehen. Die Sexualität wird hierbei als verführendes Mittel dem Teufel zugeschrieben. Gahmuret, der in die Gralsfamilie nur einheiratet, bindet sich hingegen mehrmals. Nach der jeweiligen Hochzeitsnacht wird die eingegangene Verbindung durch die Frau verkündet. Beide Frauen werden jedoch auch von Gahmuret verlassen, worin sich seine vorweggenommene Rastlosigkeit bestätigt.

Warum wird der Jungfräulichkeit hier eine derart große Bedeutung beigemessen? Die Gralsgesellschaft legt besonderen Wert auf die Keuschheitsvorgaben des Grales. Gâwân, der nicht zur Gralsfamilie gehört, ist eindeutig promiskuitiver als Parzival. Doch nicht nur bei ihm wird flexibler mit Restriktionen umgegangen, auch Feirefîz ist freizügig mit seinen Affektionen. Erst wirbt er um Olimpîe und Clauditte, dann heiratet er die Heidenkönigin secundille, dier schließlich für die jungfräuliche Gralshüterin Repanse de Schoye verlassen will. Dass diese jedoch zuvor stirbt, kommt ihm zu Gute, da somit jegliche Besitzstreitereien verhindert werden. Außerdem fällt hier auf, wie Salama bemerkt, dass Feirefiz "prahlt und [sich] schmückt [...], dass er von Frauen begehrt wird [...]" [salama 2014: 23] . Feirefiz ist tatsächlich einzigartig in seinem Verhalten gegenüber seinen Eroberungen. Die Schilderung seines eher promiskuitiven Sexuallebens dient als Ehrgewinn. Salama kommt außerdem zu dem Schluss, dass "die Minne für ihn bedeutungsvoller als die Frage nach der Religion ist" [Salama 2014: 23]. Brunner verknüpft die unterschiedliche Wertung der jeweiligen Ritter an ihre Existenz als "vorarturische", "arturische" oder "außer-arturische" [Brunner 2008] Ritter an. Während "[d]ie ideologische Basis [des vorarturischen] [...] Daseins [...] von der Idee des Dienstes für die Minnerherrin, der ritterlichen Bewährung für sie, geliefert" [Brunner 2008: 41] und "durch Triebkräfte wie Vorsicht, Ruhmbegier, sexuelles Verlangen motiviert" [Brunner 2008: 43] wird, zeichnet sich die Motivation der Artusritter durch "da Einstehen, für diejenigen, die es nötig haben" [Brunner 2008: 43] aus. Außerdem werde durch Gurnemanz' Erziehung die Treue zur eigenen Ehefrau als Element der arturischen Welt hervorgehoben. Hierbei stellt er auch einen Vergleich zwischen Gahmuret und Feirefiz auf, der in ihrer Minnetätigkeit bei verschiedenen Damen beruht. Auch wenn Brunner Gâwâns Beständigkeit Orgeluse gegenüber als Indiz einer arturischen Verhaltensweise betrachtet, ignoriert Bruner die Tatsache, dass Gâwân mehrere Beziehungenzu anderen Frauen eingehen will und auch tatsächlich eingeht. An dieser Stelle macht sich eher eine Diskrepanz der Regelungen der arturischen und der Gralswelt auf: Während die Artusritter mehrere Beziehungen beginnen, ist der Gralsgesellschaft entweder die absolute Keuschheit oder die Monogamie vorgeschrieben.

Worin liegt die unterschiedliche Wertung einer ausgelebten Sexualität begründet? Auch im Parzival wird eine Unterscheidung zwischen Gottes- und Minneritter getroffen. Diese Grenze, die normalerweise eher zwischen Heiden und Christen getroffen wird, wird insbesondere durch das jeweilige Verhältnis zur Sexualität vertieft. Während die Gralsritter bestraft werden, weil sie gegen das Keuschheitsgebot verstoßen oder sich der Keuschheit verpflichten müssen, um dem Teufel zu widerstehen, können Gahmuret, Feirefîz und Gâwân ihre Sexualität mit all ihren Konsequenzen urteilsfrei ausleben. Die Verknüpfung mit der Keuschheitseinschränkung für den Gralsherrscher und der beständigen Suche nach minne ist eine Gegenüberstellung der Ziele der heidnischen und christlichen Ritter. Während das Ziel einer aventîure heidnischer Ritter nur darin besteht, minne zu finden, begeben sich christliche Ritter auf aventîure, um Gott zu dienen. Hierbei werden die beiden Weltauffassungen gegenüber gestellt und die heidnische Variante wird denunziert. Das Christentum wird als reine Opposition der heidnischen Verfahrensweise aufgebaut. In diesem Zusammenhang wird das Christentum auf- und das Heidentum abgewertet. Bisweilen wird auch das Heidentum als eine Verlockung des Teufels beschrieben, was nicht nur eine Nähe zur Verführungskraft des Teufels herstellt, sondern auch eine Abwertung gegenüber dem Christentum darstellt.

An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass es die Frauen sind, die unter den Beziehungen ihrer Männer leiden. Belacâne stirbt, nachdem sie von Gahmuret verlassen wurde, Sigune verliert ihre Schönheit und stirbt nach dem Tod ihres Geliebten und bereits die Möglichkeit, dass Jeschute Ehebruch begangen haben könnte, wird durch den Erzähler lächerlich dargestellt und sie leidet den Verlauf der Erzählung über unter den Vorwürfen. Parzivals Belästigung hingegen wird als Teil seines Entwicklungs- und Lernprozesses verstanden und nicht geahndet.

Fazit

Im Parzival wird eine Erklärung für den Zusammenhang von sexueller und tugendhafter Reinheit geliefert, während die Jungfräulichkeit insofern gendercodiert ist, dass sie primär eine Restriktion für Frauen ist, treffen die Keuschheitsvorgaben in der Gralsgesellschaft auf Männer und Frauen zu. Jungfräulichkeit wird außerhalb der Ehe positiv dargestellt, dennoch besteht eine Deflorationsnorm nach einem Eheschluss. Es wird eine starke Verbindung von weiblicher Jungfräulichkeit und Verwandtschaft hergestellt, die darauf aufbaut, dass die Sündhaftigkeit großteils der Gier der Frauen angelastet wird. Obwohl weibliche Verwandtschaft im Parzival durchweg positiv dargestellt wird, wird dieser Darstellung durch die Entstehung des Bösen widersprochen. Die Gralsgesellschaft unterscheidet sich als christlicher Verband von Heidentum und Artushof durch strenge Sexualrestriktionen, die die Reinheit sichern wollen. Als seperater Bereich sanktioniert sie sexuelle Freizügigkeit und Brüche mit Keuschheitsgelübden, wodurch die Gralsgesellschaft eine Aufwertung gegenüber Heiden und Artusrittern erhält.

Anmerkungen

  1. Es wird unter Angabe von Strophen und Verszahl zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.

Literaturverzeichnis

[*Brunner 2008] Brunner, Horst: Artûs der wîse höfische man. Zur immanenten Historizität der Ritterwelt im 'Parzival'Wolframs von Eschenbachs. In: Brunner, Horst: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2008.

[*Salama 2014] Salama, Dina Aboul Fotouh: Formen und Funktionen orientalischer Körper im Parzival Wolframs von Eschenbachs. in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 1, Berlin 2014.