Schuld, Sühne und Erlösung (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Schuld, Sühne und Erlösung sind im Parzival Wolframs nicht so eindeutig zu klären, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Jeder der Begriffe ( Schuld — Sühne — Erlösung) kann aus zumindest zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, die es herauszuarbeiten gilt.[1]

Einleitung

Die im Parzival Wolframs angelegte Handlungsstruktur scheint zunächst denkbar einfach, geradezu prototypisch. Der auserwählte und zunehmend anerkannte Held Parzival versagt in dem entscheidenden Moment, wird in aller Öffentlichkeit geächtet, stürzt in eine tiefe Depression, kämpft sich wieder hoch und besteht letzten Endes die große finale Prüfung und erlöst damit die Gesellschaft. Doch Wolfram wäre nicht Wolfram und Parzival wäre nicht so wirkungsmächtig rezipiert worden,[Bumke 2004: S. 255-258.] wenn nicht neben dieser oberflächlichen Handlungsebene mindestens eine weitere, tiefer schürfende Bedeutungsebene möglich wäre.[Brunner 2006: S. 38] Der Artikel setzt sich zum Ziel, in Abgrenzung zur – ebenfalls vollkommen berechtigten – offensichtlichen Handlung, jene subtiler und vager angelegte Deutungsebene herauszuarbeiten; alles unter der Trias: Schuld – Sühne – Erlösung.

Zur Frage der Schuld

Anfänglich scheint die Sachlage klar und eindeutig. Parzival kommt zum Gral nach Munsalvaesche, tritt vor Anfortas und – versagt: Er versäumt es, die Mitleidsfrage zu stellen. Für dieses Scheitern Parzvials können mindestens zwei Gründe angeführt werden:

  1. Parzival lädt in mehrerlei Hinsicht Schuld auf sich: Tötung Ithers, Schändung Jeschutes, Tod der Mutter[Schu 2001: 253-255.][2]
  2. Parzival legt Gurnemanz‘ Lehren zu dogmatisch aus

Um dieses vermeintliche Versagen Parzivals zu relativieren, bedarf es einer intensiveren Betrachtung der Herkunft Parzivals:

Seinen Ausgang nimmt die eigentliche Parzivalhandlung damit, dass seine Mutter, Herzeloyde, ihn nach seiner Geburt von jeglicher «höfischen» Welt fernhalten will. Sie erzieht ihn fernab der Zivilisation in einem Wald. Dort genießt er weder eine Ausbildung in ritterlichen Tugenden, wovor ihn seine Mutter ja bewusst schützen will, noch ist ihm eine ernstzunehmende religiöse Erziehung vergönnt. Auf seine Nachfrage, was Gott sei, vermittelt ihm seine Mutter nur ein kindlich-naives Bild von Gott:

» sun, ich sage dirz âne spot.

__________

„Mein Sohn, ich will’s dir sagen,

er ist noch liehter denne der tac,

__________

ganz im Ernst: Er ist noch heller

der antlitzes sich bewac

__________

als der Tag; Er macht sich

nâch menschen antlitze.

__________

zum Ebenbild des Menschen.

sun, merke eine witze,

__________

Und merke dir die Lehre, Sohn:

und flêhe in umbe dîne nôt:

__________

bete zu Ihm in der Not.

sîn triwe der werlde ie helfe bôt. « 

__________

Schon immer stand Er zu den Menschen..“ [3]


Die unzureichende und defizitäre Erziehung Parzivals allein reicht aber nicht aus, um die Frage der Schuld aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.[4] In diesem Kontext ist es interessant zu sehen, wie Parzival nach Munsalvaesche, also zum Gral, gelangt.


»mit gewalt den zoum daz ros __________ „Sein Roß ließ er wild die Zügel schleifen
truog über ronen und durchez mos: __________ über Stämme und durch Sumpf
wandez wîste niemens hant. « __________ es war da keine Hand die lenkte.“ [5]


