Sexualität und Erotik (Gottfried von Straßburg, Tristan)
Der Tristan-Roman ist voll von sexuellen und erotischen Momenten. Das sinnliche, wie körperliche Erleben von Liebe, Sexualität, Treue und Freundschaft, ist handlungskonstituierende Größe. Wie ich in diesem Artikel erörtern werde, ist es das Fleischliche, das Verlangen, was viele Handlungsstränge antreibt und überformt. Es sollen einige erotischen/sexuellen Motive aufgearbeitet und ihre Bedeutung für den Tristanstoff analysiert werden. Im Zentrum dabei wird stehen, wie die Charaktere der Isolden mit ihrer Weiblichkeit sexuelles Verlangen motivieren und wie dieses Verlangen schließlich Einfluss hat auf die Handlung. Es wird gezeigt werden, dass das Weibliche im Roman treibende Größe und konfliktkonstituierend ist. Ein weiterer Aspekt wird das Verhältnis zwischen Tristan und Männern sein: Findet ausschließlich Freundschaft statt, oder lassen sich im Umgang der "Freunde" homoerotische Tendenzen erkennen? Zu guter Letzt muss betrachtet werden, wie andere Charaktere des Romans mit ihrer Libido umgehen und zu welchen inneren und äußeren Konflikten diese führt.
Wer pflückt den Apfel und sät Zwietracht?
Tristans und Isoldes erster Kontakt
Betrachtet man Isoldes erstes Erscheinen, so fällt auf, dass nicht etwa diejenige blonde Isolde gemeint ist, sondern deren Die Isolde-Charaktere Mutter: Sie tritt als Heilerin auf, um Tristans Giftwunde zu versorgen. Dabei ist sie voller Mitleid für den verwundeten Spielmann, nicht zuletzt deshalb, weil sie von Tristans höfischem Verhalten beeindruckt ist. Tristan wird von ihr geheilt, weil er einem Ritterideal entspricht. Als Gegenleistung für seine Heilung, soll er die blonde Isolde in höfischem Verhalten (morâliteit V. 8004) und Künsten unterrichten (V. 7967 ff.). Noch erhält keiner von beiden sexuelle Attraktivität; beide sind nur sozial äußerst attraktiv. Tristan wegen seines guten Aussehens und Höfischheit, muss als Idealbild des Ritters betrachtet werden, da das Aussehen nicht zuletzt Abbild alles Inneren ist[Haug: S. 609]. Bei Isolde verhält es sich genau gleich: sie ist das Idealmodell einer frouwe. Zwischen ihnen gibt es keine Erotik, nur keusche, maximal freundschaftliche Zuneigung, weil sie voneinander profitieren können. Tristan genest, Isolde lernt von Tristans künstlerischem Können und wird so der allgemeinen höfischen Norm noch ähnlicher[Haug: S. 609].
Marke und Tristan als ein Herrscher und Bruch
Einige Zeit später empfiehlt Tristan Marke sich eine Frau zu nehmen (V. 8355). Zu diesem Zeitpunkt sind Tristan und Marke von sehr ähnlicher Gestalt. Beide, oder vielleicht gerade in Kombination und Ergänzung bilden ein ritterliches Herrscherbild, das mustergültig ist. Tristans höfische Erziehung und seine jugendliche Potenz, paaren sich mit Markes Altersweisheit und Erfahrung. Ein gerechter, starker, (männlicher) Herrscher entsteht. Tristan und Marke könnte man als eine Person, eine Seele, ein Leib verstehen, da sie sich derartig nahe stehen und ähnlich sind. Auf Tristans Empfehlung hin, schickt Marke Tristan (wen sonst, denn nur Tristans Jugend, Erziehung und Stärke können seinen Plan durchsetzten), um die schöne Isolde als Braut für Marke zu gewinnen. In den Versen 8253 - 8295 schwärmt Tristan - nicht sexuell - von Isolde und empfiehlt sie über 40 Verse lang Marke. Sie ist lustic, ûz erkorn, lûtere, liehte, lûter, ein kint von gebaerden und von lîbe, um nur einige Attribute zu nennen. Ihre sexuelle Attraktivität wird mit keinem Wort erwähnt, diese ist hier maximal impliziert. Tristan beschreibt sie bezeichnenderweise als Helena (V. 8267). Man bedenke, dass Helena der Grund für den Trojanischen Krieg lieferte. Sie selbst war der Streitpol, der die Freundschaft der Griechen mit den Trojanern beendete, die Völker entzweit. Marke und Tristan werden entzweit werden, durch eben diese helenische Isolde und der Kampf zwischen dem entzweiten Herrscherbild wird ebenfalls durch die Instanz der List entschieden. Marke entschließt sich also zur politischen Hochzeit und Tristan macht sich auf, Isolde zu gewinnen. Er schafft es. Nur ist ihm Isolde mittlerweile nicht mehr wohl gesonnen, da sie erfahren hat, dass Tristan ihren Onkel Morold umbrachte. Doch wie findet die Trennung Tristans von Marke genau statt? Isolde, die für Marke bestimmt sein soll - aus weltlicher Sicht - aber sexuell und emotional Tristan verführt, offenbart gerade dadurch ihre Liebesmacht. Die Schwäche des Mannes wird der Macht der Frau gegenübergestellt. Schwachheit, dein Nam' ist [Mann]! -[1]. Der Mann ist verführbar. Tristan, das Ideal, plötzlich nicht mehr unantastbar. Ihm steht ein moralisch einwandfreier Marke gegenüber, der sich wirklich zu Isolde hingezogen zu fühlen und sie auch ohne Trank - und nicht nur politisch - zu lieben scheint. Wir haben nun wieder zwei Seelen und zwei Körper - zwei Männer. Der verführte, potente Liebhaber steht dem moralischen, liebenden Gehörnten. Diese Charaktere können nicht mehr zusammen finden. Venus treibt den Keil tief zwischen sie. Tristan hintergeht also Marke und handelt unmoralisch, unhöfisch und Marke lässt sich von seinen Beratern aufwiegeln gegen Tristan, dem er anfängt - zurecht - zu misstrauen. Es gibt kein reines höfisches Ritterideal mehr, denn Tristan handelt verwerflich und Marke ist ohne Tristan nicht vollständig. Deshalb nur können seine Berater Zwietracht säen. Mit dem verlorenen idealen Ritter ist die höfische Gesellschaft aus den Angeln gehoben, das Weltbild verrückt.
Einbruch der Liebe
Durch den Liebestrank, den die zwei fataler Weise anstatt Wein trinken, um ihren Waffenstillstand zu besiegeln wird Isolde gleichsam zur Venus. Tristan verliebt sich unzertrennlich in sie und Isolde sich in ihn. Isolde ist von nun an umkämpftes Sex- und Statussymbol des Romans. Durch die Entfachung der fleischlichen Lust zwischen Tristan und Isolde (natürlich auch Liebe) ist nur noch ein Bruch mit Marke möglich. Tristan und Isolde fühlen sich immer stärker körperlich zueinander hingezogen und fangen an Marke zu betrügen. Ein Treuebruch Tristans Marke gegenüber, der ihm aber gleichsam Isolde zur Frau macht und parallel dazu findet der Ehebruch Isoldes statt, die Marke heiraten musste. Wie stark der sexuelle Trieb des