Hatte er zuvor noch Condwirarmurs gebeten, ihm „urloup“ zu gewähren, damit er seine Mutter besuchen kann, so überlässt Parzival beim Losreiten bewusst seinem Pferd die Zügel.[6] Durch das engmaschige und eigentlich undurchdringbare Netz von Verteidigungsposten um die Gralsburg herum gelangt Parzival also unversehrt nach Munsalvaesche – wie auch später (Vgl. Anm. 4) lässt sich hinter der Lenkung des Pferdes eben doch Gottes langer Arm vermuten: Parzival wurde bewusst zum Gral berufen; er ist eben nicht zufällig vorbei geritten. Für die Frage der Schuld ist das ein nicht zu überschätzender Sachverhalt, entscheidet doch bewusst eben jene transzendente und unfehlbare Instanz,[Bumke 2004: S. 141f.] dass der Gralsritter auch zum Gral gelangt.[Brall 1983: S. 254f.] Es wird demnach jemand berufen, der aufgrund seiner defizitären Erziehung und seiner mit Sünden beladenen Seele letztlich vor dem Gral überhaupt keine Chance auf Erfolg haben kann. Pointiert könnte man feststellen: Der Gral beruft den Richtigen zur falschen Zeit und ist am Scheitern selbst schuld.[Knaeble 2011: S. 297][7][Schu 2001: 290; 297.][Blank 1971: S. 140.][8] [Brall 1983: S. 262.][9]

Zur Frage der Sühne

Parzival kommt zu Trevrizent (UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, Bd. 2, Bl. 335r.)

Nach dem vermeintlichen Versagen Parzivals und seiner öffentlichen Ächtung am Artushof durch Cundrîe ist Parzival also gezwungen seine „êre“ wiederherzustellen. Hinzu kommt, dass er sein Verhältnis zu Gott klären muss, nachdem er sich zwischenzeitlich vollständig von diesem losgesagt und die Theodizeefrage gestellt hatte (siehe auch Hauptartikel: Parzivals Gottesbild). Wiederum scheint auf den ersten Blick alles klar. Parzival erringt großartigen ritterlichen Ruhm, klärt sein Gottesbild beim frommen Einsiedler Trevrizent und wird anschließend zum Gral berufen – jetzt erfolgreicher als im ersten Anlauf. Doch diese „innere Umkehr“ Parzivals wird in der neueren Forschung mit Recht immer wieder angezweifelt.[Dallapiazza 2009: S. 92][Bumke 2004: S. 131f.] Parzival dringt nicht zu einem Zustand der Erkenntnis seiner Verfehlungen durch, sondern bekommt sie lediglich vorgehalten. Nachdem ihm Trevrizent seine Sünden anlastet (vgl. 499,20 [10]), äußert sich Parzival mit keinem Wort dazu. Auch der Erzähler enthält sich jeglichen Kommentars. "Was er von den theologischen Ausführungen verstanden hat", [Bumke 2001: S. 360] bleibt also im Ungewissen. Er benötigt hingegen immer wieder Figuren (Gurnemanz, Sigune, Cundrîe, Trevrizent…), die ihm seine Fehltritte aufzeigen. Eine Gabe zur Reflexion weist der Gralsritter bis zuletzt nicht wirklich auf. Allein die Reflektion seiner Verfehlungen durch Personen aus seinem Umfeld scheint aber nicht auszureichen; er muss auch immer wieder darauf hingewiesen werden, wie er sich ein zweites Mal vorm Gral zu verhalten habe. Zu einem selbstbestimmten und aus sich selbst erfolgreichen Grals-Ritter wird Parzival jedenfalls nicht – er bleibt bis zuletzt die von der Gesellschaft indoktrinierte und determinierte Erlöserfigur.

Zur Frage der Erlösung

Parzival gelingt es im zweiten Anlauf nun endlich die Mitleidsfrage zu stellen: Er besteht vor dem Gral. Anfortas und die Gralsgesellschaft können aufatmen – der leidende Gralskönig wurde geheilt und damit die Gesellschaft von ihrem Übel befreit. Doch diese Sichtweise scheint bei eingehenderer Betrachtung zu beschränkt und wird auch von Wolfram nur in einem bezeichnend kurzen Abschnitt abgehandelt (vgl. Pz. XVI, 796, 3-15). Der große Rest des sechzehnten Buches widmet sich eben nicht Anfortas, seinen geheilten Leiden und die damit einhergehende Erlösung der Gesellschaft — ganz im Gegenteil: Der Geheilte tritt völlig in den Hintergrund.[Dallapiazza 2009: S. 77f.] Der eigentlich Erlöste ist der Erlöser selbst. Er hat sich von seinem Versagen der ersten Begegnung mit dem Gral, von der zuvor aufgeladenen Schuld und seiner Abkehr von Gott erlöst und kann deshalb im Anschluss auch zum Gralskönig erhoben werden. Trotz seines nur bedingt geklärten Gottesverhältnis hat er seinen ihm zugeschrieben Platz in der Gesellschaft gefunden und ist deswegen in seinem sozialen Status vollständig rehabilitiert. Die Erlösung des Anfortas durch die Mitleidsfrage Parzivals ist die Selbsterlösung Parzivals von den Schatten der Vergangenheit.