Liebespaares sein muss, zeigt die Tatsache, dass Isolde sich schon auf der Überfahrt nach Cornwall, also noch vor der Heirat mit Marke und somit außerehelich und ledig, von Tristan entjungfern lässt (V. 12404). Sie ist dadurch sozial disqualifiziert. Sie geht jeder weiblichen höfischheit Qualität verlustig, zu der eben auch die voreheliche Keuschheit gehört. Nun kann man behaupten es läge alles nur am Trank als magische, übernatürliche Größe, doch muss man betrachten, wer den Trank braute - Isoldes Mutter nämlich, eine weise, gelehrte, emanzipierte Frau. Sie ist autark, stark, autoritär, selbstbewusst und selbstständig. So kann sie Herrscherin über die Iren sein und die Wissenschaft der Alchemie betreiben. Es ist zwar nicht untypisch für die mittelalterliche Epik, dass eine Frau emanzipierte Züge besitzt, aber doch dass sie so viel Einfluss auf die Politik besitzt und Naturwissenschaften betreibt. Eine weibliche Herrscherin, Beraterin des Königs, der sich mehr auf ihr Urteil zu verlassen scheint, als auf ein Männliches. Diese Frau stellt mit ihrer Persönlichkeit jede soziale-höfische Ordnung auf den Kopf, zumindest die Ordnung auf der britischen Insel; auch indem sie mit ihrer "Zauberei" Liebe und Fleischeslust produziert. Eine Frau bringt also die Lust in jene heile, geordnete Welt Tristans und zerstört so allen Frieden. Diese Tatsache erinnert an den paradiesischen Sündenfall. Gleichzeitig macht es die Isoldefiguren zur Allegorie der Weiblichkeit und der mit der Weiblichkeit verbundenen Erotik. Liebe ist somit die Magie einer Eva, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hat[Haug: S. 604]. Weiblichkeit ist somit auch der Schlüssel zur Zwietracht und zum Konflikt zwischen den Männern und dem Konflikt Tristans mit der höfischen Gesellschaft. So wird aber auch deutlich, dass der Mann der weiblichen Kunst unterlegen ist und ohnmächtig bleibt. Die Frau ist also gerade nicht das schwache Geschlecht, das der eigenen Libido erliegt, sondern der Mann, der sich von der Sexualisierung des Geschehens durch die Frau völlig überrumpeln lässt.
Die Rolle der einzelnen Isolden und der Frau
Dabei ist es nicht einmal sonderlich bedeutsam, welche Isolde gemeint ist. Die Mutter Isolde braut den Trank und hält so das ganz haptisches Zeugnis ihrer Macht in Händen. Für die blonde Isolde, an die Tristan gebunden wird, opfert er alles: Die Aussicht auf Herrschaft in Markes Reich, Markes Erbe, Markes Freundschaft, seine Ehre, Markes Ehre und seine Stellung in der Gesellschaft. Weil ihn Isolde Weißhand so sehr an die blonde Isolde erinnert, heiratet er diese aus Sehnsucht nach der blonden Isolde. Die Macht der Isolde Weißhand ist es also wiederum Tristan an sich zu binden. Oder es ist die Macht der Blonden, die noch durch Isolde Weißhand wirkt. Alle drei Isolden haben also die Macht den Mann für sich in Besitz zu nehmen. Natürlich ist der Minnetrank das greifbarste Element und klarstes Dingsymbol ihrer Magie. Betrachten wir Isoldes Entjungferung nochmals: Auch Isolde scheinen alle Konsequenzen egal zu sein. Sie erschafft als sexuelle Isolde den locus amoenus, indem sie alle sozialen Werte und politischen Strukturen niedertritt. Mit der Konstituierung des locus amoenus in der absoluten Liebe des Paares, wird gleichzeitig aber auch der locus terribilis erschaffen - die Gesellschaft, in der sie so nicht leben können, weil sie sich entehren. Dieser Konflikt endet in der Flucht ins Paradies. In der Minnegrotte, kann alle Lust und Körperlichkeit frei sein. Marke legitimiert schließlich die Zuneigung Tristans zu Isolde, bzw. Isoldes zu Tristan, bevor sie sein weltliches Reich verlassen. Auch Brangäne erfüllt ihr Weiblichkeitsklischee. Nur liegt ihre Potential gerade im Unvermögen - sie ist nicht achtsam genug und lässt es zu, dass der falsche Liebestrank als Friedenstrank getrunken wird.
Fleischliche Lust
Brangäne
An dieser Stelle möchte ich zunächst auf Brangäne eingehen. Sie nimmt eine äußerst eigenartige Rolle ein. Sie ist es, die an Isoldes statt mit Marke Isoldes Brautnacht verbringt - ein großes Opfer, denn sie vertuscht Isoldes verlorene Jungfräulichkeit, indem sie ihre eigene Jungfräulichkeit hergibt und sich somit - wie vormals schon Isolde - ins soziale Aus stellt. Nun gibt es mehrere Gründe welche erklären, warum Brangäne auf Isoldes Drängen hin schwört, sich Marke hinzugeben. Erstens erweist sie Isolde damit einen Freundschaftsdienst, indem sie deren Ehre rettet und den Verrat an Marke vertuscht. Somit rettet sie vorerst auch das junge, heimliche Liebesglück Tristans und Isoldes. Zweitens hat Brangäne von der älteren Isolde den Auftrag erhalten, Alles für die jüngere Isolde zu tun, sie zu beschützen und zu hüten. Indem sie den Trank nicht genug gesichert hat, ist sie ihrer zugedachten Aufgabe nicht nachgekommen und hat sich somit schuldig gemacht. Getrieben von ihrem schlechten Gewissen stimmt sie also dem Beischlaf zu. Aufgrund dieser Pflichterfüllung finde ich den Begriff Freundschaft, angewendet auf Brangäne und Isolde, nicht unbedingt passend. Besser wäre es wohl, von „Treueschaft“ zu sprechen. Der Beischlaf wird durch die zweite Begründung zu einer Art Buße, mit der sich Brangäne entsühnt.
- dô sie vür Îsolde
- geleistet, daz si solde,
- unde ir teidinc ergie,
- von dem bette sî sich lie. (V. 12631 - 12634)
Nachdem Brangäne ihre Schuldigkeit jedoch getan und sich somit auch entsühnt hat, verlässt sie Marke gewissenhaft. Dieses Beispiel soll zeigen, welche Flexibilität das Thema Sexualität im Tristan-Roman besitzt. Zum einen ist es eine perverse Erniedrigung einer jungen Frau als Treuedienst und Buße, zum anderen aber auch soziale Norm. Die Ehe wird immerhin mit dem Beischlaf vollzogen und gefestigt.
Truchseß
Vor Dublin wütet ein Drache. Derjenige, der diesen Drachen erschlägt, dem soll die Hand der blonden Isolde gehören. Der Truchseß des irischen Königshofs ist in Isolde verliebt, allerdings ist er nicht ritterlich genug, um den Drachen töten zu können. Er versucht Tristan, der den Drachen erschlagen hat, zu überlisten. Doch der hat die Zunge des Drachens herausgeschnitten, so dass der Kopf des Drachen, den der Truchseß als Beweis anbietet, nicht mehr ernst genommen wird. Schon hier zeigt sich, dass der Truchseß unhöfisches Verhalten an den Tag legt, denn er versucht die Ehe mit Isolde zu erschleichen. Er ist getrieben von seinem egoistischen Verlangen nach Isolde, so dass er jeden Anstand vergisst. In seiner Rede vor dem Königspaar (V. 9845 - 9896) fordert er Isoldes Hand forsch und verstrickt sich in fadenscheinigen Argumenten, obwohl er schon lange überführt ist. Er wird von der Königin Isolde an der Nase herum geführt. An dem dummen Verhalten des Truchseß, an der Unterstellung
- iuch dunket ie daz arge guot,
- daz guote dunket iuch ie arc.
- diu art ist an iu allen starc.