Anmerkungen

  1. Die ganz unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden Perspektiven auf den "Parzival" scheinen dabei keineswegs der fehlenden Stringenz und Folgerichtigkeit der Handlung geschuldet. Ganz im Gegenteil: Es lässt sich anhand von Wolframs poetologischen Äußerungen eindeutig der Wille zu Kippbildern, zu Multiperspektivität und in gewisser Weise auch zu Unschärfe erkennen. Vgl. dazu insbesonders Pz. I, 1, 15-24. Außerdem: Die poetologischen Äußerungen des Erzählers und Das Elsterngleichnis
  2. Vgl. dazu auch den Artikel: Parzivals tumpheit
  3. [Wolfram von Eschenbach 1997: 203f.]
  4. Für das dogmatische Auslegen der Lehren Gurnemanz‘, in gewisser Weise auch für die Schändung Jeschutes, kann Parzival mit seiner Herkunft und Erziehung entschuldigt werden. Nicht aber für die Tötung Ithers: Als Jäger muss Parzival den Tod des Gegners billigend in Kauf genommen haben.
  5. [Wolfram von Eschenbach 1997: S. 375.]
  6. Das Motiv des „Zügel loslassen“ soll später ein zweites Mal auftauchen: Parzival überlässt seinem Pferd die Zügel, um sein Gottesverhältnis zu klären und gelangt prompt zum frommen Einsiedler Trevrizent (vgl.: Pz. IX, 452, 1-9).
  7. Spiewok sieht im gesamten "Parzival" Wolframs eine Unterminierung der Kirche bzw. kirchlicher Institutionen. Vgl dazu: [Spiewok 1977: S. 32-36.] Siehe zu diesem Aspekt auch die Disskusionsseite zu diesem Artikel!
  8. Blank stellt die Frage "Warum das Nichterkennen schuldhaft" sein sollte.
  9. Ähnlich wie Blank diskutiert auch Brall die Frage nach Parzivals Schuld vor dem Hintergrund, dass "die Gralsgemeinschaft [...]selbst im Bann von Handlungsunfähigkeit und Sprachlosigkeit" steht.
  10. Versangabe bezieht sich auf die Ausgabe: [Wolfram von Eschenbach 1997].

Literatur

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Primärtexte

[*Wolfram von Eschenbach 1997] Wolfram von Eschenbach: Parzival, hrsg. von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 1997.

Sekundärliteratur

[*Bumke 2001] Bumke, Joachim: Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Text und Kultur: mittelalterliche Literatur 1150 - 1450 (DFG-Symposion 2000), hrsg v. Ursula Peters, Stuttgart/Weimar 2001, S. 355-370.

[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Auflage, Stuttgart/Weimar 2004.

[*Dallapiazza 2009] Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin 2009.

[*Brunner 2006] Brunner, Horst: Wolfram von Eschenbach. Auf den Spuren der Dichter und Denker durch Franken, Gunzenhausen 2006.

[*Blank 1971] Blank, Walter: Mittelalterliche Dichtung der Theologie? Zur Schuld Parzivals, in: ZfdA 100 (1971), S. 133-148.

[*Brall 1983] Brall, Helmut: Gralsuche und Adelsheil. Studien zu Wolframs Parzival, Heidelberg 1983.

[*Knaeble 2011] Knaeble, Susanne: Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs >Parzival<, Berlin/New York 2011.

[*Schu 2001] Schu, Cornelia: Vom erzählten Abenteuer zum "Abenteuer des Erzählens". Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs "Parzival", Frankfurt u.a. 2001.

[*Spiewok 1977] Wolfram von Eschenbach: Parzival, hrsgg., übertr. und eingeleitet von Wolfgang Spiewok, Leipzig 1977.