- ir sît verkêret alle wîs: (V. 9870 - 9873)
und indem er selbst genau so argumentiert, wie er den Isolden vorwirft zu argumentieren, wird deutlich, wie sehr er nur von der Libido getrieben ist und nicht von reiner Liebe: hätte er nämlich ein edeles herz (V. 47), könnte er um Isolde auf höfische Art und Weise minnen. Der Truchseß wirft der Frau Falschheit und Unreflektiertheit vor und ist es gleichsam selbst - betrügerisch und unreflektiert. Er ist Symbol der Schwachheit des Mannes. Allerdings verschuldet er das selbst, denn an ihm wirkt Frau Minne nicht. Er lässt sich dazu hinreisen Minne gewaltsam zu fordern. Wie weiter oben aber abgehandelt wurde, ist es Privileg der Frau, Minne zu delegieren. Der Mann scheitert hier an seiner eigenen nicht kontrollierten Libido.
Erscheinungsformen der Libido und ihre wirkungsästhetischen Möglichkeiten
Blanscheflur und Riwalin
- Alsus neig ir dô Riwalîn
- vil kûme, als ez dô mohte sîn
- von eime tôtsiechem man. (V. 1287 - 1289)
Blanscheflur trifft mit dem tödlich verwundeten Riwalin zusammen. Auf seinem Krankenlager schlafen sie miteinander, wobei sie Tristan empfängt und Riwalins Lebensgeister zurückkehren und er genest.
- dar nâch sô was vil harte unlanc,
- unz daz ir beider wille ergienc
- und daz vil süeze wîp enpfienc
- ein kint von sînem lîbe.
...
- sus genas er, wan ez solte wesen. (V. 1321 - 1330)
Hier hat der Geschlechtsakt sogar heilende Wirkung. Aus Liebe mit Lust erwächst hier das Heil in der Liebe, gleichzeitig aber auch gesellschaftliche Probleme, denn das Paar ist nicht verheiratet.
Tristan und Marjodo
Eigentümlich ist das Verhältnis zwischen Tristan und Marjodo. Marjodo ist Markes oberster truhsaeze (V. 13464) und teilt sich als cumpanjûn (V. 13461) mit Tristan ein Zimmer an Markes Hof. Entscheidend ist nun, dass sich die beiden auch ein Bett teilen und sie sich nachts Geschichten erzählen - unbestimmten Inhalts.
- Ouch war es des truhsaezen site,
- wan Tristan schoener maere phlac,
- daz er'm ie nahtes sô bî lac,
- daz er bereite hin z'im sprach. (V. 13476 - 13479)
festzuhalten ist jedoch auch, dass dieses Beieinander-Liegen von Marjodo ausgeht, der Tristans Geschichten zuhört (des truhsaezen site). Ich möchte behaupten, dass hier homosexuelle Tendenzen zu beobachten sind. Marjodo muss sich von Tristan angezogen fühlen. Das Bild des Geschichtenerzählens erinnert zudem nämlich an die Minnegrottenepisode, wo sich Tristan und Isolde beieinander sitzend Geschichten von sehnsuchtsvoller Liebe erzählen.
- dâ sâzen sî z'ein ander an
- diu getriuwen senedaere
- und triben ir senemaere
- von den, die vor ir jâren
- von sene verdorben wâren. (V. 17182 - 17186)
Und nicht zuletzt reagiert Marjodo deutlich eifersüchtig, als er durch Zufall herausbekommt, dass Tristan mit Isolde eine Affäre hat. Es befällt ihn ein "gelinder, freundschaftlicher Grimm" (ein vriuntlîchez zornelîn, V. 13555), darüber, daz er im niht enseite von sîner tougenheite(V. 13557 f.). Zweierlei Lesarten sind nun freilich möglich: Marjodos Grimm resultiert aus dem freundschaftlichen Treuebruch und dem Treuebruch der Liebenden gegenüber dem König Marke. Der Ehrverlust der darin mitschwingt, sowohl Tristans und Isoldes, als auch der Markes, ist nicht zulässig in der höfischen Ideologie. Marjodo wäre dann metonymisch für die Gesellschaft zu lesen, die Tristans Liebschaft nicht duldet und als Instanz der huote den König warnt. Die zweite Lesart legt eine sexuelle Implikation nahe: Marjodo ist aufgrund einer sexuellen, homosexuellen Nicht-Erfüllung eifersüchtig auf Isolde und wütend auf Tristan, den er nicht für sich haben kann. Ob diese Lesart allerdings zulässig ist und ob sie sinnvoll ist, bleibt fraglich. Im Mittelalter war Homosexualität ein Tabuthema[Krohn: S. 363]. Dass homosexuelle Nuancen herauszulesen sind, muss daher einen zwingenden Grund erfordern. Gottfried von Straßburg muss es beabsichtigt und etwas auszudrücken versucht haben. Vielleicht ist eine mögliche Antwort, dass der Roman grundsätzlich antihöfische Tendenzen aufweist, durch den permanenten Bruch mit höfischen Normen. Dann wären die homosexuellen Anspielungen nur ein weiterer Tabubruch. Andererseits könnte hier zum Ausdruck gebracht werden, wie intensiv die höfische Erscheinung Tristans auch auf das männliche Geschlecht gewirkt haben kann.
Tristan und Marke
Noch deutlicher sind im Verhältnis Markes zu Tristan homosexuelle Anspielungen zu lesen: Schon die Tatsache, dass Marke Tristan adoptiert und damit er keine Nachkommen zeuge, auf eine Ehefrau verzichtet macht stutzig.
- wan ich wil durch den willen dîn
- êheliches wîbes âne sîn,
- die wîle ich iemer leben sol. (V. 5159 - 5161)
Es ist völlig untypisch, dass ein Herrscher seine Erblinie freiwillig zu unterbrechen bereit ist und auf den Ehrzuwachs, den eine Heirat in der Gesellschaft bringt, zu verzichten. Zudem macht Marke Tristan dieses Angebot im Privaten. Die Öffentlichkeit ist in der Szene nicht anwesend. Wenn also dieses Angebot für Tristan keine faktische Änderung bringt - diese brächten Zeugen - so ist diese Äußerung als Geste Markes umso erstaunlicher, da sie aufgrund ihrer politischen Unnötigkeit, nur als Ausdruck Markes emotionaler Verbundenheit gedeutet werden kann [Krohn: S. 370]. Des weiteren benutzt Marke bezüglich Tristan sehr häufig das Wort vriunt, so wie die Beziehung Blanscheflurs und Riwalins als vriuntschaft bezeichnet wurde[Krohn: S. 373]. Hier tritt eine Parallelität zu Tage, die wiederum stutzig macht. R.N. Combridge spricht von einem "übermäßigen Gefühl Markes für Tristan"[2].
- in dûhte wîp alse wîp.
- er vant ouch die vil schiere
- von guoter maniere.
- ime was ein ander.
...
- ouch leisten s'ime ir teidinc
- alsô dan und alsô dar,
- daz er nie nihtes wart gewar. (V. 12666 - 12674)
Es scheint, als diene die Frau Marke nur zur Stillung sexueller Begierden. "Ihm schien Frau gleich Frau". Isolde kann ihm also doch nicht so viel Wert gewesen sein, wie zu Beginn des Artikels noch vermutet. Isolde ist eine Frau Markes unter vielen. Erst durch den Betrug Tristans und der damit verbundenen Affäre, wird Marke in die Rolle des Ehemannes gezwängt, mit allen Konsequenzen, denn jetzt geht es um seine Ehre[Krohn: S. 374]. Daran, dass Marke überhaupt nicht um Isolde kämpft, lässt sich ableiten, dass er an der Person "Isolde" auch kein großes Interesse hat. Einzig die gesellschaftliche Schmach, sein Ehrverlust ist für Marke relevant. Dass Marke homoerotische Tendenzen zugeschrieben werden - durch narrative Mittel - und sein Verhältnis zur Sexualität und Frauen so negativ dargestellt werden, könnte daran liegen, dass Gottfried von Straßburg so das Liebespaar in hellerem Licht erstrahlen lassen kann und ihnen ihre moralische Schuld nimmt. Narrativ hat dieses Vorgehen mit Sympathielenkung zu tun, welche natürlich auf das Liebespaar fokusiert werden soll[Krohn: S. 368]. Markes Versagen als Schutzherr in den Episoden mit Gandin und Morold unterstützen diese These[Krohn: S. 376].
Fazit
Es wurde festgestellt, dass Sexualität und Erotik In Gottfrieds von Straßburg "Tristan" auf unterschiedlichste Weisen präsentiert wird. Neben heilsamer Wirkung und homosexuellen Elementen der fleischlichen Liebe, die kritische Diskurse in der Handlung motivieren, wird auch falsche Liebe mit bloßer Libido gleichgesetzt, was an der Truchseß-Episode deutlich wurde. Das Weibliche ist von entscheidender Bedeutung sowohl für die Minne, als auch, wie in diesem Artikel analysiert wurde, für die sexuellen Antriebe im Tristanroman Gottfrieds. So sind es die Isolden, als Allegorie für das Weibliche, die die Liebe und die Libido des Mannes anregen und die Macht einer Eva, Helena oder Venus besitzen, den Mann zu kontrollieren, zu beeinflussen, zu lenken und auch bloß zustellen. Es liegt an dem Verhältnis von Vermögen der Frau und Unvermögen des Mannes, als schwaches Geschlecht, das dem Weiblichen im Roman wirkungsmächtige Größe verleiht. Sexualität wird bleibt nur gesellschaftliches Problem. An religiösen Inhalten stößt sie sich kaum an, zumindest wird ein religiöser Konflikt nicht näher thematisiert. Keuschheit ist somit gesellschaftliche Norm und korreliert mit êre und Ehrverlust. Erst in einer erotischen Verklärung des Liebestods, die wir in der Romantik finden, nicht aber bei Gottfried, wird Religion in Verbindung mit der Liebestod-Selbstmord-Problematik relevant und wurde deshalb an dieser Stelle ausgespart. Ebenfalls die Minnegrottenepisode hat wenig mit reiner Sexualität und Lust zu tun, als viel mehr mit erfüllter und sehnsuchtsvoller Liebe und muss in anderen Kontexten erörtert werden.
Einzelnachweise
Literatur
- Zitationen aus dem Tristan-Text sind zu finden in: Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Stuttgart 2007-2008. (RUB 4471-4473).
<HarvardReferences />
- Ehrismann, Otfrid: Theologie und Erotik. Die geistesgeschichtliche Wende der 'Tristan'-Rezeption und ihr Heiterkeitsdefizit, in: Uf der mâze pfat. Festschrift Werner Hoffmann, hg. von Waltraud Fritsch-Rößler, Göppingen 1991 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik), S. 115-134.
- [*Haug] Haug, Walter: Gottfrieds von Straßburg 'Tristan'. Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie, in: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, hg. von Walter Haug, Tübingen 1989, S. 600-611.
- Jaeger, Charles Stephen: Ennobling love. In search of a lost sensibility, Philadelphia 1999 (The Middle Ages series).
- Jaeger, Charles Stephen: Mark and Tristan. The Love of Medieval Kings and their Courts, in: in hôhem prîse. Festschrift Ernst S. Dick, hg. von Winder McConnell, Göppingen 1989 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik), S. 183-197.
- [*Krohn] Krohn, Rüdiger: Erotik und Tabu in Gottfrieds 'Tristan': König Marke, in: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst, hg. von Rüdiger Krohn, Stuttgart 1979 (Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten), S. 362-376.